Essay - Das schwarze Loch oder die No-Go-Area des Wahlkampfs

Viele bedeutsame Themen wurden von den Parteien nicht zur Sprache gebracht. Den Deutschen geht es im Schatten ihrer Eliten einfach zu gut – eine Erneuerungsbewegung wie in Frankreich wird es nicht geben

Erschienen in Ausgabe
Die Verteufelung berechtigter Bürgersorgen als rassistisches Gedankengut hat das politische Klima zusätzlich vergiftet / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Peter Schneider ist Schriftsteller und lebt in Berlin. 1991 gründete er mit Freunden die Initiative „Courage gegen Fremdenhass“

So erreichen Sie Peter Schneider:

Anzeige

Es ist hinreichend oft gesagt und beklagt worden, dass es dank Angela Merkels resolutem Ideenklau bei anderen Parteien kaum noch relevante Unterschiede zwischen den sogenannten Volksparteien gibt. Und diese Feststellung wird nicht falsch, indem ich sie hier wiederhole. Man muss den Befund sogar noch schärfer fassen. Dank einer skrupellosen Gärtnerin namens A. M., die noch jedes lebens- beziehungsweise mehrheitsfähige Pflänzchen im Garten der SPD und der Grünen umgetopft und mit dem Label CDU versehen hat, haben wir nur noch eine Volkspartei – die CDU. Tatsächlich wirkt diese Partei am politischen Firmament wie ein schwarzes Loch, in dessen Sog die kleineren Sterne zusehends an Masse verlieren und tendenziell verschwinden. 

Dieser Sog hat aber noch ein anderes Phänomen hervorgebracht, das kaum benannt wird: Ein Standpunkt, der im Verdacht steht, nur noch eine Minderheit zu repräsentieren, verschwindet lautlos aus dem Meinungsspektrum auch der kleineren Parteien. Längst herrscht eine Streit- und Denkblockade über Fragen, die im Wahlkampf unerwünscht sind oder angeblich keine Chance haben, die aber für die Bürger womöglich doch von existenzieller Wichtigkeit sind. 

Ein Beispiel war die Leichthändigkeit, mit der Angela Merkel „die Ehe für alle“ durchgewinkt hat, um dann selber bei der Abstimmung im Bundestag dagegen zu votieren.

Keine Debatte über die Ehe für alle

Denn bei ihrem eigenen Votum handelte es sich ausnahmsweise um eine Position der CDU, die in allen Umfragen unterlag. Gerade deswegen hätte es sich gelohnt, wenn die Kanzlerin das Risiko eingegangen wäre, ihre Bedenken einer Debatte auszusetzen. 

Dabei hätte sie es zweifellos begrüßt, dass mit der „Ehe für alle“ eine lange und schändliche Geschichte der Diskriminierung Homosexueller ihr Ende findet. Gleichzeitig hätte sie den Einwand zur Diskussion gestellt, dass das neue Recht einen naturgegebenen Unterschied zwischen homosexuellen und heterosexuellen Partnern nicht aus der Welt schaffen kann: die Fähigkeit der Letzteren, Kinder zu gebären und sie in einer entsprechenden Familie aufzuziehen. Haben Kinder ein Recht auf einen Vater und eine Mutter? Darüber kann man streiten. 

Sicher ist, dass Kindern in Europa und in anderen Kulturen seit Jahrtausenden ein solches „Recht“ zugebilligt wurde. Zwar ist es immer wieder durch Kriege, Krankheiten, Hungersnöte und andere Schicksalsschläge eingeschränkt oder zunichtegemacht worden. Mütter starben bei der Geburt, Väter verloren als Soldaten ihr Leben oder machten sich mit anderen Frauen davon, Eltern kamen durch Krankheiten, Seuchen und Kriege um und ließen ihre Kinder als Waisen zurück – seit Menschengedenken sind Kinder bei Verwandten, bei wildfremden Personen oder auf der Straße aufgewachsen. Dennoch stellt der Anspruch homosexueller Eltern auf Elternschaft etwas historisch Neues dar. Denn in allen hier aufgezählten Fällen war es ein Schicksalsschlag, der dazu führte, dass ein Kind nur das eine der beiden Geschlechter in häuslicher Nähe erlebte. Das Adoptionsrecht homosexueller Eltern führt eine neue Ansage ein. Zum ersten Mal in der Geschichte fordert eine Gruppe das Recht, das jeweils andere Geschlecht aus der Familie auszuschließen. Sie sagt dem adoptierten Kind: Du wirst es bei uns besser haben als in jeder anderen Umgebung – im Heim, in der Flüchtlingsunterkunft oder bei deinen prügelnden biologischen Eltern. Nur ein Recht, sorry, hast du nicht: beide Geschlechter in deiner Familie kennenzulernen. 

