Die Grünen - Die betäubte Partei

Ob Annalena Baerbocks Auftritt in Prag oder Robert Habecks Irrlichtern angesichts der Energiekrise: An den Grünen scheint alles abzuperlen – von Aufrüstung bis Atomstrom. Das liegt auch daran, dass sie in vielerlei Hinsicht mehr einer religiösen Bewegung ähneln als eine normale Partei zu sein. Ihre Fixierung auf Natur und Klima entschwindet bisweilen ins Esoterische. Was ist da los?

Abschied und Anfang: Annalena Baerbock und Robert Habeck auf dem Grünen-Parteitag / dpa
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Volker Resing leitet das Ressort Berliner Republik bei Cicero. Er ist Spezialist für Kirchenfragen und für die Unionsparteien. Von ihm erschien im Herder-Verlag „Die Kanzlermaschine – Wie die CDU funktioniert“.

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Es ist ein merkwürdiger Begriff, den Robert Habeck benutzt hat: „aseptischer Abschied“. Es war im Januar, gut ein halbes Jahr ist es her. Und doch eine politische Ewigkeit. Zusammen mit seiner damaligen Co-Vorsitzenden Annalena Baerbock stand er damals in der Parteitagshalle ohne Delegierte. Beide waren gerade frisch zu Bundesministern ernannt worden – und gaben nun den Parteivorsitz ab. Eigentlich der Moment des größten Erfolgs, und doch redeten beide fast traurig, zumindest wehmütig vor hellgrün und dunkelgrün gestreifter Wand. Würden sie mehr verlieren, als sie ahnten? Es war so was wie die grüne Inszenierung von Tragik. 

Wo stehen die Grünen jetzt im Herbst nach dem Abschied, der ein Anfang war?

Der „aseptische Abschied“ der erfolgreichen Parteichefs in Richtung Ministerämter hat sich im Nachhinein als viel tiefgreifendere Zäsur erwiesen, als anzunehmen war. Die „Zeitenwende“, die durch den russischen Angriff auf die Ukraine ausgelöst wurde, hat wesentliche Axiome grüner Politik verschoben. Es ist der kalte Abschied von einer vertrauten grünen Welt. Die Klimaziele müssen gerade warten, weil es im Winter in den Wohnungen warm werden soll. Und die feministische Außenpolitik macht Pause, weil der Krieg des Obermachos in Moskau Europa bedroht. 

Die Grünen debattieren nicht mehr

Das hatte im Dezember, als sich die Ampel zusammenfand, noch ganz anders ausgesehen. Damals herrschte links-grün-gelber Zukunftsoptimismus. Und jetzt? „Die Regierung kontinuierlich an den Koalitionsvertrag zu erinnern, ergibt aktuell nur wenig Sinn“, sagt nun ausgerechnet die Grünen-Parteivorsitzende Ricarda Lang. Der einstige Realo-Schreck, ehedem Vorsitzende der linken Grünen Jugend, macht nun auf nüchterne Krisenmanagerin.

Zu den Nachfolgern von Habeck und Baerbock war sie im Januar zusammen mit Omid Nouripour gewählt worden. Beide müssen jetzt Grüne sein in Regierungszeiten, die Ideale hochhalten, während andere sie Stück für Stück schleifen. Ricarda Lang erklärt die Debatte über die Atomkraft kurzerhand für „unernst“, weil sie zu wenig beachtet findet, dass es sich ja um eine „Hochrisikotechnologie“ handle. Es wirkt etwas trotzig, ist aber Strategie. Einen Wiedereinstieg in die Atomenergie werde es nicht geben, einen Weiterbetrieb schon. So einfach ist das. 

Neu im Amt: die Bundesvorsitzende von Bündnis
90/Die Grünen Ricarda Lang / laif

„In diesen Zeiten müssen wir vieles neu denken. Die Rolle der Partei ändert sich dadurch.“ Das klingt so lapidar, aber ist doch gravierend. Aus der Aktivistin ist ein „Machtmensch“, geworden, schreibt der Spiegel über Lang. Nun sagt die einstige frauenpolitische Sprecherin, am Thema Gendern sei sie nicht „übermäßig interessiert“. Was ist los, was ist jetzt noch grün? 

