„Und was macht das mit mir?“ - Das Simonis-Syndrom

Was verbindet Angela Merkel, Greta Thunberg, Annalena Baerbock und die Reporterin Victoria Reith? Es ist der unbedingte Vorrang persönlicher Befindlichkeiten. Man könnte das auch als „Simonis-Syndrom“ bezeichnen: Emotionen first, Fakten second, kritische Distanz nicht einmal mehr third.

Die Klimaaktivistin Greta Thunberg trinkt während einer Pressekonferenz / dpa
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Autoreninfo

Jens Peter Paul war Zeitungsredakteur, Politischer Korrespondent für den Hessischen Rundfunk in Bonn und Berlin, und ist seit 2004 TV-Produzent in Berlin. Er promovierte zur Entstehungsgeschichte des Euro: Bilanz einer gescheiterten Kommunikation.

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Was ist das Band, das Angela Merkel und Greta, Annalena Baerbock und die Reporterin Victoria Reith so unsichtbar wie zuverlässig verbindet? Wie lässt sich die frappierende Übereinstimmung der Handlungs- und Äußerungsmuster so vieler Frauen in Politik und Medien erklären, auch wenn sie sich vielleicht noch nie begegnet sind, nicht einmal virtuell? Allein die Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht kann es in Zeiten der fortschreitenden Negierung biologischer Tatsachen nicht mehr sein. Nein: Es ist der unbedingte Vorrang der persönlichen Befindlichkeit.

Es ist die gemeinsame Leitfrage nach den Folgen von Ereignissen, Entscheidungen, Entwicklungen nicht für andere, sondern für einen selbst. Es ist das Und was macht das mit mir? als handlungsleitendes Kriterium. Es ist das Simonis-Syndrom. Das Simonis-Syndrom entstand in der Minute, in der Ministerpräsidentin Heide Simonis an jenem für sie schicksalhaften 17. März 2005 erkennen musste, dass die weitere Landespolitik in Schleswig-Holstein ohne sie stattfinden würde: Und was wird aus mir?

Was dieser Frau vor 16 Jahren noch viel Häme und Verdammnis einbrachte, verdichtete sich in leichten Abwandlungen zu einem inzwischen anerkannten Paradigma. „Wie ist die Stimmung?“ ist nach kurzer Übergangszeit nicht mehr individuell-zielgruppengerecht genug. Die Frage lautet nun: „Was hat das [hier beliebigen Anlass einfügen] mit dir gemacht?“ Und diese Frage gilt 2021 nicht etwa als borniert oder egoistisch. Sondern im Gegenteil als Ausweis echter Anteilnahme, als unabdingbarer Beleg für Abwesenheit jeglicher Gefühlskälte, jederzeit unaufgefordert vorzuzeigen, am besten vor einer Kamera, sonst könnte das Folgen haben. Und dies, obwohl genau das Gegenteil der Fall ist.

Ohne kritische Distanz

Und-was-macht-das-mit-mir-dir-ihnen-euch leitet das ein, was man früher „Interview“ genannt hätte, aber zur routinierten Abfrage von Befindlichkeiten und Gefühlszuständen degeneriert ist. Ihr Siegeszug begann auf dem Fußballplatz („Wie happy sind Sie nach diesem grandiosen Erfolg?“), setzte sich fort über Germanys next Top Model, überwältigte im Nu die Sphären von Bundesregierung, Bundestag, Bundesmedien und dominiert inzwischen sogar die Weltpolitik, wie der Verlauf der Klimadebatte zeigt. Emotionen first, Fakten second, kritische Distanz nicht einmal mehr third.

Als es in den ersten beiden Septemberwochen von 2015 darum ging, wie man die Massenzuwanderung unter Kontrolle bringen könnte, war technisch-organisatorisch alles vorbereitet, waren die Einsatzbefehle geschrieben, die für die Grenzsicherung notwendigen Beamten in Bereitschaft, um wieder halbwegs reguläre Zustände an den deutschen Grenzen und damit die Geltung des Grundgesetzes herzustellen. Allein, es scheiterte an der Sorge der Bundeskanzlerin, bei einer Zurückweisung von Flüchtlingen könnten öffentlich schwer vermittelbare Bilder entstehen. Tränengas und Wasserwerfer gegen Männer, Frauen und Kinder.

Angela Merkel sah sich nicht in der Lage, diese Bilder und nicht etwa die Ereignisse an sich, die Notwendigkeit, so zu handeln und nicht anders später vor der Bundespressekonferenz zu erklären, zu rechtfertigen, zu begründen. Dass diese Bilder unmittelbar darauf an den Außengrenzen der Europäischen Union in einem noch viel erbärmlicheren Ausmaß entstehen würden, dass sie Figuren wie Erdogan ohne längeres Zögern diesen Job überließ, verbunden mit vielen Milliarden deutscher Steuergelder, eine Aufgabe (Schutz der Außengrenzen), die sie ja offensichtlich als unvermeidlich erkannt hatte, nur halt nicht vor ihrer Haustür das dürfte sie bereits in diesen Stunden gewusst und einkalkuliert haben.

