En passant - Die Finsternis des Herzens

Auf jeden guten Gedanken kommen hundert schlechte. Und manch einer sagt im Privaten Dinge, die er öffentlich niemals äußern würde. Das ist menschlich. Die Empörungskultur lässt schlechte und dunkle Seiten jedoch nicht mehr zu. Schade, findet unsere Kolumnistin Sophie Dannenberg.

Wer kann sich heute schon noch Schattenseiten leisten? / dpa
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Autoreninfo

Sophie Dannenberg, geboren 1971, ist Schriftstellerin und lebt in Berlin. Ihr Debütroman „Das bleiche Herz der Revolution“ setzt sich kritisch mit den 68ern auseinander. Zuletzt erschien ihr Buch „Teufelsberg“

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Manchmal denke ich an Peter Schlemihl. Es ist schon eine Weile her, dass sich Chamisso jenen unglücklichen Tropf ausdachte, der seinen Schatten verkauft und daraufhin der Cancel Culture des aufkeimenden 19. Jahrhunderts zum Opfer fällt. Die Leute fürchten oder verspotten ihn, er kriegt keinen Boden mehr unter die Füße. 

Diese Figur hat ganze Generationen von Psychoanalytikern und Literaturwissenschaftlern in helle Aufregung versetzt, weil kaum eine andere die Idee, ein Mensch ohne dunkle Wesensanteile sei nicht nur nicht komplett, sondern paradoxerweise unheimlich, so malerisch zum Ausdruck bringt wie Peter Schlemihl. 

Das Aus der schlechten Seiten

Ich erinnere mich an den Psychotherapeuten und Kultbuchautoren Sheldon B. Kopp, der in den Siebzigern freimütig bekannte, dass er, obwohl er sich politisch für die Ausrottung der Sklaverei einsetzen würde, es in der geheimen Finsternis seines Barbarenherzens sehr genießen würde, Sklaven zu besitzen. Die Fantasie, jede Laune an „solch einem unglücklichen Objekt“ auszulassen, würde seine Freiheit, anständig zu bleiben, vergrößern. 

Die Empörung, die ein solcher Gedankengang auslöste, würde er heute publiziert, lässt sich leicht ausmalen. Denn gegenwärtig ist eher jeder, der seinen Schatten noch hat, ein Peter Schlemihl. Die Idee vom Menschen als dichotomem Wesen kommt tatsächlich gerade aus der Mode. Inzwischen versuchen wir, unsere Schatten zu vertreiben, indem wir alles hell ausleuchten. Vielleicht funktioniert das ja, irgendwie, und nur ich habe den Dreh noch nicht raus. Zum Beispiel war ich verblüfft, als sich Springer-Chef Döpfner für eine private SMS öffentlich rechtfertigte. Die SMS war etwas blöde, na und? 

Ich finde, dass wir unsere halbdunklen Räume, in denen wir peinlich, mittelmäßig, unmoralisch sind, nicht aufgeben sollten. Als die Nachlassgedichte der großen Ingeborg Bachmann erschienen, waren alle erschrocken, wie drittklassig sie waren. Natürlich waren sie das, weil jeder gute Einfall von hundert schlechten umringt wird. Die Erfolgreichen wissen am Ende bloß richtig zu sortieren. Nur das ist ihr Geheimnis. Aber wir wollen wohl keine langen, inneren Wege mehr gehen, sondern nur so auftauchen, aus dem Nichts, als hochmoralische Pop-ups, und irgendwann schnell verschwinden, in Siebenmeilenstiefeln, wie am Ende der wundersamen Geschichte Peter Schlemihl.

 

Dieser Text stammt aus der Januar-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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