Europäische Armee - „Eine frustrierende Kleinstaaterei“

Die Bundeswehr gilt als schlecht ausgestattet. Eine europäische Armee ist trotz Verteidigungsunion noch nicht abzusehen. Der Wehrbeauftrage des Deutschen Bundestages Hans-Peter Bartels (SPD) fordert, den Verteidigungshaushalts aufzustocken und mehr militärische Zusammenarbeit in der EU

Bundeswehr-Soldaten beim Nato-Bataillon in Litauen: „Die materielle Ausstattung ist dramatisch“ / picture alliance
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Ulrich Thiele ist Politik-Redakteur bei Business Insider Deutschland. Auf Twitter ist er als @ul_thi zu finden. Threema-ID: 82PEBDW9

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Herr Bartels, das fehlende Personal und die teils marode Ausrüstung der Bundeswehr werden schon lange kritisiert. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen leitete deswegen ein Ende des Schrumpfkurses ein. Was erwarten Sie von der nächsten Bundesregierung für die Bundeswehr?
Die Trendwende muss unbedingt fortgesetzt werden, egal von welcher Regierungskonstellation. Für das, was sie heute können soll, ist die Bundeswehr personell und materiell bei weitem noch nicht ausreichend aufgestellt. Bis 1990 hatte sie nur eine Aufgabe: kollektive Verteidigung mit den Nato-Partnern entlang der innerdeutschen Grenze. Danach gab es nur noch Auslandseinsätze außerhalb des Bündnisgebiets, während die kollektive Verteidigung völlig in den Hintergrund getreten ist. Seit 2014 gibt es nun aber beide Aufgaben parallel. Und das mit der kleinsten Bundeswehr aller Zeiten. Die Bundeswehr hatte mal 500.000 Soldaten, heute sind es 185.000. Um die personellen Lücken zu stopfen, sollen es jetzt bis 2024 insgesamt 198.000 werden.

Und materiell?
Die materielle Ausstattung ist ebenfalls dramatisch knapp. Nach der letzten Bundeswehrreform im Jahr 2011 wurde überproportional viel Material aussortiert. Begründung: Für multinationale Auslandseinsätze mit überschaubaren deutschen Kontingenten brauche man nicht mehr die volle Ausstattung. Ein Gerätesatz stehe im Einsatzland zu Verfügung, das Personal rotiere alle vier Monate, und für die Ausbildung sollten kleine Stückzahlen zu Hause ausreichend sein. Wenn ich heute etwa ein Artilleriebataillon besuche, hat es zum Beispiel nur 5 von den 16 strukturnotwendigen Panzerhaubitzen, und nur 2 von den 8 planmäßigen Raketenwerfern – der Rest ist entweder nicht vorhanden, in der Instandsetzung oder an andere Verbände ausgeliehen. Es gibt keine volle Ausstattung mehr. Die muss jetzt erst wieder hergestellt werden.

Sind sie zuversichtlich, dass die Trendwende fortgesetzt wird? Bei den gescheiterten Sondierungsgesprächen hatten die Verteidigungsausgaben keine große Rolle gespielt.
Dabei ist das ein so zentraler Punkt für jede Bundesregierung! Das bedeutet natürlich eine Einigung auf einen steigenden Verteidigungshaushalt. Die 1,2 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt (BIP), die wir heute ausgeben, werden ganz bestimmt nicht ausreichen.

Die Grünen sind gegen das Ziel der Nato, ab dem Jahr 2024 zwei Prozent des BIP für Rüstung und Militär auszugeben.
Man braucht auch keine zwei Prozent. Niemand plant mit solchen Summen. Alle, die momentan konkrete Verantwortung haben, gehen von realistischen 1,5 Prozent aus. Zwei Prozent – das würde eine viel größere Bundeswehr bedeuten, wenn man ab dem Jahr 2024 über 70 Milliarden Euro für Verteidigung ausgeben wollte. Geplant ist nur das Schließen der Lücken – und dabei geht es auch um viel Geld: Die Erhöhung auf 1,5 Prozent vom BIP würde, Stand heute, im Jahr zehn Milliarden Euro mehr bedeuten. Das sollte man in dieser Wahlperiode bis 2021 schrittweise erreichen und dann verstetigen.

Trotz der noch ungelösten nationalen Probleme ist derzeit das Thema „EU-Armee“ in aller Munde. 23 Staaten der Europäischen Union haben gemeinsame militärische Projekte vereinbart. Wie soll das funktionieren?

