Die 68-er - Ein schönes, böses Märchen

Heute vor 50 Jahren wurde der Wortführer der Studentenbewegung, Rudi Dutschke, Opfer eines Attentats, an dessen Folgen er später verstarb. Die 68er polarisieren bis heute. Wie ist ihr Erbe zu beurteilen? Das fragte sich Sophie Dannenberg in der Titelgeschichte der Cicero-Ausgabe „Der Muff von 50 Jahren“

Erschienen in Ausgabe
Rudi Dutschke am Rednerpult / picture alliance
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Autoreninfo

Sophie Dannenberg, geboren 1971, ist Schriftstellerin und lebt in Berlin. Ihr Debütroman „Das bleiche Herz der Revolution“ setzt sich kritisch mit den 68ern auseinander. Zuletzt erschien ihr Buch „Teufelsberg“

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Ich bin eine gebürtige Linke. Aufgewachsen zwischen Solidaritätskonzerten der DKP und antiautoritärem Kinderladen. Beides, DDR-Kommunismus und antiautoritäre Bewegung, passte allerdings nicht zusammen. Im Rückblick erleben wir die 68er-Studentenrevolte als eine ideologisch einheitliche Bewegung, aber das war sie ganz und gar nicht. Jede Splittergruppe hatte ihre eigene Agenda, und eher kaum hätte sich ein Trotzkist zu den Maoisten, ein Spartakist zu den Spontis oder eine Feministin vom Aktionsrat zur Befreiung der Frauen zum SDS gesellt – es sei denn, um Tomaten aufs männliche Präsidium zu werfen. Aber die Freunde meiner Eltern waren kommunistische Exilchilenen und schleppten sie zu den DKP-Festen, wo es selbst gestrickte Pudel und Empanadas zu kaufen gab, und meine Eltern nahmen deren Tochter dann eben in den Kinderladen mit. Und vielleicht ging es meinen Eltern schon damals, wie vielen anderen, mehr um die Stimmung als um die Theorie. Es war ein Mix aus Aufruhr, Hoffnung, Glück und Wut.

Ohnesorgs Tod als Auslöser zur Politisierung

Der Beginn der 68er-Studentenrevolte wird meist auf 1967 datiert, also auf heute vor 50 Jahren, als während der Anti-Schah-Demo in Berlin der Student Benno Ohnesorg erschossen wurde, eben nicht von einem „faschistischen Bullen“, sondern, wie man heute weiß, vom Stasi-IM Karl-Heinz Kurras. Für viele Studenten war Ohnesorgs Tod aber der Auslöser ihrer Politisierung. Die Radikalisierung der politischen Kräfte hatte indes schon früher begonnen, 1959 mit dem großen Anti-Atomwaffen-Kongress an der Freien Universität. Damals gelang es einer Fraktion der Zeitschrift Konkret, darunter Ulrike Meinhof, den moderaten SPD-Kurs auszuhebeln und den Kongress zu kapern, um am Ende eine prokommunistische Resolution durchzusetzen. Auch wann die Revolte endete, ist nicht klar. Wohl 1980 mit ihrer endgültigen Institutionalisierung durch die Gründung der Grünen. Manchmal wundert es mich, dass wir einen so langen, intensiven Zeitraum mit einer Zahl codieren.

Für mich fing 68 in den frühen Siebzigern an, und wenn ich mich erinnere, dann spüre ich noch, wie jedes Ding damals raunte. Alles stand auf Sturm: In den Kinderbüchern lernten wir, wie man Könige verjagt und ausstopft, auf den Gripstheaterplatten hörten wir, wie man Polizisten, Schuldirektoren oder südamerikanische Diktatoren vernichtet, schon mit fünf Jahren. Überall tanzten Embleme: der RAF-Stern, der „enteignet Springer“-Button, das anarchistische A im Kreis, die Friedenstaube, die Anti-Atomkraft-Sonne. Und natürlich, als Siebdruckschablone, die Gesichter der Helden: Mao, Che und Ho Chi Minh und all die anderen. Alle riefen uns zu: „Tu was! Tu was! Tu was!“ Es roch nach Schweiß und Gauloises, die Leute hatten noch überall Haare, und vieles war damals orange: die Panton-Stühle, die Lampenschirme, die Wählscheibentelefone.

