Facebook, Umfragen, Wutbürger - Wer entscheidet die Bundestagswahl 2017?

Selten waren die politischen Zeiten so bewegt wie heute, selten das Ergebnis einer Bundestagswahl so offen. Umso mehr wird diskutiert, wer oder was einen Einfluss auf den Wahlausgang haben könnte. Cicero hätte da ein paar Vorschläge

Der Reichstag steht kopf – zumindest in der Spiegelung einer Pfütze / picture alliance
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Christoph Seils war Ressortleiter der „Berliner Republik“ bei Cicero bis Juni 2019. Im Januar 2011 ist im wjs-Verlag sein Buch Parteiendämmerung oder was kommt nach den Volksparteien erschienen.

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Zehn Monate sind es noch bis zur Bundestagswahl. Aber selten in der Geschichte der Bundesrepublik war der Wahlausgang so offen. Viel kann noch bis zum Herbst passieren. Kanzlerin Merkel steckt seit der Öffnung der Grenze für Flüchtlinge im September 2015 politisch in der Defensive fest. Anderseits hat die SPD noch nicht einmal einen Kanzlerkandidaten. Die außenpolitische Lage ist unübersichtlich. Die Eurokrise könnte ausgerechnet im Wahljahr eskalieren. Selten waren die Wahlkämpfer zu Beginn eines Wahljahres so nervös.

Je instabiler die Lage, desto intensiver wird in Berlin darüber spekuliert, ob bestimmte politische Akteure, einzelne Ereignisse oder bestimmte Wählergruppen den Ausgang der Wahl einscheidend beeinflussen oder gar manipulieren können. Auch der Blick in die USA wirft viele Fragen auf.

Dort wurde nach der Präsidentenwahl und ihrem für viele völlig überraschendem Ausgang über automatisierte Nachrichten in den sozialen Netzwerken, sogenannte Social Bots, diskutiert, über den russischen Geheimdienst, der die Mails von Hillary Clinton gehackt und via Wikileaks veröffentlicht haben soll. Oder über eine britische Firma mit dem Namen Cambridge Analytica, die durchschnittlich tausend Daten zu jedem der 220 Millionen US-Bürger besitzen und Trump mit diesem Big-Data-Schatz und zielgerichteter Botschaften zum Wahlsieg verholfen haben soll.

Oder waren die Fake-News Schuld? Die Umfragen? Oder doch die Abgehängten, jene Wähler, die ihre kulturelle Identität von Globalisierung und Einwanderung bedroht sehen? Aber vielleicht lag es, ganz analog, letztendlich doch nur an Hillary Clinton, die im Wahlkampf ein paar schwerwiegende Fehler machte und für ihre Wähler keine identitätsstiftende Botschaft hatte. Viele Theorien, jede Menge Indizien, aber keine Gewissheiten.

Genauso wie in den USA lässt sich auch in Deutschland die Frage stellen: Wer oder was entscheidet die Bundestagswahl? Cicero hätte da ein paar Vorschläge.

1. Facebook

Viele Politiker sind davon überzeugt: Ohne Facebook, Twitter oder Instagram geht gar nichts mehr. Doch die wenigsten setzen die sozialen Medien strategisch ein. Sie posten Bilder vom Besuch an der Basis oder vom Plätzchen-Backen und halten das für Kommunikation mit dem Wähler. Oder sie verbreiten treu Parteiparolen und wundern sich, dass sie in ihrer Filterblase nur ihresgleichen erreichen. Anders die AfD. Sie hat mehr Facebook-Fans als CDU und SPD zusammen und nutzt die sozialen Medien gezielt, um ihre Anhänger mit populistischen Parolen gegen die etablierten Parteien und politischen Eliten zu mobilisieren. Doch sollten die glauben, sie könnten die AfD kopieren, dann täuschen sie sich. Wer mit den Methoden der AfD die AfD schlagen will, der schlägt sich am Ende selbst.