Die einst gerne streitende Partei wirkt derzeit wie betäubt. Der baden-württembergische Verkehrsminister Winfried Hermann verlangt mehr Debatte und Kritik in seiner Partei. Doch Lang lässt ihn auflaufen. Seine Stellungnahme belege ja schon, dass es lebendige Auseinandersetzung gebe. Grünen-Urgestein Christian Ströbele setzt angesichts der Kriegs- und Atompolitik empört einen Tweet ab: „Wann kippt die nächste Säule? Bloß nicht.“ Prominente Unterstützung oder zumindest Reaktion gibt es keine. Nur Satiriker Martin Sonneborn gibt seinen Senf dazu. Es ist im Moment kaum ersichtlich, wo im Herbst Widerstand gegen den kühlen Pragmatismus der führenden Grünen herkommen soll. Selbst die Steuerreform von FDP-Finanzminister Christian Lindner und das Bewahren der Schuldenbremse scheinen längst noch nicht zu innerparteilichem Krieg zu führen.   

Grüne Ideale sind biegsam

Natürlich hat sich der Kern der grünen Ideen nicht verändert. Er wird nur gerade flexibel angepasst oder versteckt. Habeck fördere den Ausbau von Windenergie auf Kosten von strengem Natur- und Artenschutz, meint etwa Grünen-Kreisvorsitzender Rainer Borcherding aus dem Norden Schleswig-Holsteins. Es ist der Wahlkreis von Robert Habeck. Doch es gibt kaum Diskussionen, alle stehen hinter ihrem Minister. Borcherding ist nun zurück getreten.

Die wesentliche Blickrichtung der Grünen war und ist nach innen gerichtet. Deutschland müsse klimaneutral werden, Deutschland müsse die Energiewende meistern, Deutschland müsse friedlicher, demokratischer, diverser werden. Nun kommt der Angriff von außen, und die Ausrichtung deutscher Politik dreht sich hin auf die Verteidigung des Eigenen – nicht nur militärisch. Und die Grünen machen erstmal beherzt mit.

Der Bundestag hat auf Vorschlag von Bundeskanzler Olaf Scholz eine Sonder­investition von 100 Milliarden Euro in die Ausstattung der Bundeswehr beschlossen. Die Grünen haben dies mitgetragen. Zwar waren sie spätestens seit Joschka Fischer und dem Kosovokrieg keine pazifistische Partei mehr, wenngleich im Grundsatzprogramm nach wie vor die Wurzeln in der Friedensbewegung betont werden. Und der Partei ist diese Entscheidung zunächst auch nicht leichtgefallen, gerne hätte man mit dem vielen Geld auch noch etwas anderes, irgendwie Unmilitärisches finanziert, um den Anschein der eigenen Prägekraft zu erhalten. Doch scheiterte das letztlich an der Union, deren Zustimmung hier nötig war. Es war also ein erster Teilabschied von der eigenen Agenda.

Kommunikationskünstler Habeck

Noch gravierender ist das in der Energiepolitik. Wegen der gedrosselten Gaslieferungen aus Russland und den Konsequenzen zerbröselt die Energiewende gerade. Kohlekraftwerke müssen länger laufen, um bei der Stromerzeugung zu helfen. Nun werden Flüssiggas-Terminals gebaut, um andere Wege des Imports von Gas zu bahnen, anstatt fossile Energieträger zu reduzieren. Möglicherweise wird ein grüner Wirtschaftsminister noch einem wie auch immer gearteten Weiterbetrieb der verbliebenen Atomkraftwerke zustimmen. Das wäre so etwas wie eine Kernschmelze grüner Programmatik. 

