Flüchtlingspolitik - Der große Familienstreit

Bei den Jamaika-Koalitionsverhandlungen ist der Familiennachzug für Flüchtlinge das zentrale Streitthema. Die Prognosen über die Anzahl der Nachzügler und die gesellschaftlichen Folgen könnten dabei nicht unterschiedlicher sein. Eine Übersicht über die bekannten Fakten

Flüchtlinge, denen der Asylstatus anerkannt wurde, erhalten das Recht auf privilegierten Familiennachzug / picture alliance
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Ulrich Thiele ist Politik-Redakteur bei Business Insider Deutschland. Auf Twitter ist er als @ul_thi zu finden. Threema-ID: 82PEBDW9

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Der Streit um den Familiennachzug bestimmt die Jamaika-Koalitionsverhandlungen. Während die Grünen möglichst vielen Flüchtlingen erlauben wollen, ihre engen Verwandten nach Deutschland zu holen, wollen CDU und vor allem CSU das Nachzugsrecht weiter beschränken. Laut den Grünen ist die Trennung von Familien ein Integrationshindernis und zudem unmenschlich. Die Union geht ganz im Gegenteil von noch größeren Integrations- und Finanzierungsschwierigkeiten aus als ohnehin schon vorhandenen sind, wenn noch mehr Flüchtlinge nach Deutschland kommen. Auch FDP-Chef Christian Lindner sprach sich kürzlich für eine Beschränkung des Familiennachzuges aus, „weil wir in Schulen und beim Wohnen an der Grenze“ seien.

Zur Erinnerung: Das Nachzugsrecht für Angehörige von Flüchtlingen mit subsidiärem Schutz wurde von der Union im März 2016 ausgesetzt, um die Kommunen zu entlasten – allerdings nur für zwei Jahre, also offiziell noch bis März 2018. Union und FDP wollen den Nachzug für diese Gruppe auch darüber hinaus aussetzen, die Grünen lehnen das ab. Derzeit klagen vor allem immer mehr Syrer gegen ihre subsidiären Asylbescheide.

Der subsidiäre Schutz gilt, wenn der betroffenen Person individuell ernsthafter Schaden (etwa durch Verhängung der Todesstrafe) im Heimatland droht, aber der Flüchtlings- oder der Asylstatus nicht gewährt werden kann. Die Aufenthaltserlaubnis gilt in diesem Fall nur ein Jahr, kann aber anschließend für jeweils weitere zwei Jahre verlängert werden.

Wer hat das Recht auf Familienzusammenführung?

Das Recht auf privilegierten Familiennachzug gilt nur für diejenigen, die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) als Asylberechtigte oder Flüchtlinge anerkannt sind – für subsidiär Schutzberechtigte ist dieses Recht noch bis März 2018 ausgesetzt.

Privilegierter Nachzug bedeutet, dass kein Nachweis der Lebensunterhaltsversicherung und über ausreichenden Wohnraum nachgewiesen werden muss, damit Familienangehörige einreisen dürfen.

Nachzugsberechtigt sind grundsätzlich nur Mitglieder der Kernfamilie, sprich Ehepartner sowie gemeinsame und eigene minderjährige Kinder. Volljährige Kinder oder sonstige Familienangehörige müssen einen außergewöhnlichen Härtefall vorweisen können. Die Vorschriften für die Anerkennung eines solchen sind aber eng: Flucht und Vertreibung durch Krieg oder eine finanzielle Notlage werden nicht als außergewöhnlicher Härtefall akzeptiert, da sich zu viele Menschen in einer ähnlichen Situation befinden. Nur auf den konkreten Einzelfall bezogen kann ein außergewöhnlicher Härtefall Geltung finden, zum Beispiel wenn ein pflegebedürftiger Verwandter durch die Trennung von der Familie keine Betreuer mehr hätte. Bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen dürfen nur die Eltern nachkommen. Die Geschwister haben kein Recht auf Nachzug, wenn die Eltern nicht bereits in Deutschland sind.

Wie viele Familienmitglieder werden vermutlich nachziehen?

Darüber, wie viele nachzugsberechtigte Verwandte es weltweit gibt, sind bis jetzt keine belegbaren Zahlen vorhanden. Die AfD rechnet mit zwei Millionen Nachzüglern ab 2018, da davon auszugehen sei, dass viele der Flüchtlinge aus Großfamilien stammen und somit mit fünf Verwandten pro Flüchtling zu rechnen sei. Bundesinnenminister Thomas de Maizière rechnet schlicht mit einer „gewaltigen Zahl. Die bayerische Vize-Ministerpräsidentin Ilse Aigner sprach 2015 von 7 Millionen Flüchtlingen, die inklusive Familiennachzug insgesamt nach Deutschland kommen würden.

Das Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) spricht von deutlich geringeren Zahlen. Den Forschern zufolge gibt es derzeit 120.000 Menschen weltweit, die nach aktueller Rechtslage ihren Verwandten nach Deutschland folgen dürfen. Die Zahl beruft sich auf eine Auswertung von Daten des Ausländerzentralregisters, des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge sowie des Auswärtigen Amts.

Zählte man die Angehörigen der Flüchtlinge mit subsidiärem Schutzstatus hinzu, stiege die Zahl laut des IAB um weitere 60.000 Nachzügler. Dürften – wie es die Grünen anstreben – auch die Angehörigen der Flüchtlinge mit subsidiärem Schutzstatus ihren Angehörigen folgen, kämen folglich insgesamt laut IAB 180.000 Flüchtlinge nach Deutschland – durchschnittlich 0,28 Angehörige pro Flüchtling. Der für die Studie zuständige Migrationsforscher Herbert Brücker beruft sich dabei auf eine Befragung von 4.800 Flüchtlingen.

Die Schätzungen zwischen AfD, Medien, Politikern und Forschern könnten also nicht weiter auseinandergehen. Als Gründe für die vergleichsweise niedrigen Zahlen der IAB wird das junge Alter vieler Flüchtlinge angegeben – viele von ihnen hätten noch keine Familie gegründet. Zudem seien viele Flüchtlinge bereits mit ihren Familien nach Deutschland gekommen.

Wer bildet die größte Gruppe der anerkannten Nachzügler?

Insgesamt 70.000 Syrer und Iraker warten derzeit auf ein Visum zum Familiennachzug. Sie stellen damit die beiden größten Gruppen anerkannter Flüchtlinge mit Recht auf Familiennachzug. In den zweieinhalb Jahren zwischen Januar 2015 und Juni 2017 wurden 102.000 Anträge von Syrern und Irakern auf Familiennachzug vom Außenamt bewilligt, weitere 3.000 gingen an Afghanen. Insgesamt wurden in diesem Zeitraum 230.000 Visa-Anträge bewilligt, allerdings nicht nur für Flüchtlinge. Laut Außenamt könnten bis 2018 zusätzlich zwischen 100.000 und 200.000 Syrer und Iraker nachziehen. Darin einberechnet sind jedoch auch die Angehörigen der knapp 128.000 subsidiär Schutzberechtigen, die eventuell ab März 2018, falls die Aussetzung auslaufen sollte, folgen könnten – vorausgesetzt, sie nutzen die Möglichkeit.

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