Fünf Jahre „Wir schaffen das" - Beispiellose Fehlleistung mit Tiefenwirkung

Am 31. August 2015 verkündete die Kanzlerin eine Kehrtwende in der deutschen Flüchtlingspolitik. Es folgte eine beispiellose Migrationswelle. Die gesellschaftlichen Langzeitfolgen sind unbewältigt. Und sie wirken fort. Weil bei vielen etwas Grundlegendes kaputt gegangen ist.

Haben wir das geschafft? / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

So erreichen Sie Christoph Schwennicke:

Anzeige

Der 31. August 2015 ist jetzt fünf Jahre her, und die traditionelle Sommerpressekonferenz der Bundeskanzlerin ist präsent in meinem Kopf wie wenige andere politische Ereignisse, die ich miterlebt habe. Dieser Tag wird die Kanzlerschaft Angela Merkels in ein Vorher und ein Nachher scheiden. Und nicht nur das. 

Der Part, der sich als „Wir schaffen das!“ eingebrannt hat ins kollektive Gedächtnis, war Teil ihrer Vorrede. Merkel wurde nicht danach gefragt, sie hat das Thema frontal angenommen, selbst gesetzt. Wenige Wochen vorher hatte sie dem palästinensischen Flüchtlingsmädchen Rem bei einer Talk-Veranstaltung gesagt, dass Deutschland nicht alle Flüchtlinge aufnehmen könne. Sie hat das Mädchen, das in Tränen ausbrach, in einer persönlichen Annäherung getröstet, wenn auch etwas linkisch. Der Stern titelte daraufhin mit einem knallharten Foto des Starfotografen Martin Schoeller und der Zeile: „Die Eiskönigin“. Es kam Unruhe auf auf der Kommandobrücke des Kanzleramtes. 

Perplex zurück ins Büro

Bei der Pressekonferenz des 31. August 2015 revidierte Merkel ihren Standpunkt wie sonst nur noch nach Fukushima. Die Menschen werden kommen, wir werden sie annehmen, wir schaffen das. Wir haben schon so viel geschafft. Das war die Botschaft.  

Ich bin ziemlich perplex zurück ins Büro gegangen. „Die weiß nicht, was sie gerade gesagt hat“, sagte ich zu den Kollegen. „Und vor allem: zu wem.“ Den Kommentar überschrieb ich mit der Zeile: „Merkels Marschbefehl“.

Es kam so. Es kamen die Tage mit dem Flüchtlingszug aus Ungarn, der Anfang September in München einfuhr. Und es ging immer weiter. Die Kanzlerin merkte, wie ihr die Fäden aus der Hand glitten. Zweimal war sie Sologast bei Anne Will. Ihrer bevorzugten Interviewerin. In einer dieser Sendungen sagte sie diesen verheerenden Satz, der einer Kapitulationsklärung gleichkam. „Es liegt nicht in unserer Macht, wie viel noch zu uns kommen“. Ihr Versprechen, in beiden Sendungen geäußert, dass sie nun für eine Verteilung innerhalb Europas  sorgen werde, hat sie nie eingelöst. Das restliche Europa hatte ihr längst den Rücken gekehrt. Wir waren das nicht, die gesagt haben: kommt!, sagte kühl der damalige französische Premier Manuel Valls. 

„Das überlebt sie nie“

Der 31. August 2015 markiert den Beginn einer beispiellosen Fehlleistung einer deutschen Regierungschefin. Ich erinnere mich gut, wie ein sehr namhafter Kollege der FAZ damals in den Wochen danach gesagt hat: „Das überlebt sie politisch nie. Das ist Wahnsinn."

Geschrieben hat er es nicht. Kaum einer hat das damals geschrieben. Oder überhaupt angesprochen. Eine Woche nach der Pressekonferenz habe ich ganz am Ende eines Hintergrundkreise mit dem damaligen Fraktionschef der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Volker Kauder gefragt, wie sich denn diese Kehrtwende der Kanzlerin erkläre. Erstens, sagte Kauder, sei das keine Kehrtwende, und zweitens liege die AfD bei drei Prozent in den Umfragen, es könne also gar nichts passieren. 

Endlich das Gute in die Welt bringen

Deutschland war im Willkommenstaumel damals. Beseelt davon, endlich das Gute und nicht das Schlechte über die Welt zu bringen. Wer sich kritische Fragen erlaubte, bekam sein Fett weg. Als „Salonhetzer“ bezeichnete mich ein ehemaliger Kollege des Spiegel im Leitartikel des Magazins. 

Ich habe ihn vor knapp einem Jahr wiedergetroffen. Wir diskutierten engagiert und zugleich respektoll über dies und das. An einer Stelle sagte er plötzlich: „Eines muss ich Dir aber doch noch sagen: Damals, 2015, da hast Du Recht gehabt."

Darüber habe ich mich sehr gefreut. Noch mehr gefreut hätte ich mich, wenn das auch irgendwo zu lesen gewesen wäre von ihm. So wie seinerzeit in der Eröffnung des wirkmächtigen Magazins, in dem dem Leitartikel. 

Gespalten wie keine andere Entscheidung

Die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel hat das Land gespalten wie keine andere politische Entscheidung je zuvor. Nicht die Ostpolitik, nicht die atomare Aufrüstung auf deutschem Boden. Bis tief hinein in Familien und Freundeskreise. Es sind Freundschaften zerbrochen darüber. 

Es gibt bis heute Leute, die nach wie vor der Meinung sind, dass das völlig richtig so war und dass es immer noch richtig ist. Und weiter so sein muss. Der oberste Protestant dieses Landes, Heinrich Bedford-Strohm, ist für mich da die Schlüsselfigur. Ich finde das zwar ganz falsch, auch alles, was er etwa zur privaten Seenotrettung sagt, aber ich respektiere das. So wie ich es falsch fand, aber respektiert habe, dass sich bei der Bundestagswahl 2017 der Satz des namhaften Kollegen der FAZ nicht bewahrheitet hat und Angela Merkel Kanzlerin blieb. Das ist Demokratie. 

Verdruckster Umgang

Viel mehr Probleme habe ich mit all jenen, die inzwischen erkannt haben, dass ihre wohlwollende Grundhaltung von damals falsch war. Dass sich viele negative Dinge in diesem Land eingestellt haben, die durch die Erfolgsgeschichten von Flüchtlingen nicht wettgemacht werden. Aber sie schweigen einfach verdruckst. Oder sie lassen es mal nebenbei fallen wie der Kollege vom Spiegel.

Ansonsten ist es mit 2015 und Merkels Flüchtlingspolitik wie mit Alesia im Asterix-Heft: „Alesia? Ich kenne kein Alesia“, sagen die Gallier da immer. In Alesia hatte Cäsar ihren Häuptling Vercingetorix vernichtend geschlagen. Seither verdrängten sie Ort und Ereignis. So ist das auch mit 2015. 

DIe Demos heute haben in 2015 ihren Ursprung

2015 lässt sich aber nicht verdrängen. Es lebt fort in seinen Folgen. Es lebt fort in einer tief gespaltenen Gesellschaft, in einer tief gespaltenen CDU und in einer tief gespaltenen Europäischen Union. Vor allem lebt es fort als unseliges grundsätzliches Misstrauen der Regierung und der Politik insgesamt gegenüber.

Damals ist bei vielen Menschen ein Grundvertrauen in den Staat und seine Institutionen kaputt gegangen. Die wirren Corona-Demonstrationen von heute und das gereizte gesellschaftliche Klima sind ohne 2015 nicht denkbar und erklärbar. 

Anzeige