Eurobonds vor dem Bundesverfassungsgericht - „Man hat versucht, die Öffentlichkeit zu übertölpeln“

Mit einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht hat ein Bürgerbündnis um Bernd Lucke die Ratifizierung des EU-Corona-Hilfspakets durch Deutschland vorerst gestoppt. Der Wirtschaftswissenschaftler erklärt im Interview, warum das Hilfspaket verfassungswidrig ist - und auf welche Weise die EU die Hilfen doch verabschieden könnte.

Bernd Lucke, hier bei einer Vorlesung an der Universität Hamburg im Oktober 2019 / dpa
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Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Am Freitag erließ das Bundesverfassungsgericht einen Hängebeschluss, der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier daran hindert, die von Bundestag und Bundesrat beschlossene Ratifizierung des EU-Corona-Hilfspakets zu unterschreiben. Das Paket umfasst 750 Milliarden Euro, zur Finanzierung will die EU am Kapitalmarkt Schulden aufnehmen. Die Klage eingereicht hat das Bündnis Bürgerwille um den Wirtschaftswissenschaftler Bernd Lucke. Lucke gehört zu den Gründern der AfD, hat die Partei aber bereits 2015 verlassen. Bis 2019 war er Abgeordneter im Europaparlament.

Herr Lucke, die Klage Ihres Bündnisses und der Hängebeschluss des Bundesverfassungsgerichts am Freitag kam in dieser Woche für viele Bürger und auch Politiker überraschend. Wurde dieses Thema von der Bundesregierung bewusst politisch „tiefgehängt“?

Man hat versucht, die Öffentlichkeit zu übertölpeln: Erst am Donnerstag wurde bekanntgegeben, dass der Bundesrat am Freitag das Gesetz beschließ. Dieses Vorgehen legte nahe, dass auch der Bundespräsident noch am Freitag unterzeichnen würde. Wir hatten das aber geahnt und dem Bundesverfassungsgericht bereits am Montag ein Schreiben geschickt, um unsere Verfassungsbeschwerde angekündigt. Wir konnten die Beschwerde nämlich erst erheben, nachdem der Bundesrat dem Gesetz zugestimmt hatte. Da gab es bis zur Unterschrift durch den Bundespräsidenten nur ein kurzes Zeitfenster.

Die deutsche Politik war davon ausgegangen, die Zustimmung zu den Eurobonds einfach durchwinken zu können?

Ich weiß nicht, was die Politiker erwartet haben. Eine Email von mir, aus der hervorging, dass wir diese Klage vorbereiten, kursierte wohl seit einiger Zeit im politischen Berlin. Es kann also nicht ganz überraschend gekommen sein. Die Politik wusste natürlich auch, dass die Sache europa- und verfassungsrechtlich auf sehr wackliger Grundlage steht. Auch wenn Olaf Scholz gestern kaltschnäuzig das Gegenteil behauptet hat. Dies zu sagen ist einfach wahrheitswidrig, wie Ihnen jeder Verfassungsrechtler bestätigen wird. Die Rechtslage ist zumindest strittig.

Weil die Grenze vom Staatenbund zum Bundesstaat Europa überschritten wird?

Das ist eine politisierende Wertung. Es geht darum, dass es dem Wortlaut von Artikel 311 des AEU-Vertrags widerspricht, der besagt, dass die EU die Ausgaben ihres Haushalts vollständig durch Eigenmittel decken muss. Kredite sind aber Fremdmittel.

Das sind Fremdmittel, weil sie am Kapitalmarkt aufgenommen werden?

Ja, weil es geliehenes Geld ist. Also eben nicht Geld, das der EU selbst gehört.

Gab es denn solche Fälle schon früher?

Es ist das erste Mal, dass die EU Haushaltsausgaben mit Verschuldung bestreitet. Was es schon gab, war EU-Verschuldung, die direkt an die EU-Staaten weiterverliehen wurde. Das nennt man back-to-back-lending. Das wird für rechtmäßig erachtet, da es der EU lediglich verboten ist, Haushaltsausgaben durch Fremdmittel zu decken. Weitergereichte Kredite laufen außerhalb des Haushalts.

Wer verbirgt sich denn hinter dem Bündnis „Bürgerwille“, das nun Klage eingereicht hat?

Das ist ein gemeinnütziger Verein, den ich bereits 2012 gegründet habe. Wir haben etwa 20.000 Unterstützer. Speziell der Verfassungsbeschwerde haben sich knapp 2300 Personen angeschlossen. Darunter sind eine ganze Reihe von Professoren, aber auch eine frühere CDU-Finanzministerin.

Warum müssen sich eigentlich Sie und Ihr Bürgerbündnis darum kümmern, wenn wir doch im Bundestag mehrere Oppositionsparteien haben?

Das verstehe ich auch nicht. Ich bin tief enttäuscht darüber, dass die FDP dieser Gemeinschaftshaftung für EU-Schulden im Bundestag zugestimmt hat. Das ist völlig inkompatibel mit jedem marktwirtschaftlichen Denken. Aber Herr Lindner will wohl lieber sehr schlecht votieren als gar nicht regieren. Wir haben die Beschwerde eingereicht, weil der Sachverhalt offenkundig einer rechtlichen Überprüfung bedarf. Wir wissen aus Erfahrung, dass die Politik die europäischen Verträge gerne als Knetmasse betrachtet, die man modellieren kann, wie es einem gerade passt.

Gibt es denn verfassungsrechtliche Bedenken auch in anderen EU-Staaten?