Weil ich so klein war, verstand ich nichts von den Theorien, von Horkheimer, Adorno oder „La Simone“ de Beauvoir, nahm nur die sinnliche Auskleidung wahr. Heute kommt es mir so vor, als wäre in der öffentlichen Wahrnehmung von 68, so ähnlich wie früher für mich als Kind, allein die Aura der Ideen noch präsent, verbunden mit Vorgaben, etwa der, dass man gegen Atomkraft, israelische Siedlungspolitik und US-Militärinterventionen sein muss und für Gender Mainstreaming, Bio und vor allem für die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin. Wer eine andere Meinung hat, findet sich nicht im Audimax wieder, sondern in der Schublade. Von 68 hat sich nicht der Diskurs, sondern das Prinzip seiner emblematischen Verkürzung auf die Gegenwart vererbt.

Textgläubige Studenten

Dabei wurde so viel geredet damals, nächtelang, über die „Bekämpfung des Imperialismus“, „Psychoanalytische Implikationen antiautoritärer Erziehung“, die „Revolutionierung des bürgerlichen Individuums“, den „Warencharakter der Frau“. Unzählige Protokolle, Fernsehmitschnitte und Aufsätze zeugen davon, und wer sie heute hört oder liest, wird sie kaum noch verstehen. Diese Sprache kennen wir nicht mehr. Sie war trocken, abstrakt und apodiktisch, barg keinen Platz für Widerspruch. Theorie und Sprache und Welt, das war eins. Es war nicht möglich zu sagen: Vermutlich lässt sich die Fokustheorie von Che Guevara nicht auf die komplexe westliche Industriegesellschaft übertragen. Oder: Vielleicht führt Marcuses Begriff der „repressiven Toleranz“ in eine diskursive Sackgasse. Solche Überlegungen konnten nicht stattfinden, sie waren schon „reaktionär“, bevor sie gedacht wurden.

Den textgläubigen Studenten war ein sportlicher Umgang mit Theorien, wie er im angelsächsischen Denken typisch ist, völlig fremd. Wenn ich versuche, mich in deren Kindheit hineinzuversetzen, stelle ich mir zuerst das dröhnende Schweigen vor. Ich stelle mir vor, wie das Schlimme bedrohlich greifbar war und zugleich nicht da sein durfte, weil alle nach vorn gucken mussten. Mein Vater wurde Ende April 1945 im Kinderwagen von einem britischen Tiefflieger beschossen, und nach dem Krieg kurvte er mit seinem Roller zwischen den Trümmern herum. Warum die da waren, erklärte ihm keiner. Der Geschichtsunterricht endete mit der Weimarer Republik. Danach kam die große schwarze Lücke. Ich glaube, dass in vielen solcher Kindheiten das Fragen keinen Raum hatte, nur das ängstliche Ahnen. Und vielleicht ist die seltsam blutleere und gleichzeitig fiebernde Sprache der revoltierenden Studenten ein Abbild jener früh erlebten, ausgedörrten Atmosphäre.

Die Erotik des Hassens

Mit ihrer Sprache sind heute auch die Inhalte all der Papers, Pamphlete und Flugblätter verblasst, die damals über die Campusse flatterten und die ihre ganz eigene Ästhetik hatten, mit den verklumpten Buchstaben aus der Schreibmaschine, den eng gedrängten Zeilen und den hysterischen Überschriften: „Sieg im Volkskrieg!“, „Orgasmus für alle!“, „Amis raus aus Vietnam!“, „Studenten, Lahmärsche und Karrieremacher, alle mal aufpassen!“ Die Feinde, also die Herrschenden, die Imperialisten, Kapitalisten und Faschisten, schienen besiegbar, schon morgen. Nicht nur Flower-Power, nicht nur „Love – not War“ verband die Studenten damals, sondern auch die Erotik des Hassens.

Es war ein zutiefst guter, legitimer Hass, nicht zu vergleichen mit dem Dreck anonymer Hater in den sozialen Netzwerken. Es war ein gemeinsamer, Identität generierender Rausch, der uns schlagartig auf die richtige Seite katapultierte. Ich habe den Gefühlssturm selbst erlebt, er kam wie eine Druckwelle, als ich auf den Schultern meines Vaters saß, in einem großen Festzelt, unter dem das Gras schon gelb geworden war.