Doch irgendwie scheint das alles zu gehen. Der erste grüne Außenminister Joschka Fischer hatte sich noch Farbbeutel an den Kopf schmeißen lassen müssen für seine Nato-freundliche Balkanpolitik. Und nun: Die Partei schnurrt.

Bei seiner Abschiedsrede im Januar windet sich Habeck, er ringt um Worte, es ist sein inzwischen schon zum Stil gewordenes Rumdrucksen. Möglicherweise habe er, so fragt er rhetorisch in die Kamera, in den vier Jahren immer nur nach vorne geschaut und bisweilen arrogant gewirkt. Der schwarz gekleidete neue Bundeswirtschaftsminister mimt den selbstkritischen Parteidiener. Vor der Kamera Demutsgesten – es funktioniert.

Historische Momente: Minister Joschka Fischer legt
in Turnschuhen seinen Amtseid ab / dpa

Das sind die Grünen: Sie lieben einen Ex-Vorsitzenden, der sich kleinmacht, um noch größer zu wirken. Das rhetorische Understatement ist inzwischen zu seinem wichtigsten Handwerkszeug geworden. Damit hat er es bis jetzt geschafft, nach dem „Abschied“ im Januar alle grünen Wendungen in der Regierung zu meistern. „Kompromisse sind die Kunst des Politischen“, sagte Habeck damals, um die Anhänger auf Anpassungsfähigkeit in der Regierungszeit einzuschwören. Keiner hätte gedacht, dass diese so weit gehen würde. „Die Kommunikation von Habeck scheint momentan der Goldstandard politischer Kommunikation in Deutschland zu sein. Andere Politiker werden an ihm gemessen“, erklärt der Kommunikationswissenschaftler Olaf Hoffjann von der Uni Bamberg, der seit Jahren die öffentliche Performance der Parteien beobachtet.

Das Geheimnis des grünen Erfolgs

Den Grünen hat die Ampelbeteiligung bisher nicht substanziell oder messbar geschadet. Baerbock und Habeck gelten beide als die besseren Fast-Kanzler, erst recht im Vergleich zum tatsächlichen Amtsinhaber. In Umfragen im Sommer liegen Bündnis 90/Die Grünen fast immer vor der SPD und oft nah an der Union. Nach derart dramatischen ersten Monaten im Amt ist das durchaus verwunderlich.

Bei den zwei zurückliegenden Landtagswahlen gingen die Grünen als Sieger vom Platz, was eher ungewöhnlich ist nach einem Regierungswechsel im Bund. Zudem sind sie ohne viel Aufhebens in Düsseldorf und Kiel schwarz-grüne Bündnisse eingegangen. Auch das ist verblüffend, nachdem doch gerade in Berlin die Ampel als neues Modell etabliert wurde. Flexibilität schadet den Grünen noch nicht, perlt ab wie Wasser auf einem Ginkgoblatt. Pragmatische Selbstverleugnung, kein Problem; nichts scheint der grünen Oberfläche Kratzer zufügen zu können. Was also ist das Geheimnis des grünen Erfolgs?

Es gibt in dieser Regierung Trostpflaster für die dunkelgrüne Seele. Eines heißt Selbstbestimmungsgesetz. Es sieht vor, dass künftig jeder sein Geschlecht im Personenstandsregister ändern kann; ein Besuch beim Standesamt reicht, und das geht alle zwölf Monate. Das bisherige Transsexuellengesetz soll abgelöst werden, weil die dort vorgeschriebenen Gutachten und bürokratischen Hürden von Betroffenen als diskriminierend empfunden wurden. Nachdem im Frühsommer die neue Bundesfamilienministerin Lisa Paus im Haus der Bundespressekonferenz den Vorschlag zusammen mit FDP-Justizminister Marco Buschmann den Medien präsentiert hatte, ging sie umgehend nach draußen an die Spree. Paus eilte geradezu heraus.

