Streit um Aufnahme von Flüchtlingen aus Moria - „Was Deutschland leistet, macht kein anderes EU-Land“

Es war ein Tauziehen, aber am Ende haben sich CDU/CSU und SPD darauf geeinigt, 1.553 Flüchtlinge aus Griechenland aufzunehmen. In der Unions-Fraktion gab es deshalb Streit. Vize-Chef Thorsten Frei ist für einen restriktiven Kurs. Im Interview sagt er, warum.

Ticket nach Deutschland: Die Bundesregierung nimmt 1.500 Flüchtlinge aus Moria auf /dpa
Anzeige

Autoreninfo

Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

So erreichen Sie Antje Hildebrandt:

Anzeige

Thorsten Frei ist seit 2018 stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Von 2004 bis 2013 war er Oberbürgermeister von Donaueschingen. 

Herr Frei, das Flüchtlingslager Moria ist komplett abgebrannt. Bilder zeigen Menschen, die mit ihren Kindern auf dem Arm vor den Flammen flüchten. Was denken Sie, wenn Sie so etwas sehen? 
Das sind natürlich erschütternde Bilder, und jeder, der die rauchenden Trümmer und die verzweifelten Gesichter sieht, muss den Impuls verspüren, zu helfen. Genau das tun wir, und zwar insbesondere vor Ort. Die Bundesregierung hat sich bereits letzte Woche mit den Hilfsorganisationen koordiniert und sich eng mit der griechischen Regierung abgesprochen, um den Bedarf zu ermitteln. Bereits Freitag hat sie erste Hilfslieferungen nach Griechenland gebracht. Das ist die effektivste Möglichkeit, schnell und unbürokratisch zu helfen. 

Die SPD-Parteivorsitzende Saskia Esken hat noch am Sonntag im ZDF gefordert, Deutschland müsse „einen hohen vierstelligen Betrag“ an Flüchtlingen aufnehmen. Jetzt hat sich die Koalition auf 1.500 geeinigt. Ist das angemessen?
Deutschland hat immer humanitär geholfen. Allein in diesem Frühjahr haben wir im Rahmen einer europäisch abgestimmten Mission sämtliche kranke Kinder mit ihren Kernfamilien aufgenommen. Das waren insgesamt 1.000 Personen, davon sind inzwischen 465 in Deutschland. Jetzt haben wir noch einmal Zuflucht für 408 Familien angeboten. Das sind insgesamt 1.553 Personen, die bereits ein Asylverfahren durchlaufen und ein Bleiberecht in Europa haben. Was Deutschland leistet, ist einzigartig. Das macht kein anderes EU-Land. 

Das sieht Frau Esken offenbar anders. 
Wenn sie einfach Zahlen in den Raum stellt, wenn sie eine unterschiedslose Aufnahme von Migranten von den griechischen Inseln nach Deutschland fordert, dann erweist sie dem einen Bärendienst, was eigentlich nötig wäre, nämlich der Weiterentwicklung eines europäischen Asylsystems. Wir senden damit das Signal: Wenn es hart auf hart kommt, kümmert sich Deutschland im nationalen Alleingang darum. Solidarität in Europa ist nicht notwendig. Das zweite Signal ginge an die Migranten in den Herkunftsländern: Der Weg nach Deutschland ist offen. Man muss es nur auf die griechischen Inseln schaffen.

Dieser Pull-Effekt ist wissenschaftlich aber nicht erwiesen. Der Migrationsdruck ist so hoch, dass auch die verheerenden Verhältnisse in Moria niemanden abgeschreckt haben. 
Die empirischen Erfahrungen zeigen, dass immer dann Menschen aus der Türkei nachgerückt sind, wenn Flüchtlinge von den griechischen Inseln aufs Festland gebracht wurden. Wenn wir nicht von einem Krisenmanagement zum nächsten springen wollen, müssen wir das europäische Asylsystem weiterentwickeln.  

%paywall%

Daran doktert die EU schon seit 2015 erfolglos herum. Haben Sie tatsächlich noch Hoffnung, dass die 27 Mitglieder eine Lösung finden, solange das Einstimmigkeitsprinzip gilt?
Ja, ich habe große Hoffnungen. Aber eines muss natürlich klar sein: Das wird nicht bedeuten, dass man die deutschen Moralvorstellungen eins zu eins auf Europa übertragen kann. Eine solche Diskussion gibt es nur in Deutschland, aber nicht in anderen Ländern. 

 

Aber wenn das Problem für die anderen Länder nicht relevant ist, warum sollten die sich dann um eine gemeinsame Lösung bemühen?
Gegenfrage: Warum ist ein Teil der deutschen Debatte so zwanghaft darauf gerichtet, dass Hilfe in dieser Situation immer nur Aufnahme von Migranten in Deutschland bedeuten kann? 

Thorsten Frei / dpa 

 

Politiker wie Katrin Göring-Eckardt (Grüne) und Andreas Geisel (SPD) sind nach Lesbos geflogen, um genau dieser Forderung Nachdruck zu verleihen. Wie finden Sie solche Auftritte?
Jeder entscheidet selbst, wie er seine Politik gestaltet. Ich würde aber dazu raten, dass wir uns an den Fakten orientieren. Wir sind in engem Kontakt mit den griechischen Behörden und auch mit der Europäischen Kommission, wenn es darum geht, in Griechenland ein Asylverfahrenszentrum in europäischer Verantwortung aufzubauen. Es besteht derzeit aber kein Mangel an der Erkenntnis, dass die Unterbringung gerade sehr schwierig ist. Das ist gar keine Frage. Das kann aber nicht bedeuten, dass man in einem deutschen Alleingang sämtliche Migranten unterschiedslos aufnimmt, so wie es Frau Göring-Eckardt gefordert hat. 