Auf der Bühne hatte jemand, vielleicht die kommunistische chilenische Folkloregruppe Inti-Illimani, vielleicht auch Hannes Wader, sein letztes Lied beendet. Bei Inti-Illimani war das „Venceremos“, bei Hannes Wader „Die Internationale“. Das Publikum reckte die Fäuste und skandierte im Chor: „Hoch die internatio­nale Solidarität!“, und es war, als würde allein das rhythmische Schreien aus wütenden Kehlen die ganze Welt verändern.

Die Schattenseiten der Revolution

Als ich erwachsen war, wurde mir klar, wie dunkel diese Zeit grundiert war. Ich schrieb einen Roman über Kindesmissbrauch in den Kommunen, zynische Karrieren von 68ern und totalitäre Tendenzen in ihrem Denken. Ich sah das damals, ganz naiv, als Aufklärung: Warum nicht auch endlich die Schattenseiten der Revolution beschreiben? Ist ja zumindest seit Hegel Teil des dialektischen Denkens, dachte ich. Die Reaktionen waren erstaunlich. 

Weniger, dass mein Debüt verrissen wurde, sondern dass es ohne inhaltliche Argumente verrissen wurde. Große Teile des deutschen Feuilletons beschrieben mich als „irre“, „durchgeknallt“ und „umstritten“. Ein Stadtmagazin wählte mich unter „die hundert peinlichsten Berliner“. Ein Journalist machte sich über meinen Mantel und meine Haare lustig, ein anderer entfaltete die Fantasie, die Autorin lasse sich „gern von brutalen Türken misshandeln“. Auf Podiumsdiskussionen wurde ich niedergebrüllt. Während einer Lesung sprang eine einflussreiche Literaturkritikerin auf und rief: „Das Buch ist so schlecht, das lese ich nicht!“

Der Kritiker wird zum ideologischen Feind

Seither überlege ich, warum die Debatte über 68 so schwer zu führen ist, warum die Emotionen auch heute noch so hochkochen und Kritiker als ideologische Feinde wahrgenommen werden. Ich hatte ja immerhin nur getan, was die 68er mich gelehrt hatten: Autoritäten demontiert und Herrschaftsstrukturen entlarvt. Denn natürlich sind die 68er längst zu jenen geworden, vor denen sie uns, als wir Kinder waren, immer leidenschaftlich gewarnt haben, zu den Herrschenden. Wo sonst, wenn nicht an der Spitze der Macht, hätten sie nach dem „langen Marsch durch die Institutionen“ auch ankommen wollen? Revolution ist eine Sache des Moments, das liegt in ihrer Natur. Danach folgt die Verfestigung der durchgekämpften Ideen. Die These des Soziologen Robert Michels, dass die Revolutionäre der Gegenwart die Reaktionäre der Zukunft seien, trifft selbstverständlich auch auf die 68er zu. Wer sein vergangenes Ich nicht gelegentlich peinlich findet, ist nie erwachsen geworden. Aber 68, unser Bild davon, ist wund. Und die Akteure sind es auch. Ein Schriftsteller aus dem Apo-Umfeld warf mir einmal vor, ich würde nicht „liebevoll“ mit den 68ern umgehen. Meine Kritik verletzte ihn. Vermutlich hatte ich nicht den Revolutionär, sondern dessen Archetypus getroffen. Die Wahrheit der Archetypen liegt ja jenseits der historischen Wahrheit, in der Psyche. Manchmal denke ich, dass unsere so verkrampfte Seele die wilden Kerle dringend braucht.

68 erscheint uns so nah. Das liegt nicht nur an den Karrieren der bekannten Protagonisten, die in der Politik gelandet sind wie Ströbele, Schily und Fischer oder im Kulturbetrieb wie Schwarzer, Peymann und Uwe Timm. Die Vergangenheit ist ein großes, warmes Tier, an das wir uns lehnen. Es schläft, aber es ist da, ganz vertraut. 68 war nicht nur eine politische, sondern auch, vielleicht sogar vor allem, eine kulturelle Wende, die als Videostream in uns weiterspielt, immer mit guter Musik. Kaum eine TV-Dokumentation über die Studentenbewegung verzichtet auf ein Riff von Jimi Hendrix, Anti-Vietnam-Demos werden mit den Doors unterlegt, Dutschke mit den Stones. Das zu konsumieren, macht Spaß. Seit 68 ist Politik ein Riff, der Klang einer Meinung. Wir denken nicht mehr, wir fühlen stattdessen das Richtige. Die Akteure von damals sind längst Rockstars, ihre Gesichter haben sich in Poster verwandelt, vor denen wir träumen – wie heiß wir waren oder sein wollen. Und umgekehrt: wie wir nicht sein wollen. 68 wird ja von Konservativen auch als Folie für das Missratene in der Gegenwart genutzt. Aber allen ist klar, dass wir nie mehr so werden. Wo wir jetzt leben, in der virtuellen Welt, erscheint die Erinnerung an den Geruch der Pflastersteine – nach Sand und nassen Pfennigen – als letzter Gruß des Authentischen.

