Flüchtlinge in Griechenland - „Sonst steuern wir auf eine Katastrophe zu“

Potsdams Oberbürgermeister Mike Schubert (SPD) fordert, dass Flüchtlinge in Griechenland ihre Asylanträge direkt in Deutschland stellen können. Gegen den Willen des Innenministers wollen er und andere Bürgermeister 500 unbegleitete Minderjährige aufnehmen. Heiligt der Zweck die Mittel?

Einreise verboten: Tausende Flüchtlinge harren vor geschlossenen Grenzübergängen in Griechenland aus / picture alliance
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Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Mike Schubert (SPD) ist seit 2018 Oberbürgermeister von Potsdam. Er koordiniert die Arbeit des Bündnisses „Städte sicherer Häfen“, das sich für die Aufnahme aus Seenot geretteter Menschen in den Kommunen einsetzt. Gerade ist er zurück von einem Besuch des Flüchtlingslagers Moria auf der griechischen Insel Lesbos. 

Herr Schubert, am Samstag hat der türkische Präsident Erdogan die Grenze nach Griechenland entgegen des EU-Deals geöffnet. Sie kommen gerade zurück von einer Reise auf die griechische Insel Lesbos zurück, um sich ein Bild von den Bedingungen im Flüchtlingslager zu machen. Ein perfektes Timing für Ihre Reise, oder?
Ich persönlich hätte mir ein anderes Timing gewünscht. Aber in der Tat steht die Reise unter dem Eindruck zweier Ereignisse. Als wir auf Lesbos ankamen, sind wir in einen Generalstreik der Bewohner geraten, die sich mit der Situation allein gelassen fühlen. Und kurz vor unserer Abreise erreichte uns die Nachricht von der Entscheidung der türkischen Regierung, die Grenze zur EU zu öffnen.

Jetzt sind tausende Flüchtlinge auf dem Weg nach Griechenland. Dabei sind die Lager auf den griechischen Inseln schon heute hoffnungslos überfüllt. Wie haben die Insassen auf die Nachricht reagiert?
Die Nachrichtenlage war zu dem Zeitpunkt noch nicht ganz klar. Aber gerade diejenigen, die von ihren Familien getrennt sind, haben jetzt Hoffnung, dass sie bald wieder zusammenkommen. Wir haben viele Männer getroffen, die allein vorgereist sind oder Frauen mit Kindern, die auf ihren Mann warten.

Das Lager ist ausgelegt für 3.000 Menschen. 20.000 leben schon heute da. Unter welchen Bedingungen?
Es gibt keine Kanalisation, keinen Strom, kein Wasser. Es gibt ein Hüttenlager in den Olivenhainen um eine ehemalige Kaserne herum, die Menschen sprechen vom „Dschungel“. Wenn der Sommer mit Temperaturen bis zu 40 Grad kommt und nicht bald etwas getan wird, haben wir dort nicht nur eine humanitäre Ausnahmesituation. Die hygienischen Verhältnisse sind jetzt schon katastrophal.

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Flüchtlinge müssen teilweise jahrelang auf die Bearbeitung ihrer Asylanträge warten. Warum schafft es die EU nicht, genug Mitarbeiter für die Bearbeitung der Anträge zu schicken?
Diese Frage haben wir vor Ort auch gestellt. Die einzige Antwort, die wir bekommen haben, war der Hinweis auf die Verträge, die nur über ein halbes Jahr laufen. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Es gibt dort viel zu wenig Personal. Die Menschen in den Hütten müssen täglich zum Tor kommen, um zu gucken, ob ihre Nummer für das Asylgespräch angeschlagen ist. Haben sie ihre Nummer verpasst, gilt der Antrag als nicht gestellt.

Was bedeutet das für die Bewohner?
Die Menschen verbringen den ganzen Tag mit Anstehen. Anstehen nach Essen. Anstehen nach Kleidung. Anstehen nach dem Asylgespräch.

Kritiker sagen, dieser Zustand sei politisch gewollt. 
Das kann und will ich mir nicht vorstellen. Erstens sieht man, dass die Abschreckung nicht funktioniert. Es kommen ständig neue Geflüchtete. Zweitens wäre es ein Armutszeugnis für die Humanität in Europa, wenn das der Weg sein sollte, wie wir mit der Krise umgehen. Die Apathie Europas ist ein Teil des Problems. Die EU sieht zu, wie der Krieg in Syrien eskaliert. Sie hat versucht, sich mit dem Türkei-Deal freizukaufen. Geld zu geben, reicht aber nicht.

Die Stadt Potsdam will zusammen mit 140 anderen Städten und Gemeinden minderjährige, aus Seenot gerettete Flüchtlinge aufnehmen. Was ist Ihre Motivation? 
Die Stadt Potsdam ist seit 2018 Mitglied der Initiative „Städte sicherer Häfen“, die vom Verein „Seebrücke“ initiiert wurde. Es geht uns darum, geordnete Verfahren für Geflüchtete zu schaffen. Die Stadt Potsdam koordiniert die Arbeit dieses Bündnisses. Nachdem Grünen-Chef Robert Habeck vor Weihnachten gefordert hatte, 4.000 Jugendliche aufzunehmen, ebbte die Diskussion ab. Wir haben dann in Potsdam geprüft, wieviele wir sofort aufnehmen könnten: Fünf. Dann haben wir andere Städte im Bündnis gebeten zu prüfen, wieviel sie beitragen können. Aktuell stehen wir bei etwa 500 Sofortplätzen.