Immerhin nimmt Deutschland jetzt schon zehnmal mehr Menschen auf, als Bundesinnenminister Horst Seehofer ursprünglich geplant hatte. Hat sich die Union von der SPD über den Tisch ziehen lassen?
Nein, hat sie nicht. Das mit den 150 Flüchtlingen war auch keine Idee des Bundesinnenministers. Die Kanzlerin hat das mit dem französischen Präsidenten vereinbart. Frankreich und Deutschland haben vereinbart, dass  jeder 150 unbegleitete Minderjährige aufnimmt. Der Bundesinnenminister hatte in seiner Rede vor dem Bundestag am Freitag darauf hingewiesen, dass das aus seiner Sicht nur ein erster Schritt sein sollte – und dass man jetzt das Augenmerk auf Familien mit kleinen Kindern richten müsste. Insofern ist das stringent und logisch. 

Ist es mit dem christlichen Anspruch der CDU zu vereinbaren, auszuwählen, welches Leben rettungswürdig ist und welches nicht?
Ich finde diese Frage etwas eigentümlich. Natürlich gibt es gefährdete, vulnerable Gruppen. Ich finde, bei alleinreisenden Kindern besteht eine andere Notwendigkeit zu helfen als bei erwachsenen Menschen, die sich im Bewusstsein der Gefährlichkeit ihrer Reise auf den Weg gemacht haben. Sie dürfen auch nicht vergessen: Deren Leben ist auf den griechischen Insel nicht gefährdet. 

Bewohner des Camps erzählen etwas anderes. Raub und Vergewaltigungen gehören dort zum Alltag. Die Situation für Kinder ist so desolat, dass sich etliche schon versucht haben, das Leben zu nehmen. 
Wir werden gewährleisten, dass es eine menschenwürdige Unterbringung in Griechenland gibt. Wir sollten uns darauf einigen, dass wir das in allen 27 Mitgliedsstaaten der EU schaffen können. Wenn wir uns auf den Standpunkte stellen, dass die Menschenwürde selbst in einzelnen Ländern der EU nicht gewährleistet ist, wird man am Ende zu dem Ergebnis kommen, dass es den Menschen außerhalb von Deutschland, Österreich oder Schweden unzumutbar schlecht geht. Zur Lösung der Herausforderungen trägt das nicht bei. 

Von der Kanzlerin stammt das Zitat, so etwas wie 2015 dürfe sich nicht wiederholen. Wir reden jetzt gerade von 1.500 Menschen, 2015 waren es 1,5 Millionen. Hinkt der Vergleich nicht?
Wir stehen hinter dem Satz, dass sich 2015 nicht wiederholen darf. Das ist im Übrigen auch von einem Bundesparteitag der CDU so beschlossen worden. Natürlich hinkt der Vergleich, weil die Grundlagen unterschiedlich sind. Aber der entscheidende Punkt ist: Wir müssen die Kontrolle über das Geschehen behalten. Und deshalb ist es so wichtig, umsichtig zu agieren, damit sich nicht eine Eigendynamik entwickelt wie im September 2015. 

Aber inzwischen hat man Erfahrung im Krisenmanagement und mit der Integration. Und eine ganze Reihe von Städten ist bereit, Menschen aufzunehmen. Wo also liegt das  Problem?
Migrationspolitik ist nationale Politik. Wir sehen an vielen Stellen, dass wir sie europäisieren und nicht regionalisieren oder gar kommunalisieren müssen. 

Aber gerade in den Kommunen hat man damit am meisten Erfahrung. 
Aber Sie können doch nicht von Stadt zu Stadt unterschiedlich darüber entscheiden, nach welchen Kriterien Migranten in Deutschland aufgenommen werden. Das erste Problem ist: Es gibt ein Recht auf Freizügigkeit. Und wenn sich Thüringen entscheidet, 2.000 Menschen aufzunehmen, dann können diese Menschen nach kurzer Zeit überall in Deutschland ihren Wohnsitz nehmen. 

Und was ist das zweite Problem?
Die Finanzierung. Die Bundesregierung hat in den vergangenen Jahren zwischen 25 und 28 Milliarden Euro pro Jahr für die Themen Migration und Integration ausgegeben. Es kann nicht sein, dass die Kommunen einerseits solche Angebote machen, aber andererseits nicht die Konsequenzen tragen. 

Eine Folge von 2015 war der Aufstieg der AfD. Müssen Sie schon aus diesem Grund einen restriktiveren Kurs in Moria fahren, um der Partei keine Angriffsfläche zu bieten? 
Das würde ich für die falsche Herangehensweise halten. Wir müssen uns so verhalten, dass wir der Herausforderung gerecht werden. Und da gilt es vor allem darauf zu achten, dass wir den Zusammenhalt in Deutschland und in Europa nicht gefährden. 

Sehen Sie den sozialen Frieden in Deutschland in Gefahr?
Nein, aktuell nicht. Aber das setzt voraus, dass wir die Kontrolle behalten und dass eine Mehrheit der deutschen Bevölkerung unsere Flüchtlingspolitik auch akzeptiert. 

Die Fragen stellte Antje Hildebrandt. 

Anzeige