Die Anpassung der Grünen

Dort demonstrierten gut ein Dutzend zumeist junge Aktivisten für die Gesetzesänderung. Banner wurden geschwenkt, Sprüche skandiert und die Ministerin jubelnd empfangen. Meist müssen sich Politiker Kritik anhören, wenn sie auf Demonstranten zugehen. Paus wurde gefeiert. Und sie nahm den Zuspruch dankend an, stellte sich nicht nur daneben, sondern mischte sich unter die Leute und schlüpfte fürs Foto selbst in die Rolle der Transparentträgerin. Da waren die Grünen-Politikerin und mehr noch die Grüne Partei ganz bei sich. 

Der Aktivistenmodus ist immer noch die DNA der Grünen. Und für die streng auf Regierungsdisziplin gebürstete Partei braucht es immer wieder Ventile. Dazu müssen dann Diskussionen abgewürgt, Bedenken ignoriert und Übertreibungen ausgekostet werden. Wer Lisa Paus strahlend und lachend bei der kleinen Transdemo gesehen hat, merkt: Die Grünen sind doch immer noch mehr als die habecksche Leidensmiene mit seiner Ambivalenz-Kommunikation – und mehr als Baerbocks emsige Profi-Gute-­Laune. Zwar werden diese Herdfeuermomente der Parteien weniger, aber vielleicht ist eine Transdemo für die Grünen so etwas wie die Bierzeltrede der CSU. 

Grüne Energie: neue Anlage im Windpark Bosbüll / 
laif

Der Soziologe und Autor Heinz Bude meint, grundsätzlich sei das Erfolgsgeheimnis der Grünen „eine verblüffende Lernbereitschaft“. Man hätte den Grünen eigentlich immer unterstellt, dass sie festgelegt sind auf ihre Weltsicht und ihnen Anpassungsfähigkeit fehlt. Dies habe sich nun unter Baerbock und Habeck als falsch erwiesen. Die Konstante sei zwar ein reformerischer Ansatz, die Idee, dass sich die Welt verändern müsse. Doch vollziehe sich bei den Grünen „eine untergründige Abkehr von der Transformationsidee hin zur Idee der Adaption“, sagt Bude im Gespräch mit Cicero. Das sei die folgenreichste Veränderung. In diesen „Aneignungsprozessen“ sei die Überwindung des Alten nicht mehr so zentral, so Bude. Oder mit anderen Worten: Die Revolution kommt smart daher und vollzieht sich im habeckschen Stottern.

Die neue grüne Volkspartei?

Vielleicht liegt der Erfolg der Grünen auch darin, dass sie nie eine echte Partei geworden (zumindest nicht nur), sondern immer auch Bewegung, Projekt geblieben sind. „Die Partei ist kein Selbstzweck“, sagt Habeck, der geradezu so etwas wie eine systemische Parteienphobie hat. Die Grünen ähneln da verblüffenderweise der CDU, die auch das Verbinden von Gegensätzen zur namensgebenden Maxime gemacht hat – „Union“, nicht Partei. Habeck rief die Grünen in seinem ewigen Begriffsfindungs-Eifer zur „Bündnispartei“ aus, wichtiger also als das Interne seien gesellschaftliche Netzwerke und Schnittstellen. Es sei eben erfolgversprechender, widerstreitende Gruppen zusammenzubringen, als ständig und immer zu streiten. Zumindest in der Rhetorik ist den Grünen da schon viel gelungen, denn letztlich wollen von der Industrie- und Handelskammer bis zu Daimler-Benz, von der SPD bis zur CDU alle irgendwie ein bisschen „grün“ sein. Seit Helmut Kohl mit Walter Wallmann einen CDU-Mann zum Umweltminister gemacht hatte, arbeiten sich alle Parteien an diesem Alleinvertretungsanspruch der Grünen ab.

