Gastarbeiterkinder - Alles Opfer?

Vor 60 Jahren, am 30. Oktober 1961, schloss Deutschland das Anwerbeabkommen mit der Türkei. Viele Enkel der Gastarbeiter haben den Begriff nie gehört. Sie haben einen sozialen Aufstieg erfahren, mit dem aus ihrer Sicht aber keine Anerkennung einhergeht. Doch das Opfernarrativ zu bedienen, ist kein konstruktives Engagement gegen Rassismus.

Kinder mit Migrationshintergrund auf dem Sudermannplatz im Kölner Agnesviertel / Ergun Çağatay
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Autoreninfo

Canan Topçu wurde 1965 in Bursa/Türkei geboren, 1973 übersiedelte ihre Familie nach Deutschland. Topçu arbeitet als Journalistin in Frankfurt am Main. Der Text ist ein Auszug aus „Nicht mein Antirassismus. Warum wir einander zuhören sollten, statt uns gegenseitig den Mund zu verbieten“, erschienen im Quadriga Verlag, Köln.

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„Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen“: Wie oft habe auch ich mich auf dieses Zitat von Max Frisch bezogen, wenn ich über die Arbeitsmigration nach Deutschland gesprochen oder geschrieben habe. Um das Vielfache, als ich selbst es verwendet habe, habe ich es gehört. Es stammt aus dem Vorwort zum 1965 erschienenen Sammelband „Siamo Italiani“, darin enthalten sind Gespräche mit italienischen Arbeitern in der Schweiz.

Vollständig lautet die Passage so: „Ein kleines Herrenvolk sieht sich in Gefahr: man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen. Sie fressen den Wohlstand nicht auf, im Gegenteil, sie sind für den Wohlstand unerlässlich. Aber sie sind da. Gastarbeiter oder Fremdarbeiter? Ich bin fürs Letztere: sie sind keine Gäste, die man bedient, um an ihnen zu verdienen; sie arbeiten, und zwar in der Fremde, weil sie in ihrem eigenen Land zurzeit auf keinen grünen Zweig kommen.“

Schiefes Narrativ

Selten wurde und wird der Schriftsteller korrekt und vollständig zitiert, meistens darauf zurückgegriffen, um die offizielle Migrationspolitik der Bundesrepublik zu kritisieren. Dass Max Frisch sich auf die Schweiz bezog, wissen wohl nur die wenigsten. So konnte der Schweizer Autor sich für „Fremdarbeiter“ aussprechen. In Deutschland wäre dieser Begriff aber nicht möglich gewesen, denn er ist „kontaminiert“, er ist das Synonym für Zwangsarbeiter. Mehr als 20 Millionen Menschen wurden gezwungen, für das nationalsozialistische Deutschland zu arbeiten. Mit der Formulierung Fremdarbeiter wurde der Zwang als Grundlage des Arbeitsverhältnisses verschleiert.

Spätestens als ich „Almanya“ sah, den Film der Schwestern Yasemin und Nesrin Samdereli aus dem Jahr 2011, dämmerte mir die Schieflage im Narrativ der Arbeitsmigration. Der bemitleidende Rückblick auf die Geschichte der Gastarbeiter, die ja auch meine Geschichte ist, begann mich zu stören. Anlässlich des Anwerbeabkommens mit der Türkei, das sich im Oktober 2021 zum 60. Mal jährt, habe ich wieder viel gelesen und etliche Berichte entdeckt. Rührende, berührende, aus persönlicher Perspektive erzählte Geschichten. 

Im Onlinemagazin Renk stieß ich auf den Text des Musikproduzenten Alp Geray über seine Eltern, die 1970 aus der Türkei als Gastarbeiter nach Deutschland kamen. Geray zitiert seinen Vater so: „Es ist gut, wenn man die Sprache spricht und seine Geschichten erzählen kann. Unsere Generation kann kein Deutsch – leider. Deutschland wollte nicht, dass wir Deutsch lernen. Und wir haben nicht erkannt, wie wichtig Sprache ist. Wir kamen stumm und werden stumm gehen.“

