Ethikrat zu Sonderrechten für Geimpfte - Einen Bock geschossen

Der Deutsche Ethikrat lehnt es ab, dass Geimpfte schrittweise ihre Freiheitsrechte wieder zurückbekommen. Das Gremium argumentiert in seiner Begründung jedoch auf erschreckende Weise an der Sache vorbei – und ignoriert dabei auch noch die Verfassung.

Mitglieder des Ethikrates bei ihrer Pressekonferenz am Donnerstag zum Thema „Sonderregelungen für Geimpfte?“ / dpa
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Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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Er ist das gute Gewissen der Bundesrepublik Deutschland. 26 honorige Persönlichkeiten sollen im „Deutschen Ethikrat“ Öffentlichkeit wie Politik in moralisch schwierigen Fragen parteipolitisch unabhängig beraten. Als der Ethikrat am 4. Februar 2021 vor die Kamera trat, um seine Empfehlungen zu den „besonderen Regeln für Geimpfte“ im Rahmen der Covid-Pandemie vorzustellen, war die Botschaft klar.

Zuvor hatte die Bundesrepublik eine wochenlange, höchst kontrovers geführte Diskussion darüber erlebt, ob man für Geimpfte nicht schrittweise die Einschränkung der Freiheitsrechte wieder zurücknehmen könne – oder gar müsse. Selbst Außenminister Heiko Maas (SPD) beteiligte sich an der Debatte. Dass er in seinem vorherigen Leben auch das Amt eines Justizministers bekleidet hatte, dürfte dabei nicht von Nachteil gewesen sein: „Geimpfte sollten wieder ihre Grundrechte ausüben dürfen“, sagte er in der Bild am Sonntag.

Die zuständige Arbeitsgruppenleiterin des Ethikrates und Rektorin der Evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, Sigrid Graumann, erteilte dieser Forderung auf der Pressekonferenz nun eine Absage. Derzeit gebe es keine ausreichenden Erkenntnisse darüber, ob Geimpfte nicht vielleicht doch noch in hohem Maße ansteckend seien. „Schon deswegen: Derzeit kommt eine individuelle Rücknahme staatlicher Freiheitsbeschränkungen für geimpfte Personen nicht in Betracht“, erteilte sie allen gegenteiligen Hoffnungen eine Absage.

Erkenntnisfortschritt null

Der Erkenntnisfortschritt durch die Arbeit des Ethikrates ist damit genau: null. Denn zuvor hatte kein ernstzunehmender Diskutant eine Rücknahme der Freiheitsbeschränkungen trotz anhaltender Infektiosität gefordert. Die Debatte entzündete sich vielmehr umgekehrt an der Frage, ob ein Grundrechtseingriff auch dann noch statthaft sei, wenn sich herausstellen sollte, dass Geimpfte nicht mehr relevant ansteckend seien. Doch diese eigentlich interessante Frage umschiffte der Ethikrat. Und verwickelte sich dabei in ungeahnte Widersprüche und Schwammigkeiten.

Während nahezu die gesamte Öffentlichkeit das Votum des Ethikrates als eindeutig auffasste – „Ethikrat spricht sich gegen Sonderrechte für Geimpfte aus“ (Der Spiegel) –, steht das so eindeutig gar nicht in seinen Empfehlungen. Vielmehr solle „zum gegenwärtigen Zeitpunkt (…) eine individuelle Rücknahme staatlicher Freiheitsbeschränkungen für geimpfte Personen nicht erfolgen.“ Somit blieb die eigentlich an den Ethikrat gestellte Frage nicht nur völlig unbeantwortet, sondern ein Hintertürchen offen.

Dieses Hintertürchen, das ja vermuten lässt, als gäbe es dort für den Ethikrat noch etwas zu erwägen, wird mit der nächsten Empfehlung allerdings wieder zugeschlagen. Die Freiheitsbeschränkungen sollten nämlich „für alle Bürgerinnen und Bürger schrittweise zurückgenommen werden“. Alles andere würde ein Teil der Bevölkerung als „ungerecht empfinden“. Tatsächlich haben sich jüngst 68 Prozent der Deutschen gemäß einer Umfrage der ARD gegen „Erleichterungen für Geimpfte“ ausgesprochen. Die spannende Frage ist aber eine ganz andere, nämlich: Welche verfassungsrechtliche Relevanz hat das bloße „Empfinden“ eines Teils der Bevölkerung?