Pseudoaktivität und scheinrevolutionärer Gestus

Wir vergessen dann ja, dass Rockstars die Revolte immer nur spielen. Rockstars zünden keine Kaufhäuser an, sondern Gitarren, sie demontieren keine Diktaturen, sondern Hotelzimmer. War 68 ein Spiel? Adorno, einer der geistigen Väter der Bewegung, hat das schon früh, 1969, so gesehen. Er warf den Studenten „Pseudoaktivität“ vor. „Der scheinrevolutionäre Gestus“, meinte er, sei selbst Produkt der gesellschaftlichen Bedingungen: „Gegen die, welche die Bombe verwalten, sind Barrikaden lächerlich; darum spielt man Barrikaden, und die Gebieter lassen temporär die Spielenden gewähren.“ Das Dogma von der Einheit von Theorie und Praxis nannte er „undialektisch“. Er verwies darauf, dass nicht einmal Marx Anweisungen für die Revolution gegeben habe. Und wurde selbst zum Objekt jener Pseudoaktivität der Studenten. Seine Vorlesung „Einführung in die Dialektik“ im Hörsaal VI der Frankfurter Universität wurde von drei Studentinnen der Basisgruppe Soziologie gestört, die ihn barbusig bedrängten. An der Tafel stand: „Wer nur den lieben Adorno lässt walten, der wird den Kapitalismus ein Leben lang behalten“, und im Saal kreisten Flugblätter: „Adorno als Institution ist tot!“ Adorno schützte sich mit seiner Aktentasche, floh aus dem Saal, sagte Vorlesung und Hauptseminar ab und starb noch im selben Semester am Herzinfarkt.

Die Geschichte der Studentenbewegung ist voller Momente, da Spaß und Gewalt sich umschlangen und das Politische sadistisch wurde. 1967 plante die Kommune 1 ein „Puddingattentat“ auf den US-Vizepräsidenten Hubert Humphrey. Sie wollten ihn „in einem Akt der Lächerlichmachung“ mit Pudding, Joghurt, Mehl bewerfen. Kommunarde Kalle Pawla kotete 1968 bei einer Verhandlung in den Gerichtssaal und wischte sich mit Gerichtsakten ab. In der Berliner FU versuchten Studenten 1971 ihren Professor Alexander Schwan aus dem Fenster zu schmeißen, nachdem sie ihn mit Farbeiern beworfen hatten. Als Schattenspiel des grenzenlosen Schabernacks formierte sich die RAF.

Wie im Spiel

Ich weiß noch, wie ich auf der Post vor dem Fahndungsplakat stand. Die undurchdringlichen, schwarz-weißen Gesichter, die wie aus einem Setzkasten in die Wirklichkeit blickten. Auch die RAF hat gespielt, auf ihre blutige Weise. Die Terroristen gaben sich Decknamen aus „Moby Dick“, so wie Kinder das tun, nachdem sie ein spannendes Buch gelesen haben. Baader robbte bei seiner Fatah-Ausbildung in roten Samthosen durch den jordanischen Wüstensand. Und genauso war es in weiten Kreisen der Linken ein Spiel, sich vorzustellen, Ulrike Meinhof zu verstecken.

Die Aussagen der RAF sind heute unverständlich. Nicht nur, weil wir jene Werte nicht mehr teilen, sondern vor allem, weil die Bezugssysteme sich verändert haben. Was war die „psychologische kriegsführung der bullen“, wer sind die „charaktermasken des imperialismus und ihre marionetten“? Selbst wenn wir uns wie Altertumsforscher in die Kontexte ein­arbeiteten, bliebe offen, warum nichts, kein geistiger Quantensprung, kein Mitgefühl, die paranoid-hermetische Welt der RAF zu durchdringen vermochte, warum Buback, Ponto, Schleyer, Herrhausen und die anderen, deren Namen wir nicht mehr kennen, geschlachtet wurden.

