Corona-Fälle in der Fleischindustrie - „Das System ist von Grund auf krank“

Durch hohe Corona-Fallzahlen in Fleischverarbeitungsbetrieben kommen die prekären Arbeitsverhältnisse der Branche ans Licht. Jonas Bohl, Pressesprecher der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten, kritisiert die gesamte Branche im Interview scharf und appelliert an die Konsumenten. 

Die Corona-Krise deckt die schlechten Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie auf / dpa
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Autoreninfo

Rixa Rieß hat Germanistik und VWL an der Universität Mannheim studiert und hospitiert derzeit in der Redaktion von CICERO.

 

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Jonas Bohl ist Pressesprecher der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG). Die NGG vertritt seit 1949 unter anderem die Interessen der Beschäftigten in der Fleischwarenindustrie und dem Fleischerhandwerk. ​

Herr Bohl, die Fleischindustrie macht derzeit Schlagzeilen, weil die Betriebe als Infektionsherde gelten. Im Kreis Coesfeld wurden über 850 Neuinfektionen festgestellt – davon über 250 im Fleischbetrieb Westfleisch. Wie konnte es dazu kommen?
Wir beobachten in der Branche eine Besonderheit seit vielen Jahren. Die dort beschäftigten Menschen stammen in der Regel aus Osteuropa. Sie kommen für Wochen oder Monate nach Deutschland, um in den Schlachthöfen zu arbeiten. Während ihrer Zeit sind sie oft in Massenunterkünften untergebracht, in denen man auf engstem Raum wohnt. Unserer Einschätzungen nach stammen die Ansteckungen eher aus diesem Bereich. Also nicht direkt aus den Arbeitsstätten selbst, wo inzwischen auch die nötigen Corona-Maßnahmen erlassen wurden.

Jonas Bohl / Foto: NGG

Die Unternehmer, die Behörden und die Landesregierung kannten die Zustände in Coesfeld. Warum hat man so lange abgewartet, bis die ersten Fälle auftraten, wo doch die Risiken des Coronavirus schon hinlänglich bekannt waren?
In Nordrhein-Westfalen gab es im letzten Jahr eine große Aktion in den Schlachthöfen: Der Arbeitsminister Karl-Josef Laumann hat das Thema proaktiv angefasst. Die Behörden haben die Höfe besucht und haben in nahezu allen Fällen sehr grobe Verstöße gegen den Arbeitsschutz festgestellt. Da fragt man sich natürlich schon, warum es dann dort zu so einem Ausbruch kommen musste, wenn das alles bekannt war. Ich denke, dass auch die Überlastung der Gesundheitsämter durch COVID-19 eine Rolle gespielt haben könnte. Vielleicht ist das mit ein Grund, warum man die Lage nicht so im Blick hatte. Uns hat es fast ein bisschen überrascht, dass der Ausbruch in den Schlachthöfen erst jetzt kam, wir hatten bereits vor längerer Zeit vor diesem Szenario gewarnt.

Wen sehen Sie, als Gewerkschaft, in der Verantwortung?
Wir empfinden das komplette System der deutschen Fleischindustrie als reformbedürftig. Da muss von Grund auf was passieren. Das System funktioniert so: Der Schlachthof ist in Deutschland, aber es arbeiten dort Menschen aus osteuropäischen Länden für einen sehr geringen Lohn. Und die sind nicht bei dem deutschen Schlachthof angestellt, sondern bei Subunternehmen, die ihren Sitz in den osteuropäischen Ländern haben.

Welche Forderungen leiten Sie aus diesem Zustand ab?
Wir fordern seit Jahren, dass die Schlachthof-Konzerne in Deutschland, wie Vion, Tönnies und Westfleisch ihrer Verantwortung bezüglich der Arbeitsbedingungen nachkommen. Aus unserer Sicht sollte ein Schlachthof das Schlachten und Zerlegen von Tieren nicht einfach an Fremdfirmen auslagern dürfen – so ist es aktuell. Und wenn dann etwas schiefläuft auf dem eigentlichen Firmengelände, verweisen die Konzernchefs auf die Verträge mit den Subunternehmern und verneinen jede Schuld. Das ist aus unserer Sicht wohlfeil. Wir hoffen, dass die Politik diesem System ein Ende setzt.

Es besteht die Befürchtung, dass eine Erhöhung der Preise in Deutschland den Markt mit Fleischprodukten aus Drittländern fluten könnte, die billiger produzieren können. Im Zweifelsfall gingen viele Arbeitsplätze in der deutschen Fleischindustrie verloren. Ist das trotzdem der einzig richtige Weg?
Die Gefahr sehen wir nicht. Deutschland exportiert Fleisch – das Fleisch in Deutschland, das wir im Supermarkt kaufen ist zu billig. Die Supermarktketten üben einen enormen Druck auf die Fleischwirtschaft aus, was die Preise betrifft. Da haben es die Schlacht- und Zerlege-Konzerne nicht so leicht, angemessene Preise durchzusetzen. Wir erwarten, dass die großen Konzerne sich zusammentun und einen Tarifvertrag abschließen, wie das in Deutschland üblich ist und so die Mindestanforderung z.B. an Löhne und Unterbringung festgeschrieben werden. Die großen Player der Fleischindustrie weigern sich aber seit Jahren beharrlich.

Welche Rolle spielt der Verbraucher? Ist er nicht in der Hauptverantwortung?
Auch an die müssen wir appellieren. Deutsche neigen dazu, sich einen sehr teuren Grill anzuschaffen und sich dann über Wurstpreise von wenigen Cents zu freuen. Diese „Geiz ist Geil“-Mentalität spielt in dieser ganzen Problematik eine riesige Rolle. Es ist wenig Geld im System, weil die Deutschen nicht bereit sind, für Lebensmittel Geld auszugeben. Darunter leiden die Tiere, aber auch die Menschen, die diese extrem anstrengende Arbeit machen müssen.

Glauben Sie, dass der öffentliche Druck ausreichen kann, um eine so mächtige Branche wie die Fleischindustrie in ihren Arbeitsstrukturen grundlegend zu ändern?
Es besteht natürlich die Gefahr, dass jetzt „die Sau durchs Dorf getrieben wird“ und es nächste Woche eine andere ist. Als Gewerkschaft wollen wir den Druck aufrechterhalten. Es ist eigentlich eine Schande, dass es jetzt soweit kommen musste und Menschen sich erst infizieren mussten. Ob das jetzt zu einem Wechsel führt in diesem System, das ich von Grund auf „krank“ nennen würde, müssen wir abwarten. Bisher gibt es wenig Erkenntnisse, dass die Menschen, die die Verantwortung in der Industrie tragen, bereit sind, dieser nachzukommen. Wenn man auf die vermehrte Testung von Mitarbeitern auf Coronaviren in den Betrieben antwortet, dass das die Branche unter Generalverdacht stellen würde, ist das bezeichnend. Bei diesen Tests geht es um Menschenleben, da sollte der Ruf der Branche zweitrangig sein. Zudem hat diese Branche in den letzten zehn bis zwanzig Jahren alles dafür getan, dass so ein Verdacht des mangelnden Verantwortungsbewusstseins gerechtfertigt ist.

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