Schwarz-Weiß wäre falsch

Ja, ganz viele der Gastarbeiter waren stumm und sind stumm geblieben. Sie mussten sich im Herkunftsland einem demütigenden Gesundheitscheck unterziehen, mussten sich halb nackt von deutschem medizinischen Personal in den Mund schauen lassen, bevor sie das Ticket fürs „gelobte Land“ erhielten. Sie lebten in Baracken und arbeiteten hart, oft unter Gefahren für die eigene Gesundheit. Es waren wahrlich keine guten Bedingungen, die Deutschland den Menschen bot. Es gab keine gezielten Angebote, keine Deutschkurse für Gastarbeiter. Aber Deutschland hielt niemanden davon ab, die Sprache zu lernen. Wer die Sprache lernen wollte, musste sich selbst darum kümmern. Viele hielten es jedoch nicht für erforderlich: Weil man sowieso in die Heimat zurückkehren wollte.

Rückblickend wird vieles verzerrt – ins Gute und ins Schlechte. Es gibt eigentlich nicht „die“ eine Geschichte der Gastarbeiter, es gibt Daten und Fakten, aber jede Familie hat ihre eigene Erzählung. Wenn ich persönlich zurückblicke, dann stelle ich fest: Es war nicht alles schlecht. Diesen Eindruck kann man aber bekommen, wenn man die Geschichten derer liest oder hört, die nach Schuldigen suchen.

Es gibt ein und. Schlechtes und Gutes. Ebendieses und war es, das mir und vielen anderen Kindern von Arbeitsmigranten Möglichkeiten zur Entfaltung bot. Darauf möchte ich mein Augenmerk legen. Es ist auch so: Mir behagt es nicht, all die Menschen, die mit vielen Hoffnungen und Wünschen und mit gerade mal einem Koffer hier ankamen, zu Opfern und Objekten zu reduzieren. Sie waren mutige Menschen, die aus der Not heraus das Vertraute verließen, Familien und Kinder zurückließen, in der Hoffnung, nach ein paar Jahren der Entsagung in der Fremde ein besseres Leben daheim führen zu können.

Lücke in der Geschichte

Dennoch: Bestandteil der offiziellen Geschichtserzählung ist dieses Kapitel deutscher Geschichte immer noch nicht – deswegen auch wenig bekannt, warum wir hier sind. Wir – das sind unsere Großeltern und Eltern, die Kinder der Gastarbeiter und ihre Enkel. Und das, obwohl die Anwerbeabkommen und all das, was danach folgte, unmittelbare Auswirkungen auf die politischen und gesellschaftlichen Prozesse haben. Man muss nicht lange nach dem Grund dafür suchen, warum es Älteren und Jüngeren am Grundwissen mangelt: Regulärer Bestandteil des Schulunterrichts war die Migration ab Mitte der fünfziger Jahre nicht wirklich. Ebenso wenig die Geschichte der Vertragsarbeiter in der DDR und auch nicht die Migration als Bestandteil der Weltgeschichte, die Kolonialgeschichte und auch nicht die nationalsozialistische Osteuropapolitik, die informelle Kolonialisierung.

Was Bildungspolitiker bislang daran hinderte, diese wichtigen Themen nicht außen vor zu lassen? Ein paar Antworten gibt eine im Frühjahr 2021 veröffentlichte Studie des Mercator Forums für Migration und Demokratie, die im Auftrag der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration verfasst wurde. So wird unter anderem festgestellt, dass „in die Aus- und Überarbeitung von Lehrplänen (…) wissenschaftliche Expertise selten fest eingebunden“ ist und neuere (diversitätssensible) Konzepte zum Umgang mit Vielfalt kaum berücksichtigt werden. Empfohlen wird, dass „mehr Lehrkräfte und Fachdidaktikerinnen und -didaktiker mit Migrationsgeschichte bei der Überarbeitung von Lehrplänen mitwirken“.

Vorbild Italien

Gerade im Zusammenhang mit den aktuellen Debatten um Identitätspolitik und Rassismus zeigt sich, wie wichtig und erforderlich das Wissen über Migration allgemein sowie die Anwerbeabkommen und die damit verbundenen Entwicklungen sind. Immerhin: Erste Ansätze, die Lehrpläne anzupassen, gibt es bereits. Da die Mühlen der deutschen Bürokratie bekanntlich langsam mahlen, wird es wahrscheinlich dauern, bis sich Erkenntnisse aus der Bildungsforschung in Schulbüchern widerspiegeln.

