Epidemische Lage von nationaler Tragweite - Sicher ist sicher

Der seit eineinhalb Jahren geltende Corona-Ausnahmezustand könnte Ende November auslaufen. Doch kaum hatte Gesundheitsminister Spahn dies in Aussicht gestellt, rudert der Ermächtigte über Tests und Pflichtimpfungen schon wieder zurück. So wird letztlich wohl entscheidend sein, wie sich der neue Bundestag in der Frage verhalten wird.

Jens Spahn (CDU), Bundesminister für Gesundheit / dpa
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Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Den Deutschen droht dieser Tage das Schlimmste. Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat es bereits am Beginn dieser Woche über einen Ministeriumssprecher durchklingen lassen: Ende November könnte die im März 2020 vom Deutschen Bundestag festgestellte epidemische Lage von nationaler Tragweite auslaufen. So zumindest soll sich Spahn am Montag gegenüber den Gesundheitsministern der Länder geäußert haben.

Die Folgen dieses Vorhabens wären schier verheerend: Das ohnehin fragile Gefüge von Freiheit und Sicherheit könnte sich verschieben und nachhaltig daran Schaden nehmen. Zwar wäre die von Spahn nun angedachte Beendigung des Ausnahmezustands ganz sicher noch kein „Freedom Day“, wie ihn etwa Dänemark oder Großbritannien bereits vor Wochen begangen haben, für uns Deutschen indes wäre sie dennoch ein gar allzu leichtsinniges Spiel mit dem Feuer.

Denn es ist doch hinlänglich und auf dem gesamten Erdenrund bekannt: Spätestens mit der Französischen Revolution haben sich die Völker östlich des Rheins auf eine Art „nationalhabituellen Eigenweg in Freiheitssachen“ verständigt. Auf diese lustige Formel hat zumindest einst der Heidelberger Politikwissenschaftler Hans-Jörg Schmidt unser scheinbar unheilbares neurotisches Leiden an der Freiheit gebracht. International hat sich dieses auch als „German Angst“ in der Fachliteratur eingenistet. Klar, Freiheit ist wichtig, aber seien wir auch ehrlich: Hatte nicht selbst der olle Goethe seinem Tasso einst ein wahrhaft bürgerrechtskritisches Wort mit an die Seite gestellt, wonach der Mensch eben nicht geboren sei, um frei zu sein? Und an Eckermann schrieb Deutschlands größter Bedenkendichter: „Nicht das macht frei, dass wir nicht über uns anerkennen wollen, sondern eben, dass wir etwas verehren, das über uns ist.“

Libertad o Muerte

Und was wäre an diesem Ort da über uns wohl verehrenswerter als der uns warm und sicher haltende Arm einer mit Sonderrechten ausgepolsterten Exekutive? Gäbe es ein Grundrecht auf Sicherheit, wir Deutschen hätten es ganz sicher erfunden. Gerade in Zeiten medizinischer Obdachlosigkeit und empirischer Ungewissheiten lieben wir die fest zupackende Hand des Leviathans. Wir wollen mehr Diktatur wagen, hatte jüngst doch auch ein fast schon vergessener heimischer Schriftsteller gefordert. Denn was hülfe es dem Menschen, wenn er all die ganz sicher gut gemeinten ersten 20 Artikel des Grundgesetzes zurückgewönne, und nähme an seinem Körper Schaden? Nein, Libertad o Muerte ist wahrlich kein Schlachtruf in pandemischen Zeiten – auch und schon gar nicht zwischen Garmisch und Flensburg.