Ich überblicke nicht alle EU-Staaten. Aber in Finnland hat der zuständige Verfassungsauschuss des Parlament gravierende Bedenken erhoben. Die Regierung hat sich dann darüber hinweggesetzt.

Der Bundespräsident darf nun dieses Gesetz bis zu einer endgültigen Entscheidung über den Eilantrag nicht unterschreiben?

Bis über den Antrag auf einstweilige Anordnung entschieden ist, der mit der eigentlichen Verfassungsbeschwerde eingereicht wurde. Das kann ein paar Wochen dauern.

Und was passiert, wenn das Gericht in Ihrem Sinne entscheidet?

Die einstweilige Anordnung würde dem Bundespräsidenten erneut die Unterzeichnung verbieten, diesmal bis das Gericht die eigentliche Verfassungsbeschwerde geprüft hat. Das hindert die EU aber nicht daran, mit dem Corona-Wiederaufbaufonds wie geplant die Mitgliedsstaaten zu unterstützen. Der Europäische Rat muss nur eine andere Finanzierung wählen, nämlich die, die vertraglich vorgesehen ist: Indem ganz normale Staatsanleihen an den Kreditmärkten aufgelegt werden – anstatt der Eurobonds. Dann haftet jeder Staat nur für seine eigenen Staatsanleihen.

Was ist Ihre Prognose?

Wenn dem Antrag auf einstweilige Anordnung stattgegeben wird, was ich für gut möglich halte, folgt vermutlich ein längeres Verfahren. Vielleicht wird es erst nach mehreren Jahren ein Urteil geben. Der Europäische Rat wird das nicht abwarten wollen. Er wird die Sache abkürzen und einfach einen neuen Eigenmittelbeschluss fassen, der beinhaltet, dass der Corona-Hilfsfonds über Mittel finanziert wird, die die Mitgliedsstaaten auf dem Kapitalmarkt aufnehmen. Damit wären die Eurobonds vom Tisch, noch bevor ein Urteil erfolgt.

Weil das Geld dringend nötig ist?

Ja. Es ist richtig und wichtig, dass der Staat in solchen Krisen tief in die Taschen fasst. Auch wenn ich persönlich denke, dass 750 Mrd Euro ein viel zu großer Betrag ist, zu dem es gar nicht genügend sinnvolle, förderfähige Projekte gibt. Aber das scheinen die Politiker besser zu wissen. Für problematisch halte ich es auch, dass es zulässig ist, die Mittel für Zwecke zu verausgaben, die mit Corona nichts zu tun haben, sondern mit der Arbeitslosigkeit im Jahr 2019. Da gab es Corona ja noch gar nicht.

Was ist eigentlich – abgesehen von der rechtlichen Situation – das Problem mit den Eurobonds?

Die EU wird so selbst zum Schuldner. Das aber wirkt desintegrativ: Denn Mitgliedsstaaten, die aus der EU austreten, müssen dann nicht mehr für die Schulden der EU haften. Nehmen wir mal an, wir stehen am Anfang eines großen Verschuldungsprozesses der EU: Jetzt 750 Milliarden, bei der nächsten Krise wieder 750 Milliarden. Ein Land, das sowieso überlegt, aus der EU auszutreten, hätte schnell einen triftigen finanziellen Anreiz, das zu tun. Denn es könnte sich schlagartig aller Verpflichtungen, diese EU-Schulden zu tilgen, entziehen. Natürlich zu Lasten der verbleibenden Mitgliedsstaaten.

Die EU behauptet ja, besonders die südeuropäischen Länder seien gar nicht in der Lage, Staatsanleihen aufzunehmen, weil sie schon so hohe Schulden haben.

Das stimmt nicht. Schauen wir auf Italien, momentan der größte Wackelkandidat: Das Land verkauft zur Zeit zehnjährige Staatsanleihen mit einem Zinssatz von 0,5 Prozent. Es bekommt das Geld geradezu nachgeworfen. Es hat überhaupt keine Schwierigkeiten, sich zu verschulden. In den anderen Mittelmeerstaaten sieht es ähnlich aus.

Im Mai letzten Jahres hat sich das Bundesverfassungsgericht die ausufernde Geldpolitik der Europäischen Zentralbank als verfassungswidrig beurteilt. Das Gericht scheint sich gerne mit europäischen Institutionen anzulegen.

Vorsicht! Zunächst hat das damalige Urteil mit dem aktuellen Fall wenig zu tun. Damals ging es um die Geldpolitik der EZB, heute geht es um die Fiskalpolitik des Rates. Gemeinsam ist beiden Fällen nur, dass das Bundesverfassungsgericht stets bezogen auf das Grundgesetz urteilt: Denn die im Grundgesetz geforderte demokratische Kontrolle darf nicht entkernt werden. Zum Beispiel die Kontrolle über die Fiskalpolitik, also die Steuerbelastung der Bürger und die Ausgaben des Staates. Wenn Deutschland durch Eurobonds für die Ausgaben anderer Staaten haften müsste, wäre das Ausgabeverhalten der demokratischen Kontrolle des Bundestages entzogen, hätte aber erhebliche negative Auswirkungen auf den Bundeshaushalt. Das würde dem Demokratieprinzip des Grundgesetzes widersprechen. In einem solchen Fall muss das Bundesverfassungsgericht einschreiten. Nicht weil es sich gerne mit der EU anlegt, sondern weil das Grundgesetz verletzt wird. Traditionell urteilt das Verfassungsgericht sogar ausdrücklich europafreundlich. Und das tut es auch, wenn es die Identität des Grundgesetzes vor politischen Angriffen schützt. Denn Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind grundlegende europäische Werte.

Ich bedanke mich für das Interview.

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