Argumentative Fehlanzeige

Mit seinen Empfehlungen zu „besonderen Regeln für Geimpfte“ hat der Deutsche Ethikrat einen Bock geschossen. Festzustellen, dass ein Teil der Bevölkerung beleidigt sein könnte, wenn der andere wieder schrittweise in die Normalität entlassen würde, wäre bestenfalls eine Angelegenheit für den Deutschen Soziologie- oder Psychologierat gewesen, nicht für einen Ethikrat. Ein Ethikrat hat in vorliegendem Fall die Frage zu beantworten, ob es im Rahmen der Covid-Pandemie bessere ethische Argumente für die Gleichbehandlung oder Ungleichbehandlung Ungleicher gibt. Da hierbei der andauernde Entzug oder die schrittweise Rückgewährung verfassungsrechtlich verbürgter Grundrechte zur Debatte steht, ist eine solche Frage ohne Bezugnahme auf das Verfassungsrecht schlicht nicht beantwortbar. Allerdings herrscht in dieser Sache beim Ethikrat argumentative Fehlanzeige.

Dabei hätte man hierdurch vielleicht auf einen gravierenden Selbstwiderspruch aufmerksam werden können. Der Ethikrat lehnt es letztlich ab, Geimpfte und Umgeimpfte unterschiedlich zu behandeln. Dass dabei die mögliche Rückkehr der Geimpften zur Normalität unseres demokratischen Verfassungsstaates als Einführung „besonderer Regeln“ bewertet wurde, ist ein Witz für sich. Viel spannender ist etwas ganz anderes.

Den argumentativen Selbstwiderspruch des Ethikrates in aller Öffentlichkeit zu entwickeln, das übernahm auf genannter Pressekonferenz dessen stellvertretender Vorsitzender und Direktor des Instituts für Notarrecht an der Universität Göttingen, Volker Lipp. In Hospizen und Pflegeheimen nämlich seien die Menschen „Belastungen ausgesetzt, die ganz erheblich über das hinausgehen, was andere Bürgerinnen und Bürger erdulden müssen“. Diese besonderen Beschränkungen müssten daher „schnellstmöglich“ aufgehoben werden. Allerdings beging er zugleich den rhetorischen Fehler, die bisher bestehenden, sehr massiven Kontaktbeschränkungen von Pflegeheimbewohnern zu rechtfertigen. Die seien nämlich nötig gewesen, weil dort „besonders gefährdete Personen“ leben, „die auch besonderes vor Infektionen geschützt werden müssen.“

Ungleichbehandlung geboten

Und da haben wir das Problem: Die Bewohner von Pflegeheimen stehen logisch in demselben Verhältnis zu allen anderen Bürgern wie die Ungeimpften zu den Geimpften. Die sachlich begründete Ungleichbehandlung gibt es somit schon heute. Die einschränkenderen Maßnahmen gegenüber Pflegeheimbewohnern sind dabei ausschließlich durch eine besondere Gefährdungslage rechtfertigbar. Sobald diese durch das Impfen entfällt, entfällt auch jedwede Rechtfertigung für eine Schlechterstellung dieser Personengruppe – und zwar gegenüber den Grundrechten.

Aber genau dasselbe gilt für alle Grundrechtseinschränkungen dieser Tage: Sie sind nur gerechtfertigt, solange eine besondere Gefährdungslage besteht. Sofern nachgewiesen werden kann, dass die Impfungen wirken und auch die Ansteckungsgefahr durch Geimpfte drastisch reduziert wird, ist die Ungleichbehandlung Geimpfter und Ungeimpfter nicht nur ethisch, sondern auch verfassungsrechtlich geboten. Man kann nicht in dem einen Fall das Wegfallen einer Gefährdungslage als Grund für eine schrittweise Rückkehr zur verfassungspraktischen Normalität proklamieren und in dem anderen Fall das Gegenteil tun.

Es gäbe nur einen argumentativen Kniff, den objektiven Widerspruch in der Argumentation des Ethikrates aus der Welt zu schaffen. Man müsste zum Grundsatz der ethisch gebotenen Gleichheit im Schlechten greifen. So ließe sich sowohl die Aufhebung der besonderen Einschränkungen für Risikogruppen rechtfertigen als auch die Fortsetzung der Einschränkungen für Geimpfte. Allerdings kennt unsere Verfassung eine solche kollektivistische Haftungsklausel des Neids nicht. Die Grundrechte sind keine Gruppenrechte, sondern individuelle Abwehrrechte eines jeden Bürgers gegenüber dem Staat.

Verfassungsrechtliche Argumente fehlen

Es wird daher kommen, wie es kommen muss: Die mangelnde Einbeziehung verfassungsrechtlicher Argumente in die Arbeit des Ethikrates wird im Zweifel nachgeholt werden müssen, mit einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht. Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichtes, Hans-Jürgen Papier, hat schon im vergangenen Jahr einen Vorgeschmack auf ein mögliches Urteil gegeben: „Sobald gesichert ist, dass von Geimpften keine Ansteckungsgefahr mehr ausgeht, gibt es verfassungsrechtlich keine Legitimation mehr, die Betroffenen in ihren Grundrechten weiter zu beschränken.“

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