Kommunikationsforscher Hoffjann sieht allerdings den Erfolg der Grünen in einem kongenialen Zusammenspiel von Kommunikationsdesign und Markenkern. PR-technisch gedacht, haben die Grünen mit Klimawandel und Umweltschutz schlicht die Megathemen des 21. Jahrhunderts besetzt. Mehr noch haben die Grünen die Themen so eng mit sich verknüpft, dass bei flüchtiger Betrachtung eine Unterscheidung zwischen Produkt und Marke gewissermaßen gar nicht mehr sichtbar wird. All dies sei in Zeiten des Klimawandels für andere Parteien schon ärgerlich genug, so Hoffjann. Hinzu kommt aber noch, dass die Grünen den Markenkern politischer Konkurrenten gefährden: „Grüne Politik ist seit jeher sozial und zugleich im Sinne der Bewahrung der Schöpfung konservativ, erscheint aber deutlich moderner als die von SPD und Union“, sagt der Wissenschaftler.

Und „grün“ ist eben auch mehr als ein Thema. Inzwischen ist „grün“ zum Lebensgefühl geworden – und zu einer stilprägenden Kraft. Während in den 1980er Jahren noch der Strickpulli und die Schlabberhose plus Jutebeutel das Erscheinungsbild dominierten – und als Protest und Gegenentwurf gesehen wurden –, waren die Turnschuhe, die Fischer bei seiner Vereidigung zum hessischen Minister trug, schon ein in die Zukunft weisendes Zeichen, das Mode-bildende Züge barg. Später trug er als einer der ersten Grünen Anzug mit Weste und verkörperte so die Systemanpassung. Heute ist das großstädtische Szeneleben von grünen Accessoires durchsetzt: von der Biobrause zum Lastenfahrrad, vom Hafermilch-Latte bis zum Unverpackt-Einkauf.

Kann sich aus dieser Dominanz eine Entwicklung hin zur Volkspartei ergeben? Trotz aller Wahlsiege sieht der Meinungsforscher Thomas Petersen vom Institut Allensbach dazu noch eine zu große kulturelle Kluft zu breiten Schichten der Bevölkerung: „Die Grünen sprechen ein gebildetes, wohlsituiertes Großstadtpublikum an und vermögen es bisher noch nicht, signifikant daraus auszubrechen“, so Petersen. 

Klima als neue Religion

Das Potenzial der grünen Bewegung macht Petersen an einer Ähnlichkeit zur CDU fest. Beide Parteien bieten demnach eine Art religiösen Bezugspunkt an, wenn auch in sehr unterschiedlicher Weise – und die CDU immer weniger, während es bei den Grünen weiterhin gut funktioniert. CDU und Grüne könnten als Überbau zu ihrem Programm eine Art Glauben liefern. Mit der wachsenden Entkirchlichung der Gesellschaft schwächt sich die Kraft des Christlichen ab. Bei den Grünen hingegen seien es unbestimmtere, aber doch klar erkennbare religiös anmutende Elemente, die sie bewusst oder unbewusst benutzen, so Petersen. 

Es sind nicht Offenbarung, Transzendenz und Tradition, die das Religiöse in der grünen Agenda markieren, sondern eine Fixierung auf Natur und Klima, die bisweilen aus dem Feld nüchterner Politik ins Esoterische zu entschwinden scheint. Und dies, obwohl es um wissenschaftliche Phänomene geht und die Wissenschaftlichkeit betont wird – aber das findet sich anderswo auch. Kernelemente der grünen „Religion“ sind alte Gassenhauer. 

So wird die Notwendigkeit von Klimaschutz immer wieder auch mit geradezu apokalyptischen Szenarien verknüpft, die nicht als wissenschaftliche Modellrechnungen präsentiert werden, sondern als konkrete und unmittelbare Bedrohungsszenarien irgendwie sinnstiftend, antreibend und auch manipulativ wirken können. Bernd Ulrich etwa, früherer Mitarbeiter einer grünen Bundestagsabgeordneten und jetzt stellvertretender Chefredakteur der Zeit, beherrscht als bekennender Katholik die religiös anmutenden Sprachspiele und Denkfiguren. Kern der religiösen Schubumkehr der Klimakatastrophe ist bei ihm der radikale Blick auf den Einzelnen. 