Auf den Inseln warten derzeit rund 5.600 zwölf- bis 17-Jährige. Wer entscheidet, wer kommen darf und wer nicht?
Die Zahlen variieren teilweise sehr stark. Uns geht es zunächst um die besonders Schutzbedürftigen um die unter 14-jährigen unbegleiteten Kinder. Das sind in Griechenland aktuell registriert ungefähr 500. Ähnlich groß ist die Gruppe der Mädchen unter 18 Jahren ohne Eltern. Ich war geschockt, wie wenig Schutzräume vorhanden sind, um junge Frauen vor sexuellen Übergriffen zu schützen.

Mike Schubert / dpa

Was sagen die Potsdamer dazu?
Die haben uns gewissermaßen den Auftrag dazu erteilt. 2018 haben wir die Stadtverordneten über den Beitritt zum Bündnis  „Städte sicherer Häfen“ beantragt und mit großer Mehrheit beschlossen. Gegenstimmen gab es von der AfD. 2019 bei den Kommunalwahlen wurden die Kräfte gestärkt, die unser Engagement im Bündnis der „Städte Sicherer Häfen“ unterstützen.

Unter Bürgermeistern, die dem Bündnis nicht angehören, ist Ihr Engagement umstritten. Einige fürchten, Sie erzeugten damit einen Pull-Effekt.
Die Diskussion über den „Pull-Effekt“ ist unsinnig. Menschen, die sich auf so einen langen Fluchtweg gemacht haben, kommen nicht, weil 140 deutsche Städte gesagt haben: „Wir nehmen unbegleitete Minderjährige auf.“

Aber Sie schaffen damit doch einen Anreiz: Deutschland öffnet Geflüchteten ein Schlupfloch.
Die Leute kommen aber nicht deswegen, sondern weil die Situation in ihrer Heimat sie dazu zwingt.

Nordrhein-Westfalens Integrationsminister Joachim Stampf (FDP) hält es für unverantwortlich, ausgerechnet das gefährlichste Transportmittel zu begünstigen, indem Flüchtlinge, die sich in Boote setzen, sogar direkt in die Kommunen vermittelt werden sollen.
Ich halte diese Argumentation für zutiefst zynisch. Im Umkehrschluss bedeutet das ja, dass man Menschen ertrinken lassen sollte, nur damit weniger nach Europa kommen. Wir wollen keine gesonderten Verfahren, sondern ein faires Asylverfahren.

Wäre es aber nicht sinnvoller, die Asylanträge an der EU-Außengrenze zu prüfen, bevor man die Geflüchteten in die Kommunen holt?
Derzeit brauchen Verfahren in den sogenannten Hotspots wie Moria bis zu zwölf Monate und länger. Zwölf Monate unter den Bedingungen, wie wir Sie auf Lesbos erlebt haben. Und in Europa wird über Verteilerschlüssel gestritten. Uns geht es um faire Asylverfahren nach geltenden Gesetzen und um eine menschenwürdige Unterbringung.

2019 hat Potsdam über neun Millionen Euro vom Bund für die Unterbringung und Integration der Flüchtlinge bekommen. Es sind Steuern, die auch aus anderen Ländern fließen. Wie soll man einem CSU-Wähler in Bayern vermitteln, dass sich ein SPD-Bürgermeister in Potsdam auf seine Kosten als Menschenretter profilieren kann?
Da bin ich ganz entspannt. Wir haben Kollegen in allen Bundesländern und jeder politischer Couleur, die diesen Weg gemeinsam gehen. Potsdam hat nur die Koordinierung übernommen.

Aber die Erfahrungen von 2015 haben gezeigt: Es gibt auch Geflüchtete, die nicht integrierbar sind. Und langfristig sind es erhebliche Kosten, die dadurch entstehen. Wäre es nicht fairer, wenn die Kommunen, die jetzt vorpreschen, diese Kosten dann auch selbst übernehmen?
Man kann diese Frage nicht bloß unter monetären Aspekten sehen. Auch die Kommunen tragen dabei erhebliche Kosten mit. Was wäre die Alternative? Solche Zustände zu akzeptieren, wie wir sie gerade in Moria erlebt haben? Der Rahmen für Aufnahme und Integration ist gesetzlich geregelt.

Zuständig für die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen ist das Bundesinnenministerium. Mit welchem Recht setzen Sie sich darüber hinweg?
Das haben wir nicht getan. Wir haben aufgezeigt, dass wir Kapazitäten bereitstellen. Und wir haben uns an die Bundesregierung gewandt, um eine Lösung zu suchen. Wir können nicht auf der einen Seite sagen: Die Zustände in den Lagern sind unhaltbar, Kinder und Frauen müssen geschützt werden. Und auf der anderen Seite warten wir, bis wir eine gesamteuropäische Lösung haben. Dieses Warten dauert jetzt schon seit fünf Jahren an.