Trotz alledem ist 68 der Gründungsmythos der modernen demokratischen Bundesrepublik, gilt als initiale Abgrenzungsbewegung zum Nationalsozialismus und als Urszene der sexuellen Befreiung. Empirisch ist das nicht belegbar. Der progressive Zeitgeist war, bevor ihn die 68er für sich beanspruchten, schon lange da, seit Marx das Denken über die Außenwelt und Freud über die Innenwelt revolutionierte. Reformbewegungen gab es in der Pädagogik seit Rousseau, in der Ästhetik spätestens seit dem Jugendstil. Erotisch hatte die Geschäftsfrau und ehemalige Luftwaffenpilotin Beate Uhse die sexuell befangenen Deutschen bereits auf Trab gebracht, gefolgt vom Filmemacher Oswalt Kolle. Und der war in der FDP.

Nachhut einer weltweiten Strömung

Die 68er waren die Nachhut und die Nutznießer einer weltweiten kulturgeschichtlichen Strömung, von der wir gar nicht mehr sagen können, welchen konkreten Einfluss sie hatte, weil sie uns von Grund auf geprägt hat. Man kann vermuten, dass 68 auch ohne die 68er stattgefunden hätte, etwas gelassener, aber historisch konsequent. Schließlich haben auch die Auseinandersetzung mit dem Holocaust nicht die deutschen Studenten herbeigeführt. Die Reeducation durch die Alliierten begann unmittelbar nach dem Krieg mit umfassender Medien- und Bildungsarbeit. Und die Deutschen lernten schnell. So etwa löste der überwältigende Dokumentarfilm von Alain Resnais „Nuit et Brouillard“ eine internationale Debatte aus, weil die Bundesregierung den Film in Cannes von der Nominierungsliste streichen lassen wollte. Der Protest gegen diese Initiative der Bundesregierung ging auch von deutschen Intellektuellen aus, bereits 1956. Juristisch war die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen spätestens seit den frühen 1960ern im Gange, als die Israelis Eichmann in Jerusalem vor Gericht stellten, ausführlich kommentiert von Hannah Arendt, und der aus der Emigration zurückgekehrte Staatsanwalt Fritz Bauer die Frankfurter Auschwitz-Prozesse initiierte.

Was die „sexuelle Befreiung“ angeht, betrieb die 68er-Bewegung auch die Ideologisierung und damit Entfremdung der Sexualität. Denn „Befreiung“ war immer politisch definiert. In den antiautoritären Kinderläden führte das zu sexuellen Übergriffen. Es ging nicht nur darum, den Kindern ein unbefangenes Leben zu ermöglichen und sich selbst von den Vorgaben der schwarzen Pädagogik zu emanzipieren. Man glaubte verhindern zu müssen, dass aus den Kindern Faschisten werden. Und weil die kursierenden Theorien, ein Amalgam aus Marx und Reich und Frankfurter Schule, den Faschismus auf Triebunterdrückung zurückführten, glaubte man, Triebunterdrückung aktiv verhindern zu müssen. Der Übergang zwischen der Bejahung der kindlichen Körperlust und sexueller Grenzüberschreitung wurde fließend. Die Protokolle von Cohn-Bendit und namenlosen Kinderladen-Kollektiven, am schlimmsten die Passagen der Kommu­narden Eike Hemmer und Eberhard Schulz, publiziert im Kursbuch 17, lesen sich heute wie pädophile Agitationstexte. Der beiliegende Bilderbogen im Kursbuch inszeniert den Übergriff als Fotogeschichte („Liebesspiele im Kinderzimmer“) und zeigt die Genitalien eines kleinen Mädchens im Close-up. Aber was wir heute als Missbrauch definieren, war auch ein traumatisches Missverständnis. Es war tatsächlich anders gemeint.