In Sorge um das Image

Sie nahm es in Kauf, in Sorge um das öffentliche Bild von ihr. Um ihr Image. Kritik an ihrer Nicht-Entscheidung konterte sie durchaus konsequent mit einer empörten Feststellung: Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land. Nach wie vor bemerkenswert. Denn mit wir meinte sie die Bundesrepublik insgesamt. Mit entschuldigen meinte sie sich selbst. Mit Notsituation meinte sie nicht etwa einen Ausnahmezustand von zwei oder drei Tagen, sondern eine nach 1949 nicht gekannte, selbstverschuldete Eigendynamik ohne jedes Zeichen, dass eine Rückkehr zu grundgesetzkonformen Bedingungen geplant sei.

Und mit freundliches Gesicht reduzierte sie das Ganze zuletzt wieder auf eine Gefühlsregung. Die ist zwar nett, aber niemand kann sich für sie tags darauf noch etwas kaufen, auch kein Flüchtling. Eine Achterbahn der Bezugspunkte. Und gerade deshalb verstörend und verbindend zugleich.

Merkels Verlagerung des Problems weg von der Sach- und hin zur Gefühlsebene hat in weiten Teilen von Medien und Öffentlichkeit optimal funktioniert und selbst hässlichste Folgen ihrer Vorgehensweise mit dem Mantel der Freundlichkeit zugedeckt. Selbst die Süddeutsche Zeitung nur ein Beispiel von Hunderten , sonst mit Kritik an der Türkei unübertrefflich, attestierte ihr noch Jahre und einen Putsch und Milliardenüberweisungen später, als Erdogan längst abgedriftet war, sie habe mit dem Türkei-Deal richtig gehandelt.

Die Zeit, die den auch ihr unerklärlichen Kontrollverlust von 2015 ein Jahr später in einer großen Rekonstruktion aufarbeitete (Welche Absichten, Pannen und Missverständnisse dazu führten, dass plötzlich Hunderttausende Flüchtlinge ins Land kamen), beschuldigte am vergangenen Dienstag Armin Laschet, er benutze 2015 angesichts Afghanistans nun als rechte Chiffre. Laschet hatte gesagt, dieser Kontrollverlust dürfe sich nicht wiederholen.

Eine Position, mit der er die Überzeugung einer überwältigenden Mehrheit der hiesigen Bevölkerung treffen dürfte, übrigens auch die sehr vieler Zuwanderer, die unter den Integrationsdefiziten der hier noch nicht so lange Lebenden ganz besonders leiden.

Greta fand mit ihrem Kreuzzug gegen angebliche Klima-Leugner damit gerade in Deutschland ideale Bedingungen vor. Mit ihrem Aufruf, jegliche Debatte umgehend einzustellen, weil es hier nichts mehr zu debattieren gebe, sondern von morgen an eine von ihr als selbsterklärend verstandene Agenda zur Weltenrettung abzuarbeiten, rannte sie zwischen Flensburg und Lindau offene Türen ein. Und sie erwarb sich im Nu das Entzücken der Bundeskanzlerin.

Dass Greta Merkel ebenfalls für eine Versagerin hält und dies auch bei jeder Gelegenheit erwähnt, steigerte diese Zuneigung sogar noch. Selbst Willy Brandt, der Erfinder der deutschen Ausgabe von Compassion, hätte Frau Thunberg spätestens jetzt etwas gehustet, anstatt fortan noch ehrfürchtiger an ihren Lippen zu hängen.

Menschheit als Irrtum der Weltgeschichte

So wirft diese Verbundenheit ein Licht auf eine weitere Gemeinsamkeit: Ein hohes Maß an Misanthropie, die mindestens bei Greta sogar in Menschenverachtung übergeht. Mit ihrem von den Leitmedien bejubelten Auftritt vor den Vereinten Nationen (Alexander Grau: Das hatte etwas Fanatisches) stellte Greta klar, dass sie die Menschheit insgesamt für einen schweren Irrtum der Weltgeschichte hält, der lieber heute als morgen korrigiert gehört. Mit dieser Überzeugung rechtfertigt sie ihre totalitären Ansprüche auf Verhaltensänderung und Verzicht  und kommt damit mühelos durch.

Nun würde sich Angela Merkel so niemals äußern, jedenfalls nicht öffentlich, aber in ihrem Misstrauen der Bevölkerung gegenüber, auch und besonders der eigenen, erkennt sie sich in Greta wieder und weiß dabei Journalistinnen und Aktivistinnen hinter sich. Alle Daten, Fakten und nicht zuletzt der deutsche Alltag sprechen eine klare Sprache: Diese Deutschen sind in ihrer übergroßen Mehrheit keine Rassisten, keine herzlosen Egoisten, keine gedankenlosen Umweltschweine, keine Ausländerfeinde, keine Klima-Ignoranten.