Besser als im Heim

Nur ein Ideologe wird bestreiten, dass ein elternloses Flüchtlingskind aus Syrien bei einem homosexuellen Elternpaar in Deutschland unendlich besser aufgehoben ist als in irgendeinem Heim. Aber dieser Fall stellt eher den unproblematischen, ja, den romantischen Fall der homosexuellen Adoption dar. Offensichtlich empfinden auch homosexuelle Paare den Wunsch nach einem Kind, das die eigenen Gene weiterträgt. Schwule Männer zeugen mithilfe einer Freundin ein Kind, das nach der Geburt im männlichen Haushalt bleibt. Lesben bedienen sich einer käuflichen Samenspende oder eines entsprechenden Freundschaftsdiensts durch einen Bekannten, um ihr Wunschkind auf die Welt zu bringen. Aber dabei wird es wohl nicht bleiben. In den USA und in einigen europäischen Ländern gibt es längst Agenturen, in denen Männer dank einer entsprechenden Liste nach Augen-, Haar- und Hautfarbe und Intelligenzquotient die gewünschte Leihmutter aussuchen können. 

An dieser Stelle trifft sich der Wunsch von homosexuellen Paaren nach einem „eigenen“ Kind mit dem entsprechenden Wunsch von Heterosexuellen, denen die Erfüllung ihres Kinderwunschs auf dem traditionellen Weg der Zeugung versagt bleibt. Die Reproduktionsmediziner lesen ihnen diesen Wunsch von den Augen ab und können vor allem dank der Heterosexuellen auf eine millionenfache Kundschaft hoffen. Sie versprechen, die Abhängigkeit vom anderen Geschlecht bei der Schwangerschaft und schließlich auch bei der Zeugung tendenziell überflüssig zu machen. Hightechlabore bieten sich an, die Dienste von leibhaftigen biologischen Müttern zu übernehmen. Die Pioniere der Zunft haben bereits den „artificial whomb“ entwickelt – eine Art Hightech-Uterus in der Tragetasche, der es jedem Mann erlauben wird, einen Embryo außerhalb eines weiblichen Körpers wachsen zu lassen. Nach dem Prinzip der Parthenogenese soll es in Zukunft Frauen wie Männern sogar möglich sein, sich selber – ohne Hilfe des anderen Geschlechts – einen Embryo zu erzeugen und auszutragen. Der Trend geht dahin, den Anteil des heterosexuellen Zeugungsakts – sozusagen die Schmutzspuren der Natur bei der traditionellen Zeugung – zu minimieren. Der Idealfall ist ein Kind, das nur noch seine sozialen Eltern kennt.

Unschöne Bilder

Haben Merkels Gesinnungsgenossen in der CDU, hat irgendeine Partei auf solche Entwicklungen aufmerksam gemacht? Hat die Frage nach dem Recht von Kindern irgendeinen Sprecher gefunden? Am Ende haben sich alle auf ein Gesetz geeinigt, das unter dem gar nicht weiter diskutierten Label der „Fortschrittlichkeit“ segelt und mit viel Konfetti gefeiert wurde. 

Das zweite Beispiel ist der Umgang mit der Flüchtlingspolitik. Dank ihrer Entscheidung vom 4. September 2015, die in Budapest und Wien gestrandeten Flüchtlinge aufzunehmen, genießt Angela Merkel in der Weltpresse den Ruf, die letzte Verteidigerin westlicher Werte zu sein. Die Zeitschrift Vogue feiert sie auf ihrem neuen Cover als eine jugendlich wirkende Freiheitsgöttin. Leser des Buches von Robin Alexander „Die Getriebenen“ wissen, dass Angela Merkels Entschluss einer sehr viel komplizierteren Dramaturgie gehorchte. Eine Woche nach der Grenzöffnung, als Tag für Tag bis zu 10 000 Menschen die deutsch-österreichische Grenze überquerten, hatte Merkel in einer Telefonkonferenz mit Regierungsmitgliedern vereinbart, die Grenze zu schließen und Flüchtlinge zurückzuweisen. Truppen des Bundesgrenzschutzes und der Bundespolizei waren zur Grenze unterwegs. Die Bundeskanzlerin verlangte jedoch von den Verantwortlichen eine Zusicherung, dass der Beschluss vor den Gerichten bestehen könne und es nicht zu „unschönen Bildern“ kommen werde. Da ihr niemand eine derartige Garantie geben wollte, entschied sie sich dafür, die Grenze für die Flüchtlinge offen zu halten. 