2. Social-Bots

Im Internet sind Computerprogramme, die automatisiert Routinen abarbeiten, längst allgegenwärtig. Sie können nicht nur Anfragen bearbeiten und/oder Werbung verbreiten, sondern auch politische Botschaften verbreiten. Erstmals wurden Social-Bots im amerikanischen Wahlkampf massiv eingesetzt. Die automatischen Botschaften sind von realen kaum zu unterscheiden. Schätzungen gehen davon aus, dass hinter jedem dritten Twitter-Account eine Maschine stecken könnte. Wie groß die Gefahr der Meinungsmanipulation durch computergesteuerte Stimmungsmache aber wirklich ist, darüber streiten Experten. Weil die Technik neu ist, wird sie überschätzt. Die allermeisten Menschen bilden sich ihre Meinung noch immer in der analogen Welt, in ihrer Lebenswirklichkeit, im Gespräch mit Freunden und Arbeitskollegen.

3. Big Data

Die Firma Cambridge Analytica hat wohl ein wenig übertrieben, als sie behauptete, sie habe nicht nur die Präsidentschaftswahl in den USA entscheidend beeinflusst, sondern auch die Brexit-Kampagne in Großbritannien. Aber neu ist der Einsatz von Big Data im US-Wahlkampf nicht. Schon Barack Obama saß bei seiner Wahl 2008 und vor allem bei seiner Wiederwahl 2012 auf einem gewaltigen Datenschatz, den er erfolgreich zur Wählermobilisierung nutzte. Allerdings versperrt der bundesdeutsche Datenschutz den Parteien bisher den Zugriff auf Big Data. Im Verbleich zu den USA mutet der personalisierte Internet-Wahlkampf in Deutschland deshalb eher steinzeitmäßig an.

4. Die Demoskopen

Seit es Wahlumfragen gibt, sehen sich die Demoskopen mit dem Vorwurf konfrontiert, ihre Zahlen würden den Ausgang von Wahlen beeinflussen. Doch keine wissenschaftliche Untersuchung liefert dafür Hinweise und so verweisen die Umfrageinstitute darauf, dass sich der sogenannte Band-Waggon-Effekt, nach dem unentschiedene Wähler eher bereit sind, sich dem mutmaßlichen Wahlsieger anzuschließen, und der Mitleidseffekt gegenseitig aufheben. Allerdings gibt es eine Ausnahme. Bei der Fünf-Prozent-Hürde haben Umfragen vermutlich doch Einfluss auf die Frage, ob Parteien diese überspringen oder nicht. So gingen viele bürgerliche Wähler nach der letzten ZDF-Umfrage davon aus, dass die FDP sicher im Bundestag sei und wählten die CDU. Statt der prognostizierten 5,5 Prozent erzielte die FDP nur 4,8 Prozent. Anders war es ein paar Monate zuvor bei der niedersächsischen Landtagswahl. Dort lag die FDP in den letzten Umfragen vor der Wahl zwischen vier und fünf Prozent. Bei der Wahl selbst kam die Partei dann auf 9,9 Prozent, weil viele schwarz-gelb Wähler den Sturz der FDP unter die Fünf-Prozent-Hürde verhindern wollten.

5. Die Wutdeutschen

Früher waren Protestwähler verpönt, heute wächst ihre Zahl kontinuierlich. Feste Parteibindungen haben sie keine, Hauptsache, die da oben ärgern sich. Lange war die Linkspartei die erste Adresse für Protestwähler, dann waren für kurze Zeit die Piraten angesagt. Auch Grüne und FDP haben schon von Protestwählern profitiert, doch mittlerweile saugt die AfD die Frustrierten fast vollständig auf. Das Potenzial liegt bei bis zu 20 Prozent. Doch das Paradoxe ist, je stärker die AfD wird, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass auch die kommenden vier Jahre eine große Koalition dieses Land regiert und Merkel bleibt.

6. Die Frauen

Tatsächlich gab es zuletzt bei den Bundestagswahlen einen Kandidatinneneffekt. Bei der Bundestagwahl 2013 haben 44 Prozent der Frauen CDU oder CSU gewählt und nur 39 Prozent der Männer. Doch der Vorteil ist nicht so groß, dass er wahlentscheidend werden könnte.