Holen wir hier im Schnellkurs nach, was in der Schule nicht oder zu wenig vermittelt wird: Deutschland erholt sich nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Wirtschaftshilfe aus den USA schnell, und ab den fünfziger Jahren boomt die Wirtschaft. Es mangelt aber im ganzen Land an Arbeitskräften – in der Landwirtschaft genauso wie in Fabriken und im Berg- wie auch im Straßenbau. Da kommt es der Bundesregierung sehr gelegen, dass Italien die Initiative ergreift und den Vorschlag für eine Vereinbarung macht: die Entsendung von Arbeitskräften nach Deutschland. Am 20. Dezember 1955 unterzeichnen Bundesarbeitsminister Anton Storch und der italienische Außenminister Gaetano Martino in Rom das deutsch-italienische Anwerbeabkommen. Dieser Vertrag wird zum Vorbild für weitere bilaterale Vereinbarungen – 1960 mit Spanien und Griechenland, 1961 mit der Türkei, 1963 mit Marokko. Bis 1968 werden weitere Verträge abgeschlossen – mit Südkorea, Tunesien, Portugal und Jugoslawien.

Türkisches Abkommen in Bad Godesberg

Dass die Initiativen für die Anwerbeabkommen nicht von der Bundesrepublik, sondern von den Ländern ausgingen, die nicht nur den eigenen Arbeitsmarkt entlasten wollten, sondern sich auch Devisen erhofften: Das wird in den Debatten über die Geschichte der Gastarbeiter häufig ausgeblendet. Wie auch der Umstand, dass sich die Menschen freiwillig meldeten und auf den Weg machten. Die Verträge mit den türkischen Arbeitskräften waren anfangs befristet, es gab das sogenannte Rotationsprinzip. Allerdings bewährte es sich nicht – immer wieder neues Personal einzuarbeiten, erwies sich für die Arbeitgeber als uneffektiv.

Das Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik und der Türkei wurde am 30. Oktober 1961 in Bad Godesberg unterzeichnet. Der offizielle Name des Dokuments lautet „Regelung der Vermittlung türkischer Arbeitnehmer nach der Bundesrepublik Deutschland“. Deutschland hatte davor mit Italien, Spanien und Griechenland ähnliche Verträge abgeschlossen, und auch nach der Vereinbarung mit der Türkei folgten Abkommen mit weiteren Staaten. Von 1955 bis zum Anwerbestopp am 23. November 1973 kamen rund 14 Millionen ausländische Arbeitskräfte nach Deutschland, rund elf Millionen kehrten zurück in ihre Herkunftsländer. Die Geschichte der Anwerbeabkommen und der Arbeitsmigration ist inzwischen gut aufgearbeitet und dokumentiert, unter anderem von Domid, dem Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland, das 1990 von Migranten gegründet wurde.

Nicht nur deutsche Fehler

Es gab Versäumnisse der deutschen Politik, es gab schlechte Arbeitsbedingungen und Ausbeutung, es gab miserable Wohnbedingungen. Die Not der Gastarbeiter nutzten Vermieter aus – und Arbeitgeber die Unkenntnis dieser Menschen, was ihre Rechte betraf. Öffentlich machte die ausbeuterischen Arbeitsverhältnisse von türkischen Gastarbeitern Günter Wallraff 1985 in „Ganz unten“. Für dieses Buch recherchierte der Journalist heimlich, er verkleidete sich und arbeitete unter falscher Identität als Ali – unter anderem in einem Fast-Food-Restaurant, in einem Reitstall und auf einer Baustelle.