Das Unwort „Obergrenze“

Ich gehöre zu denen, die Angela Merkels Entschluss verteidigen – und ich bin sicher, man tut ihr Unrecht, wenn man ihn auf rein pragmatische Motive reduziert. Selbstverständlich müssen wir angesichts des von Assad mit Putins Hilfe geführten Bombenkriegs gegen die syrische Zivilbevölkerung so viele syrische Kriegsflüchtlinge wie möglich aufnehmen. Dass dann auch Zehntausende von Wirtschaftsflüchtlingen aus afrikanischen und anderen Ländern die Gelegenheit nutzten, unregistriert in die Bundesrepublik zu gelangen, in der Hoffnung, man werde sie am Ende nicht zurückschicken können, war in den Wirren der ersten Tage nicht zu vermeiden. Tatsächlich haben die Deutschen Merkels Alleingang mit einer überwältigenden Welle der Hilfsbereitschaft legitimiert. 

Es bleibt die Frage, warum Angela Merkel nie eine Rede gehalten hat, in der sie ihre Entscheidung als Reaktion auf einen humanitären Ausnahmefall gerechtfertigt und Angaben darüber gemacht hat, wie sie sich die Zukunft ihrer Flüchtlingspolitik vorstellt. Sie hat nie erklärt, warum sie die Schließung der Balkanroute für einen Fehler hält, obwohl sie diesem Fehler eine Reduktion der Flüchtlinge auf ein Viertel verdankt. Dabei liegt es doch auf der Hand, dass auch der krumme Deal mit Erdogan dem Ziel dient, dem am 4. September 2015 gewährten freien Zugang der Flüchtlinge nach Deutschland engste Grenzen zu setzen. Zu fragen bleibt auch, warum sie zur Frage der Grenzen der Belastbarkeit ihres Landes nie Stellung genommen und den Begriff „Obergrenze“ zu einer Art Unwort erkoren hat, das in ihrer Partei niemand mehr in den Mund zu nehmen wagt. Dies zu einer Zeit, da selbst Schweden, das großzügigste Aufnahmeland Europas, seine Grenzen wegen Überlastung geschlossen hat. Übrigens gilt auch in Kanada, dem Pionierstaat in Sachen Flüchtlingsaufnahme – und Integration – eine Obergrenze: Sie liegt bei 1 Prozent der Bevölkerung pro Jahr, mit flexiblen Abweichungen nach oben und unten und ist an ein strenges Auswahlverfahren gekoppelt, bei dem jeder Fall individuell geprüft wird. Zusätzlich sorgt das kanadische Einwanderungsgesetz, das Deutschland immer noch fehlt, für eine klare Trennung zwischen Asyl-und Einwanderungskandidaten. 

Wettlauf um die Krone der Unschuld

Das erstaunlichste Resultat von Merkels Vermeidungstaktik ist jedoch, dass auch Die Linke, die Grünen und die SPD in der Frage nach den Grenzen der Aufnahmefähigkeit einem selbst verhängten Schweigegebot gehorchen. So kam es zu der absurden Situation, dass eines der wichtigsten Themen der Nation der CSU und der AfD überlassen wurde. Wahrscheinlich hat nichts den Zulauf der Wähler zur AfD so begünstigt wie die Tatsache, dass die völlig legitime Frage nach einer realistischen Antwort auf die Flüchtlingsströme und ihrer Integration zu einem Monopol der Parteien am rechten Rand wurde. Die Verteufelung berechtigter Bürgersorgen als rassistisches beziehungsweise rechtsextremes Gedankengut hat das politische Klima zusätzlich vergiftet und zur Polarisierung der Gesellschaft beigetragen. Als Sahra Wagenknecht von der Linken es wagte, Verständnis für diese Sorgen zu bekunden, wurde sie von Anhängern und Mitgliedern ihrer Partei sofort in die rechte Ecke gestellt und zog zurück.