Hans-Peter Bartels / picture alliance

EU-Armee ist nicht der richtige Begriff, das klammert zu stark den notwendigen Nato-Bezug aus. Ich rede von einer „europäischen Armee“, andere sagen „Armee der Europäer“. Wir erlebten ja bisher eine frustrierende Kleinstaaterei in den 28 EU-Mitgliedstaaten – 22 davon sind auch in der Nato –, die alle ihre eigene Verteidigungspolitik machen, mit eigenen Institutionen, Ausbildungsinhalten, Organisationsstrukturen, Beschaffungswegen und eigener nationaler Ausrüstung. Das ist nicht effektiv, sondern nur teuer. Allerdings gibt es schon heute Projekte binationaler Zusammenarbeit: deutsch-holländisch, holländisch-belgisch, französisch-deutsch oder deutsch-tschechisch. Das sind Inseln von Kooperation, die in den nächsten Jahren ausgebaut werden müssen – dann aber mit europäischer Steuerung. Das stärkt dann wiederum den europäischen Pfeiler der Nato. Irgendwann brauchen wir auch einen Verteidigungsausschuss des Europäischen Parlaments und in der Kommission einen eigenen Verteidigungskommissar. Aus der Kleinstaaterei muss nach und nach ein funktionsfähiges Ganzes werden.

In Deutschland untersteht die Armee dem Parlament, in anderen Ländern nicht. Wie können solche nationalen Unterschiede überwunden werden?
Die Armee untersteht auch bei uns der Regierung. Sie ist Teil der Exekutive. Das Parlament wird aber immer für die Entscheidungen über den Einsatz der Armee gebraucht. Seit wir die Bundeswehr haben, steht im Grundgesetz, dass der Bundestag mit dem Bundesrat gemeinsam den Verteidigungsfall feststellen muss. Für Auslandseinsätze ist in jedem einzelnen Fall die Zustimmung des Parlaments einzuholen. Andere Nationen haben einen ähnlichen Parlamentsvorbehalt oder bewegen sich darauf zu, auch Frankreich, Großbritannien und sogar die USA. Es geht um stärkere Legitimation. Das ist der Trend der Zeit und wird in Europa kein Hindernis sein. Es gibt natürlich noch 1000 Probleme, die zu lösen sind. Aber das sind gute Probleme, denn es sind Probleme, die Bündnispartner miteinander lösen können. Ein schlechtes Problem wäre, wenn man keine Partner hätte und allein in der Welt stünde.

Was sind denn die größten Probleme?
Großbritanniens Veto-Haltung war, ehrlich gesagt, keine Hilfe, als es um die Verbesserung der europäischen Verteidigungspolitik ging. Und gerade unsere osteuropäischen Partner waren ja zunächst einmal unglaublich froh, als sie nach 1990 nicht mehr fremdbestimmt waren. In Bündnisse einzutreten heißt aber natürlich immer auch, dass man Souveränität auf eine höhere Ebene überträgt. Man entscheidet nicht mehr allein, sondern gemeinsam mit anderen. Das ist unseren östlichen Partnern angesichts der Bedrohungslage aber auch klar: Ihre Souveränität können sie nur dann bewahren, wenn sie sie mit anderen teilen.

Und nun soll ausgerechnet ein gemeinsames Militär die Lösung für die Probleme Europas sein?
Absolut! Die gemeinsame Verteidigung ist ein Integrationsprojekt für Europa. Der Brexit hat sicher noch einmal ein Bewusstsein dafür geschaffen, wie nötig Europa ist. In der Verteidigung können wir eine viel höhere Effektivität organisieren, und der Wille dazu ist heute groß. In allen Staaten der Europäischen Union sagen 75 Prozent der Bürger, sie hätten gerne mehr europäische Zusammenarbeit in der Verteidigung – das sagen sie beim Sozialstaat oder beim Steuersystem zum Beispiel nicht. Und mehr als 50 Prozent sagen sogar, dass sie die Idee einer europäischen Armee für gut halten.

Wie ist das Verhältnis der europäischen Armee zur Nato gedacht? Als Konkurrenz?
Nein, das Projekt ist in keiner Weise gegen die transatlantische Allianz gerichtet. Die Nato bleibt das Bündnis für die kollektive Verteidigung Europas, aber der europäische Pfeiler der Nato sollte stärker sein, als er heute ist. Die vielen Kleinstarmeen nützen da nicht viel. Wir haben 1,5 Millionen Soldaten in Europa – das wäre schon eindrucksvoll, wenn man es gut organisiert. 1,4 Millionen davon sind Nato-Soldaten. Die europäische Armee zu schaffen, ist aber kein Nahziel, sondern eine Generationenaufgabe – erst einmal geht es einfach um mehr Zusammenarbeit und bessere Kooperation.

Hans-Peter Bartels ist seit 1979 Mitglied der SPD. Seit Mai 2015 ist er Wehrbeautragter des Deutschen Bundestages.

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