Die Umwelt-Erbsünde

Der alte linke Grundsatz, wonach alles Private politisch sei, wird von ihm – und er benennt es direkt so – jetzt als in der Klimafrage evident bezeichnet. „Wir zerstören die Natur und setzen eine potenziell katastrophale Entwicklung in Gang durch unser bloßes Alltagsverhalten“, schreibt Ulrich in seinem programmatischen Buch „Alles wird anders“. Die Privatisierung alles Politischen und die Politisierung alles Privaten sind letztlich die große linke und grüne Kulturrevolution, die sich vollzogen hat. Wer heute vom Politischen in Ruhe gelassen werden will, steht unter Verdacht. 

Die globale Erderwärmung, der fossile Raubbau an unseren Lebensgrundlagen, Hunger- und Dürrekatastrophen werden in erster Linie nicht mehr nur als politische Herausforderung betrachtet, sondern als persönlich-individuelle (Teil-)Sünden, als Verfehlungen jedes Einzelnen in einem großen Ganzen, das insgesamt und auch personalisiert umkehren und Abbitte leisten muss. Dies erhebt die politische Programmatik in eine höhere Sphäre, macht sie tatsächlich und gedacht unmittelbarer, existenzieller, berührender. 
Inzwischen ist es gesellschaftlicher Konsens, dass eigentlich jeder vor allem ein (Umwelt-)Sünder ist. Einer nüchternen Betrachtung hält das zwar nur bedingt stand. Und die christliche Theologie hat sich von einer ähnlich niederdrückenden Doktrin weitgehend verabschiedet. Die Klimareligion ist da unversöhnlicher, weil sie sich auf einen erkennbar unbarmherzigen Fakten-Gott stützt. 

Hirtin Ricarda hält ihre Schäfchen beisammen

Die Theologin Ellen Ueberschär, frühere Chefin der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung, hat in einem Interview mit der Herder Korrespondenz einmal erklärt, dass eine „Klimareligion“ nur entstehen könne, wenn andere religiöse Bindungen abnähmen. Den Begriff sehe sie aber kritisch, weil er als „Karikatur“ benutzt werde für Leute, die sich mit ihrer ganzen Kraft für den Klimaschutz einsetzen. „Je mehr aufgeklärten Glauben wir haben, umso weniger Klimareligion gibt es“, so Ueberschär; der Klimawandel brauche einen nüchternen Blick, keine Religion. Und doch scheint der andere Weg verlockend. 

Axel Bojanowski, Wissenschaftsjournalist bei der Welt, warnt denn auch explizit vor einer Klimareligion. „Meine Sorge ist, dass diese ‚Bewegung‘ nur eine große Angst heraufbeschwört. Die paralysiert entweder oder macht aggressiv, wie bei ‚Extinction Rebellion‘, Problemlösung aber passiert nicht.“ Übrigens: Bernd Ulrich hatte früher in seinem Twitter-Profil als Charakterisierung neben „Zeit“ und „Schalker“ das Wort „katholisch“ stehen. Inzwischen ist es ersetzt durch: „vegan“. 

Im ZDF-Sommerinterview versucht die Journalistin Shakuntala Banerjee immer wieder von der Grünen-Vorsitzenden Ricarda Lang zu erfahren, wie denn diese inhaltlichen Abbrucharbeiten am grünen Fundament in der Ampelregierung für die Partei zu ertragen seien. Lang wehrt ab. „Wenn es in der grünen Partei keine Diskussionen mehr gäbe, wäre es nicht mehr die grüne Partei.“ Aber tatsächlich finden die Diskussionen nur noch in homöopathischen Dosen statt. Die Grünen schaffen es wie kaum eine andere Partei, in unterschiedlichen Welten gleichzeitig zu leben. „Wir sind eine geschlossene Partei“, sagt Lang.

 

Dieser Text stammt aus der September-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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