Das Ineinanderfallen der Gegensätze

Mir scheint die Verwachsung des Guten mit dem Bösen, ja das Ineinanderfallen der Gegensätze, ein Hauptmerkmal der 68er-Bewegung zu sein. Der schöne Schalk der Kommunen 1 und 2 lässt sich nicht vom Verbrechen an ihren Kindern trennen, die wärmende Solidarität zwischen den Studenten nicht von der grausamen Vernichtung ihrer Feinde und Renegaten, die Abrechnung mit den Altnazis nicht von der eigenen Begeisterung für Massenmörder wie Mao oder Pol Pot. Jeder Kommentar zu 68 treibt uns in eine Falle. Irgendeine Hälfte ist immer falsch. Man kann sich nur entscheiden, mit welcher falschen Hälfte man sich nicht identifiziert.

Aber der Mythos 68 wird sich halten. Wir können ihn nicht mehr verändern, weil wir ihn nicht mehr fassen können. Wir sind so anders geworden. Anders als die 68er leben wir in postdiskursiven Zeiten. Das iPhone revolutioniert die Gegenwart mehr als Marx, Tinder die Sexualität mehr als die Hippiebewegung. Wir sind auf den jeweiligen Moment reduziert, medial und auch intellektuell, tatsächlich zu schnelllebig, um großen Theorien zu folgen, die ganze Generationen belehren, wie noch die Philosophen des 19. Jahrhunderts es taten. Für uns ist jeder Tag eine isolierte Revolution, sie ist zum natürlichen, ausschließlichen Aggregatzustand geworden, den wir nicht bemerken. Während wir heute, kaum staunend, registrieren, wie ein banaler Selfie mit Merkel oder ein Tweet von Trump in das Weltgefüge eingreifen, glaubten die 68er noch an die langfristige Macht der Konzepte. Auch daran, dass der Mensch erziehbar sei. Sie glaubten an die Geschichte und an die handhabbare Veränderung der Geschichte – sie sahen sich als Ingenieure des historischen Prozesses.

Mit 68 verloren wir unsere Leidenschaft

68 war ein letzter, verzweifelter Versuch, sich dem kapitalistischen Verwertungsprozess zu entziehen und auch die kommende Generation davor zu schützen. Wir dagegen geben uns gleichmütig hin, mit jedem Tablet, jedem Smartphone, das uns abzapft. Unsere Welt ist nicht mehr politisch, sondern algorithmisch determiniert. Wir sind Datenfutter des Kapitals, und das macht uns nicht im Geringsten etwas aus, solange wir in Ruhe konsumieren können. So gesehen haben wir mit 68 etwas Wichtiges verloren, das Vertrauen in die eigene Wirklichkeit – auch unsere Leidenschaft.

Nicht, dass die Werte und Vorstellungen von damals sich aufgelöst hätten. Es ist alles noch da: Anti-­Atom, sexuelle Toleranz, Emanzipation, Demokratisierung der Bildung. Aber die akademischen Diskurse sind verblasst. Wir haben mit ihnen das Werkzeug verloren zu prüfen, was davon überhaupt noch sinnvoll ist. Wir denken in Empörungskategorien und wissen nicht mehr, woher die Empörung kommt. Uns fehlt, um mit Marx zu sprechen, der Überbau. 68 war, neben allem anderen, auch der Versuch, die Gegenwart vor dem Hintergrund der Geschichte zu interpretieren und die Frage zu stellen, warum wir so geworden sind – und wie wir wieder anders werden können. Die Antworten sind zu Antiquitäten in einer verflüchtigten Welt geworden, die mit ihnen nur noch konkretistisch umgehen kann: Gendertoiletten, Frauenquote, Ökostrom. Weniger die Inhalte der Politik sind obsolet, sondern ihr gesellschaftlicher Bezug. Darum läuft jede Auseinandersetzung mit den Akteuren von damals erregt ins Leere. Sie sprechen nicht unsere Sprache. Und vielleicht müssen wir ihre Antworten ohnehin vergessen. Aber ihre Fragen sollten wir neu stellen.

Die Vergangenheit ist ein fremdes Land. Wenn ich mit den Eltern über 68 spreche, können sie sich kaum erinnern. Sie sind innerlich weitergezogen, vieles haben sie richtig, einiges gut gemacht. Ich bin die Einzige in meiner Familie, die an diese Zeit zurückdenkt. Es gibt noch ein Foto von mir als Kind, wie ich ein Demonstrationsplakat trage, voller Stolz, weil ich es selbst gemalt habe. Mehr ist nicht geblieben, und immer öfter frage ich mich, ob alles nicht nur ein schönes, böses Märchen war.

 

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