Das Bundesinnenministerium hat die Petition der 140 Städte abgelehnt. Was nun?
Nach Paragraph 23 des Aufenthaltsgesetzes können die Länder besonders schutzbedürftige Gruppen im Benehmen mit der Bundesregierung  aufnehmen. Und für mich sind Minderjährige unter 14 Jahren schutzbedürftig.

Sollten Bund und Länder nicht besser an einem Strang ziehen?
Wir werden uns nach dieser Reise nochmal ans Bundesinnenministerium wenden. Wir werden uns aber auch die Länder wenden, die sich zur Aufnahme bereiterklärt haben: Berlin, Brandenburg, Thüringen, Niedersachsen, Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein. Wir werden sie bitten, eine Bundesratsinitative zu starten: Durch die türkische Grenzöffnung muss Bewegung in die Sache kommen, sonst steuern wir auf eine Katastrophe zu.

Der Initiative Seenotbrücke geht das noch nicht weit genug. Sie hat gefordert, dass künftig die Städte und Kommunen auch über die Aufnahme und die Bleibeperspektive der Geflüchteten entscheiden sollen. Was qualifiziert sie dafür?
Eine direkte Aufnahme sieht das Bundesrecht nicht vor, weil es auch andere Aspekte neben der Integration gibt, die man beachten muss. Das stellen die Städte sicherer Häfen nicht in Frage. Was bei der Forderung aber richtig ist, dass sich am Ende in der örtlichen Gemeinschaft entscheidet ob Integration funktioniert. Es geht nicht ohne die Unterstützung der Bürger. Wenn sich eine Stadt bewusst für die Aufnahme entscheidet, erhöht das die Legitimation.

2015 wurden die Städte und Kommunen nicht gefragt. Die Folge: Viele Menschen gingen gegen die Flüchtlingsheime auf die Straße. Ist das jetzt die Lehre, die einige Kommunen aus der Flüchtlingskrise 2015 gezogen haben? 
Ja, kann man so sagen. Es hätte damals geholfen, vorab ein geordnetes Verfahren zusammen mit den Kommunen zu entwerfen. Deswegen werde ich auch nicht müde, darum zu werben, sich jetzt an einen Tisch zu setzen. Der Bundesinnenminister hat gerade erklärt, es könnte jetzt eine ähnliche Krise drohen wie 2015. Wie schafft man das Vertrauen der Bürger in den Staat, jenseits von Verteilquoten? Es reicht nicht zu sagen: „Wir schaffen das!“

Nach einer Umfrage der Bertelsmannstiftung sind aber 50 Prozent der Deutschen der Meinung, dass Deutschland keine weiteren Flüchtlinge mehr aufnehmen sollte, weil es seine Belastungsgrenze erreicht habe. Kann es sein, dass Ihre Forderung derzeit politisch nicht durchsetzbar ist?
Es kann sein, dass es noch Gegenwind gibt. Man muss sich der Diskussion stellen. Deswegen auch die klare Forderung für besonders schutzbedürftige Gruppen wie Kinder und Frauen. Noch im September hatte Horst Seehofer aber selbst gefordert, dass die Bundesrepublik 25 Prozent der aus Seenot Geretteten aufnimmt, solange sich die EU-Staaten nicht einigen können. Das hat bei mir die Hoffnung geweckt, dass der christlich-soziale Aspekt in seiner Arbeit eine Rolle spielt.

Die Flüchtlingskrise 2015 hat die Gesellschaft  gespalten. Wohin das führen kann, hat gerade der Terroranschlag von Hanau gezeigt. Riskieren Sie mit Ihrer Initiative nicht, dass sich die Spannungen noch weiter verschärfen?
Es muss mehr geschehen als die Diskussion über Flüchtlingsverteilung in Europa. Sondern Europa muss einen Beitrag leisten wenn es um die Bekämpfung der Fluchtursachen geht. Wir dürfen uns nicht auf die Zuschauerbank setzen und die Länder Europas am Mittelmeer mit den Problemen der Flucht allein lassen, wie es die AfD fordert. Das wäre doch so, als ob man sich die Decke über den Kopf zieht und sagt: Wenn ich nichts mehr sehe, habe ich auch kein Problem.

Die Städte und Kommunen müssen jetzt damit rechnen, dass eine neue Flüchtlingswelle auf Deutschland zurollt. Ist Potsdam auf ein zweites „2015“ vorbereitet?
Keine Stadt hält solche Kapazitäten dauerhaft vor, aber wir könnten bei Planung und Logistik die Erfahrungen von 2015 nutzen, um diesmal zügiger zu agieren. Aber noch gibt es ein Momentum, in dem Europa handeln kann, um eine Situation wie damals durch geordnete Verfahren und einen Beitrag zur Befriedung der Lage in Syrien zu vermeiden. Aber man muss jetzt handeln. 

Die Fragen stellte Antje Hildebrandt. 

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