Ohne all die Missstände zu ignorieren, möchte ich trotzdem auf einen Umstand aufmerksam machen, der häufig unter den Tisch fällt, wenn von Gastarbeitern die Rede ist: die Versäumnisse der Politik in den jeweiligen Herkunftsländern. Denn diese Staaten haben es nicht geschafft, angemessene Lebens- und Arbeitsbedingungen ihrer Bürger zu gewährleisten. Die türkische Regierung beispielsweise sah in dem Anwerbeabkommen nicht nur eine Möglichkeit, den heimischen Arbeitsmarkt zu entlasten und die desolate Wirtschaftslage nach dem Militärputsch im Mai 1960 zu beheben. Die in Deutschland arbeitenden Türken waren vor allem willkommene Devisenbringer.

Die Anwerbeabkommen stellten eine Win-win-Situation dar. Dass gerade Menschen aus der akademisch gebildeten dritten Generation der Arbeitsmigranten, die es im deutschen Bildungssystem weit gebracht haben, mit aller Vehemenz die Versäumnisse der deutschen Politik anprangern, kann ich daher nur bedingt nachvollziehen. Die Erzählungen von Großeltern und Eltern sind subjektive Wahrnehmungen und haben zweifelsohne ihre Berechtigung. Die Wut über Demütigungen soll und muss raus. 

Fehlende Anerkennung

Womit hängen die Kränkungen der Nachkommen der Arbeitsmigranten zusammen? Die Enkel der Gastarbeiter, von denen viele als ungelernte Arbeitskräfte für den Wohlstand in diesem Land sorgten, sind aufgestiegen – mit dem sozialen Aufstieg ging aber aus ihrer Sicht nicht die Anerkennung einher. Wenn das Selbstwertgefühl so sehr von anderen bestimmt wird, wird es ungemütlich in der eigenen Haut. Für das starke Bedürfnis nach Anerkennung von außen und den Mangel an positivem Selbstwertgefühl muss es noch andere Ursachen geben. 

Wenn ich in mich hineinhorche und dabei feststelle, dass solche Gefühle bei mir nicht so prägnant waren, frage ich mich, warum das so war und ist. Kann es damit zusammenhängen, dass ich kein „klassisches“ Gastarbeiterkind war, sondern die Tochter eines Lehrers? (Wenn auch eines Lehrers, der im Heimatland so wenig verdiente, dass er eine fünfköpfige Familie kaum ernähren konnte.) Damit, dass ich hier mit einem anderen Klassenbewusstsein aufwuchs und mich von den Abweisungen und Ablehnungen nicht so aus dem Lot bringen ließ?

Am Tag der Arbeit tweetete ein Antirassismus-Aktivist Folgendes: „Meine Mutter hat in #Deutschland jahrzehntelang als Reinigungskraft geschuftet, mein Vater am Band. Sie und Millionen von anderen Arbeiter*innen haben schlechte Arbeitsbedingungen, fehlende Anerkennung & aktive Demütigungen erlebt. It’s time for a change and reparations.“ – „Die Kinder und Kindeskinder der Arbeiter*innen (insbesondere jene, die Deutschland als ,Gäste‘ ausgebeutet hat) haben echte Bildungs- und Aufstiegs­chancen, Respekt und Anerkennung verdient. Rückt die Gleichberechtigung rüber, oder wir nehmen sie uns.“ 

Verzerrter Anspruch

Seine Mutter habe als Putzfrau bei einem „einflussreichen Manager“ im Taunus gearbeitet und regelmäßig die Unterhosen samt Bremsspuren waschen müssen. Und sein Vater in einer Fabrik, in der er von seinem Vorarbeiter regelmäßig beleidigt worden sei. „Mein Vater war bis zu seinem Tod davon überzeugt, wir müssten solche Beleidigungen in den weißen Gastländern aushalten, um keine Probleme mit den Meistern zu bekommen“, so ein weiterer Tweet vom selben Tag.

Dass der Vater so behandelt wurde, ist schlimm und stimmt mich traurig. Wie auch dessen Annahme, dass er sich alles gefallen lassen muss. Unbehagen bereiten mir diese aus subjektiver Perspektive formulierten Tweets aus einem anderen Grund. Seine Eltern sind nicht nach Deutschland deportiert und nicht gezwungen worden, hier zu arbeiten. Sie kamen in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Daher empfinde ich Forderungen nach Wiedergutmachung inadäquat.