7. Die Rentner

Es gibt zwei Trends, die Deutschland zu einer Rentner-Demokratie machen. Einerseits gibt es immer mehr ältere Wähler, andererseits gehen die Alten viel eifriger zur Wahl als die Jungen. Aufgrund der Demografie ist bald jeder zweite Wähler älter als 60 Jahre. Kein Wunder, dass die Parteien zum Rentenwahlkampf rüsten. 48,4 Prozent der über 60-Jährigen wählten 2013 die Union. Im Konrad-Adenauer-Haus würden die Alarmglocken läuten, sollte die AfD zur neuen Rentner-Partei werden.

8. Donald Trump

Nach dem Wahlsieg von Donald Trump meldeten die Parteien in Deutschland vermehrte Eintritte. Stärkt der Wahlsieg des Populisten anderswo also die etablierten Parteien hierzulande? Oder profitiert davon die AfD, die Trumps Wahlsieg gefeiert hat? Viele Freunde hat der neue amerikanische Präsident in Deutschland nicht. Aber wenn Trump die Welt und die Weltwirtschaft in den kommenden Monaten ins Chaos stürzt, sind auch die Auswirkungen auf Deutschland unkalkulierbar.

9. Wladimir Putin

Ob Russland den amerikanischen Wahlkampf tatsächlich massiv beeinflusst hat, dafür gibt es keine Belege. Aber die gibt es in der Welt der Geheimdienste und ihrer „active measures“ selten. Fakt ist, Putin kann mit Trump besser leben als er mit Clinton hätte leben können. Und: Merkel ist in Europa einer der härtesten Widersacher Putins.

10. Der IS

Seit dem Terroranschlag von Berlin stehen Merkel und die Union unter enormem politischen Druck. Ausgerechnet beim Thema Innere Sicherheit sieht sich die Union in ihrem Markenkern massiv beschädigt. Die Tat hat eklatante Sicherheitsmängel bei der Terrorismusbekämpfung in Deutschland und manchen Irrsinn der Asylpolitik offenbart. Die Wähler machen allen voran die Union dafür verantwortlich. Mit einem Anschlag mitten im Wahlkampf könnte die Stimmung endgültig kippen.

11. Angela Merkel

„Merkel muss weg“, so hallt es durch das Land, vor allem enttäuschte Konservative und Rechtspopulisten machen mit dieser Parole gegen die Kanzlerin mobil. Völlig neue Töne sind dies für Angela Merkel, deren entscheidendes Argument im Wahlkampf 2013 war: „Sie kennen mich.“ Vor vier Jahren setzte Merkel auf Kontinuität und Verlässlichkeit. Nach der Flüchtlingskrise wird dies nicht mehr funktionieren. Die Kanzlerin wird sich neu erfinden müssen, will sie die Wahl gewinnen. Einfach wird das nicht.

12. Horst Seehofer

Wähler mögen keinen innerparteilichen Parteienstreit, vor allem bürgerliche Wähler erwarten von den Unions-Politikern, dass sie zusammenhalten und nicht, dass sie ständig übereinander herfallen. Doch der Riss zwischen CDU und CSU ist kaum noch zu kitten. Vor allem Horst Seehofer scheint nicht bereit, sich dem Merkel-Kurs in der Schwesterpartei unterzuordnen.

13. Die SPD

Auf die SPD war zuletzt Verlass, wenn es darum ging, sich im Wahlkampf selbst ein Bein zu stellen. Ob 2013 der Kandidat Peer Steinbrück nicht zur Partei passte oder die Partei nicht zum Kandidaten, darüber ließe sich trefflich streiten. Nur eines lässt sich über den Kanzlerkandidaten 2017 sicherlich sagen: Er wird nicht über seine Nebeneinkünfte und hoch dotierten Vorträge bei Banken oder Versicherungen stolpern. Eher schon wird Sigmar Gabriel seine mangelnde politische Standfestigkeit zum Verhängnis. Europa-Politiker Martin Schulz soll sich bereits aus dem Rennen um die SPD-Kanzlerkandidatur zurückgezogen haben.

Noch steht nicht fest, wann ein neuer Bundestag gewählt wird, ob am 17. oder am 24. September 2017. Bis dahin wird noch viel spekuliert werden und so populär einfache Antworten derzeit sind, so klar ist doch: Es gibt viele Faktoren, die einen Wahlkampf beeinflussen, dass vermutlich nie ein einzelner wahlentscheidend sein wird. Sicher ist nur eines: Am Ende hat der Wähler das Wort.

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