Selbst eine zunehmende Verzweiflung angesichts einer inkompetenten und dysfunktionalen Parteienlandschaft bringt sie nicht dazu, in einem machtentscheidenden Ausmaß für rechtsextreme Parteien zu stimmen. Lieber bleiben sie am Wahltag in leiser Depression zu Hause. Sie spenden in für sie schweren Zeiten immer neue Rekordsummen, sie trennen Müll, ohne nach 30 Jahren endlich den Beweis zu erhalten, dass das tatsächlich etwas bringt, sie zahlen für eine vermurkste Energiewende die höchsten Strompreise Europas, ohne auf die Barrikaden zu gehen. Und wenn es eine tatsächlich in Not geratene Flüchtlingsfamilie trotz idiotischer Einwanderungs- und Asylpolitik irgendwie in ihren Ort geschafft hat, dann kommen in kürzester Zeit ganze Berge von Sach- und Geldspenden und beliebige Zahlen von Helfern zusammen.

Aber dieselben Deutschen wollen sich nicht verarschen lassen von Zuwanderern, die nicht im Traum daran denken, ihre Verachtung, ihren Hass auf Frauen, Juden oder Homosexuelle, auf Ältere und Schwächere in ihrer neuen Heimat abzulegen, sondern im Gegenteil ihn jetzt erst richtig ausleben. Diese sonderbaren Deutschen gehören zu den großzügigsten und tolerantesten Menschen weit und breit. Belohnt werden sie dafür von der Bundeskanzlerin und ihren Anhängern aus dem links-grünen Spektrum mit Misstrauen, mit dem Dauervorwurf eines irgendwie geartetenstrukturellen Rassismus ohne jeden Beleg und mit Umerziehungsversuchen ohne Sinn und Verstand, aber mit jährlich neunstelligen Kosten.

Gefühle sind alles, Vernunft zählt nicht mehr

All das ist nur erklärbar damit, dass Gefühle alles sind, Vernunft nicht mehr zählt und Fakten nach Gutdünken ignoriert werden. Gesinnung hat absoluten Vorrang vor Verantwortung. Und genau deshalb ist auch ein Heiko Maas überhaupt noch im Amt als Bundesminister des Auswärtigen. Mögen seine Fehler und Irrtümer noch so haarsträubend sein ein preiswertes und folgenloses Bekenntnis, wie sehr ihn das alles berühre, bewahrt ihn bei seiner Chefin vor Ungemach: Wenn man die Bilder in Afghanistan sieht, sind die Gefühle alles andere als schön. Das Schicksal berührt alle.

Ja, auf dieser Basis kann er sich sogar nach allen Fehleinschätzungen den unglaublichen Satz leisten, er stehe hier und könne nicht anders: Diese Entscheidung [nicht früher wenigstens die eigenen Botschaftsangehörigen herauszuholen], die würde ich jederzeit genauso wieder treffen Kongenial weiß auch Annalena Baerbock genau, was die aufgeweckte Medienwelt von ihr erwartet. Nicht etwa eine halbwegs historisch plausible Einordnung des Mauerbaus (Der in Beton gegossene Kalte Krieg). Nein: Der Verweis auf ihre ganz persönliche Befindlichkeit ist der entlastende Trick. Der Gedanke an 60 Jahre Mauerbau und die vielen Mauertoten erfüllt mich mit Schmerz.“

Quietschendes Vehikel

Gefühle sind weder überprüfbar noch justitiabel, sie erfordern keine aufwendigen Studien, man hat sie vielmehr stets griffbereit dabei also alles in Ordnung mit ihr; Test bestanden. Selbst das Genre der Reportage (und hier ist wieder die Verbindung zu den Verirrungen deutscher Medien), einst Kunstform mit einem möglichst hohen Maß an Beobachtungsgabe und Abgebrühtheit, verkommt zum quietschenden Vehikel für die Verkündung höchstpersönlicher Gefühlszustände, während für die eigentlichen Protagonisten nur noch eine Nebenrolle vorgesehen ist.

Bis zu 25-mal kommt das Ich mittlerweile in den Videos der ARD-MoMa-Reporter vor, im Idealfall gleich zur Eröffnung: Ich bin auf dem Weg ins Flutgebiet zum ersten Mal. Reporterin steigt in den Helfer-Bus ein; dort wird es angesichts der vorbeiziehenden Bilder (!) immer stiller. Atemlos sitzt der Fernsehzuschauer davor und bangt: Wird Victoria Reith diesen spannenden (!) Ausflug in die Trümmerlandschaften des Ahrtals irgendwie verkraften? Alles doch so neu hier für sie! Und so authentisch! Was macht dieser Tag mit ihr? Bleiben Sie dran.

Hinter die Ereignisse und Akteure zurückzutreten, eigene Gefühle so gut wie möglich herauszuhalten, um sich einen kalten Blick zu bewahren, ja erst zu ermöglichen, scheint für eine junge Generation in den Funkhäusern, weiblicher als je zuvor, bereits als Zumutung zu gelten. Weil die Leitfrage Und was macht das mit mir? nicht die rechte Würdigung erfahren könnte. Die Kanzlerin hat es vorgemacht. Und sie wurde dafür nicht etwa bestraft, sondern belohnt.

Ganz falsch kann das also nicht sein. So scheint es jedenfalls. Noch.

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