Grundsätzlich habe ich ein Problem damit, wenn Meinungsbilder das Opfersein zelebrieren und damit vor allem bei jungen Menschen mit Migrationsbezug Opfernarrative bestärken. Das erachte ich nicht als ein konstruktives Engagement gegen Rassismus. Im Gegenteil: Es verfestigt das Täter-Opfer-Schema.

Not in der Heimat

Die Ausbeutung der Großeltern und Eltern wird immer wieder mal von Nachkommen der Gastarbeitergeneration beklagt. Die „miserablen Arbeits- und Lebensbedingungen“, die fehlende Anerkennung für all das, was Gastarbeiter geleistet haben, und die mangelnden Bildungschancen diagnostizieren sie selbst für ihre Wut auf Deutschland. Die einen Herkunftsdeutschen pflichten ihnen bei, die anderen sind inzwischen ziemlich genervt über das Schimpfen auf Deutschland.

Machen wir uns nichts vor: Es waren die wirtschaftliche Situation und der Mangel, die die Menschen dazu brachten, sich von all dem Vertrauten zu verabschieden, die Heimat zu verlassen und sich auf den Weg nach Deutschland zu machen. Nur Abenteurer verlassen ihre Heimat freiwillig. Die allermeisten Menschen machen das aus Not.

Was auch ausgeblendet wird in den Debatten über Arbeitsmigration: die Frage, wie denn das Leben der Eltern und Großeltern in den Herkunftsländern ausgesehen hätte. Wer sich auch nur ein bisschen auskennt in den Anwerbeländern, weiß, dass bildungsferne, oftmals sogar des Lesens und Schreibens unkundige Menschen in ihrer Heimat nicht weniger Demütigungen erlitten und dort nicht wirklich ein besseres Leben gehabt hätten. Ausgrenzung, Ablehnung und Diskriminierung haben auch ganz viel mit sozialer Schicht zu tun.

Was genau ist euer Problem?

Ohne zu ignorieren, dass vieles nicht gut gelaufen ist: In Deutschland haben Kinder und Enkelkinder der Gastarbeiter weitaus mehr Chancen bekommen, als sie in den Herkunftsländern gehabt hätten. Und genau das war ja (mit) ein Grund der Eltern und Großeltern, die Heimat zu verlassen: um ihren Kindern und Enkelkindern einmal ein besseres Leben zu ermöglichen. Wenn sich gerade die Nachkommen der Gastarbeitergeneration, die sich etabliert haben, wütend zu Wort melden, dann frage ich mich: Was genau ist euer Problem? Statt aus einer vermeintlichen Opferposition heraus Vorwürfe zu formulieren, wünsche ich mir konstruktive und realisierbare Vorschläge.

Mir kommt auch noch etwas anderes in den Sinn, wenn ich mir das Auftreten der Antirassismus-Akteure vergegenwärtige: Sie tun so, als wären sie die Ersten, die aufbegehren, und alle vor ihnen hätten sich nur geduckt. Dass vor ihnen viele andere sich über Jahrzehnte hinweg für die Gleichberechtigung von Menschen aller Couleur und gegen Rassismus engagiert haben, kommt zu wenig zur Sprache. Doch dass sich Nachkommen der Arbeitsmigranten als Antirassismus-Akteure zu Wort melden können, dass ihnen Foren geboten werden und sie sich selbst organisieren können: Dafür haben viele aus den Generationen vor ihnen die Grundlage geschaffen.

„Spielverderber“

Diese Gruppe der Migranten aus der zweiten und dritten Generation ordnet der Soziologe Franz Walter in das „hedo­nistisch-subkulturelle Milieu“ ein und bezeichnet sie als „Spielverderber“. Die Vertreter dieses Jugendmilieus sind ausnahmslos in Deutschland geboren und aufgewachsen, und obwohl sie ausreichend gut ausgebildet sind, „stilisieren sie sich selbst vielleicht auch wegen enttäuschter Erwartungen und versperrter Zugangswege als benachteiligt und gehen auf Distanz zur Aufnahmegesellschaft. Sie reagieren rebellisch, unangepasst, trotzig, schlüpfen extrovertiert in die Rolle des Underdogs und gehen mitunter damit kokettierend in eine Protest- oder Gegenkultur.“