Da ist es also gut, dass die Freiheit nicht sofort wieder an uns zurückfällt. Unsere Abwehrrechte gegenüber dem Staat wollen wir allenfalls sukzessive und hingestottert zurückerhalten. Keiner versteht dieses Stakkato der Zusicherungen übrigens seit Monaten besser als der Mediziner und SPD-Bundestagsabgeordnete Karl Lauterbach : „Wollen wir nicht noch diese drei Wochen durchhalten und dann den vollen Genuss haben?", hatte der schon im Mai 2021 gefragt, als sich wohl längst nur noch die Älteren unter uns an den „vollen Genuss“ ihrer Civitas erinnern wollten. Und nun, wo Jens Spahn die Debatte um die Beendigung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite von alleine losgetreten hat, hält Lauterbach am Prinzip Hoffnungsmacherei fest: „Dinge, die notwendig sind, werden weitergeführt, das ist für mich ganz klar“, orakelte Deutschlands beliebtester Talkshow-Gast gestern gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Denn merke: Nur wo es finster ist, lässt sich am Ende auch Licht und Orientierung predigen!

Freundliche Handreichung

Zu dieser Einsicht scheint mittlerweile auch wieder Jens Spahn selbst zurückgekehrt zu sein. Nach Recherchen der Bild nämlich will der scheidende Gesundheitsminister dieser Tage einen dreiseitigen Brief an die Spitzen der zukünftigen Regierung aus SPD, Grünen und FDP verschickt haben. In diesem, so die Nachforschungen aus dem Hause Springer, gäbe er Hinweise darauf, wie sich die Corona-Maßnahmen auch jenseits der 2020 beschlossenen Ausnahmeregelungen beibehalten ließen.

Die drei zukünftigen Koalitionäre scheinen die freundliche Handreichung aus dem Gesundheitsministerium freudig aufgenommen zu haben – schließlich ist der Briefeschreiber ja nicht irgendwer, sondern laut geändertem Infektionsschutzgesetz der Ermächtigte über Tests, Pflichtimpfungen oder Maßnahmen zur Sicherstellung der Aufrechterhaltung des Gesundheitssystems. Michael Müller etwa, noch Regierender Bürgermeister von Berlin, im eigenen Herzen aber längst der künftige Bauminister im Bund, sagte gegenüber dem rbb, dass er sich in Sachen Notstand eine „Übergangszeit“ wünsche – einen längeren Zeitraum für das Ende des Notstands. Und seine Parteigenossin Daniela Behrens, Gesundheitsministerin in Niedersachsen, besetzte den Horizont der Erwartungen mit folgender Vertröstung: „Wir brauchen über den Herbst, Winter noch ein paar Regeln, bis wir uns ganz davon verabschieden können.

Alles beim Alten?

So wird letztlich wohl entscheidend sein, wie sich der Ende Oktober erstmals zusammenkommende neue Bundestag in der Frage verhalten wird. Nimmt er seine verfassungsgemäße Aufgabe ernst, so wird ihm eigentlich nichts anderes übrig bleiben, als den Ausnahmezustand so schnell wie möglich zu beenden – schließlich ist das Gesundheitssystem hierzulande an keiner Stelle überlastet, und selbst die Parlamente können frei und sicher zusammenkommen, um über die weiteren pandemischen Belange zu entscheiden.

Indes, ein Statement von Bärbel Bas (SPD), derzeit Anwärterin auf das Amt des Bundestagspräsidenten, lässt aufhorchen: Spahn habe, nach Meinung der vielleicht bald schon zweithöchsten Person im Staate, nur „seine persönliche Sicht auf die Dinge geäußert“. Auf ihrer Homepage schreibt die der parlamentarischen Linken zuzuordnende Abgeordnete weiterhin: „Eine Verlängerung der epidemischen Lage bedeutet nicht, dass alle Maßnahmen erlassen werden müssen. Ich hielte es aber für verantwortungslos, in den nächsten Winter zu gehen, ohne diese Maßnahmen erlassen zu können.“ Wie es scheint, wird also auch in der neuen Legislaturperiode alles beim Alten bleiben.

Das mag manch einen unverbesserlichen Rebellen verstören, hat letztlich aber natürlich auch sein Gutes: In dem Land, in dem sich laut einer Allensbach-Umfrage ohnehin nur noch 36 Prozent der Menschen in ihrem Leben frei fühlen, gibt es fortan kaum noch Risiken und Gefahren. Sicher ist eben sicher.

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