Aber der Wettlauf der Parteien um die Krone der Unschuld und die rituelle Beschwörung der „humanitären Verpflichtungen der Deutschen“ hilft nichts. Merkels Entwicklungsminister Gerd ­Müller hat die Zahlen vorgelegt: Jedes Jahr wächst die Bevölkerung Afrikas um drei Prozent, bis zum Jahr 2050 wird sie sich von heute einer Milliarde auf mehr als zwei Milliarden verdoppelt haben. Falls das Klimaziel einer Reduktion der Erderwärmung um 2 Prozent verfehlt werde, rechnet Müller mit einer Flüchtlingswelle von 100 Millionen, die sich aus Afrika in Richtung Norden auf den Weg machen werden. 

Selbst- und Wählertäuschung

Angesichts solcher Zahlen klingt Merkels tapferer Luther-Spruch „Wir schaffen das!“ wie das Singen im Walde. Die Bürger haben einen Anspruch auf eine strategische Antwort ihrer Regierung. Sie wissen oder ahnen, dass der Flüchtlingsansturm der Jahre 2015/2016 nur ein Vorspiel für eine Völkerwanderung aus den armen Ländern war, der die kommenden Jahrzehnte bestimmen wird. Die gegenwärtige „Entspannung“, auf die fast alle Parteien setzen, um das Thema „Flüchtlinge“ aus dem Wahlkampf herauszuhalten, beruht auf Selbst- und Wählertäuschung. 

Der Ruf nach einem „Marshallplan für Afrika“, die europäischen Pläne für massive Investitionen in die armen Länder Afrikas, die ihren Bewohnern ermöglichen würden, dort zu bleiben, gehen in die richtige Richtung. Leider sind sie keineswegs neu. Und fast alle Experten, die sich seit Jahrzehnten mit ähnlichen Plänen beschäftigt haben, bekunden, dass sie angesichts der Korruption in den fraglichen Ländern und der Halbherzigkeit der Geberländer nahezu nichts erreicht haben. Das wichtigste Nahziel – ein sofortiges Verbot für die europäische Landwirtschaft, ihre Überproduktion zu Dumpingpreisen in Afrika zu verkaufen und damit die afrikanischen Produzenten zu ruinieren – kommt auf keinem EU-Gipfel und in keinem Parteiprogramm zur Sprache. Was immer die Erfolge neuer Hilfsprogramme sein mögen, sie werden bestenfalls in 20 oder 30 Jahren greifen. 

Anschluss an die Kollegen in Italien

Für diese Zwischenzeit sind andere und mutigere Ansagen fällig als Merkels gesinnungsethische Empfehlung, die Balkanroute freizuhalten. Sie und die anderen Parteiführer, die ihr folgen, werden sich der Frage stellen müssen, ob der epochale Exodus aus den armen Ländern der Welt, den die Verfassungsväter nicht voraussehen konnten, mit der Berufung auf die vier großherzigen Worte des Artikels 16 der Verfassung, „Politisch Verfolgte genießen Asyl“, zu bewältigen ist. 

Es gibt noch andere Themen, zu denen in diesem Wahlkampf wenig zu hören ist: das Kartell der Autobauer, die Machenschaften der Deutschen Bank, die noch an jedem Betrug der internationalen Finanzindustrie beteiligt war, oder die Kungeleien der Fifa und des DFB. Die deutschen Eliten haben, so scheint es, inzwischen den Anschluss an die Kollegen in Italien geschafft. Manchmal wünscht man sich einen Empörungssturm wie in Frankreich, der das System der Wähler­ohnmacht hinwegfegen und einem New­comer wie Emmanuel Macron die Macht zum Aufräumen übertragen würde. Aber ich sehe in Deutschland keinen Macron, der den Mut zu einer neuen Ansage aufbringen, und kein Wahlvolk, das ihm folgen würde. Den Deutschen geht es im Schatten ihrer arroganten Eliten viel zu gut. 

 

 Dieser Text stammt aus dem Cicero-Sonderheft zur Bundestagswahl, das Sie unserem Online-Shop erhalten.

 

 

 

 

 

Anzeige