Wenn diese „Spielverderber“ meinen, endlich werde in Deutschland über Rassismus gesprochen, dann ist das eben nur ein Teil der Wahrheit. Sei es in Gewerkschaften, sei es in Wohlfahrtsverbänden, sei es in Migranten-Selbst­organisationen, Elternvereinen, Sportvereinen, Kommunal-Ausländerbeiräten, auch Moscheevereinen und Kirchengemeinden: Überall engagieren sich seit den Anfängen der Gastarbeiteranwerbung Deutsche und Migranten für bessere Bedingungen des Zusammenlebens, Gleichberechtigung und Chancengleichheit aller hier lebenden Menschen.

Interkulturelle Woche

Einen Rahmen für Begegnungen und den Austausch von Einheimischen und Migranten schuf beispielsweise 1975 die als „Woche der ausländischen Mitbürger“ entstandene Initiative, die inzwischen als Interkulturelle Woche (IKW) in mehr als 500 Städten und Gemeinden mit mehr als 5.000 Veranstaltungen jährlich stattfindet. Der Soziologe Özkan Ezli hat über die IKW für den Sachverständigenrat für Integration und Migration ein Gutachten erstellt; darin hebt er hervor, dass gerade in der IKW der „Wert von niedrigschwelligen Formen der Verhandlung von Kultur“ deutlich werde. Denn über solche Formate ließen sich „nicht selten potenziell konfliktträchtige Aushandlungsprozesse in Bezug auf Integration sozial verflüssigen und auflösen“. Zentral für solche niedrigschwelligen Formen kultureller Sinnproduktion sei eine Politik der Geselligkeit.

Der gelassenere Blick auf Deutschland als plurale Gesellschaft, das Akzeptieren von Vielfalt und ein entspanntes Verhältnis zum vermeintlich Fremden: Das lässt sich nicht in die Köpfe der Menschen einprügeln. Das Wissen gilt es zu vermitteln und vor allem auch zu leben und zu erfahren. Was können wir aus der Geschichte lernen, aus Fehlern und Verfehlungen in der Vergangenheit? Mich beschäftigt diese Frage sehr. Mit Gram zurückzublicken, hilft uns nicht.

Wissenslücken

Wenn wir über „wir“ und „ihr“, über Einheimische und Eingewanderte, über Ankommen und Sich-Eingliedern, wenn wir über Abweisungen und Ablehnungen diskutieren, über Privilegierte und Marginalisierte, dann wäre es hilfreich, wenn wir uns mehr als bisher und genauer mit Ressentiments beschäftigen würden.

Es ist ärgerlich, dass Jugendliche die Schule absolvieren, ohne dass sie etwas über ein wichtiges Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte erfahren, von dessen Auswirkungen sie auf die eine oder andere Weise unmittelbar betroffen sind. Bei Abfragen in meinen Seminaren an der Hochschule Darmstadt stellt sich heraus, dass die jungen Menschen nur vereinzelt wissen, was es mit den sogenannten Anwerbeabkommen auf sich hat. Unter den Studentinnen und Studenten, die den Begriff noch nie gehört haben, sind erstaunlicherweise­ auch Enkel der Gastarbeitergeneration. Ich erlebe es immer wieder, dass sie zwar wissen, woher ihre Eltern und Großeltern stammen, nicht aber, wie und warum jene nach Deutschland kamen.  

Ich kann nur mutmaßen, warum es an diesem Wissen mangelt. Es mag damit zu tun haben, dass die Großeltern ungern an die schmerzliche Zeit des Aufbruchs und Ankommens denken und sich daran gar nicht erinnern möchten. So wie meine Eltern. Vielleicht aber auch, weil die Enkel gar nicht auf die Idee kommen zu fragen. Ich ermuntere meine Studentinnen und Studenten zum Austausch mit den Eltern und Großeltern. Woher man kommt, ist eben nicht egal. 

Canan Topçu: Nicht mein Antirassismus, Warum wir einander zuhören sollten, statt uns gegenseitig den Mund zu verbieten. Eine Ermutigung. Quadriga Verlag, Köln 2021. 224 Seiten, 16,90€.

 

 

 

 

Dieser Text stammt aus der November-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

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