Deutschlands Parteien und die Alterssicherung - Der Renten-Schmu

Die Rentner sind eine bedeutende Wählergruppe, die man nicht verschrecken will. Also bleibt die Rentenfrage vor der Bundestagswahl bei allen Parteien im Ungefähren. Das böse Erwachen droht nach dem 26. September. Ganz gleich, welche Parteien dann in Berlin regieren werden.

Ältere Urlauber sitzen auf einer Bank / dpa
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Autoreninfo

Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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Als im Juni 2021 der wissenschaftliche Beirat des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie ein Gutachten zur Rente vorlegte, krachte es im politischen Karton. Die Wissenschaftler um den Direktor des Max-Planck-Instituts für Sozialrecht und Sozialpolitik, Professor Axel Börsch-Supan, erklärten den Kurs in der deutschen Rentenpolitik für unrealistisch und unehrlich. Das Renteneintrittsalter müsse bis 2040 auf rund 68 Jahre angehoben werden, um die Rente überhaupt finanzierbar zu halten.

Kanzlerkandidat Olaf Scholz (SPD) reagierte prompt. Mit ihm komme eine Anhebung des Renteneintrittsalter nicht in Frage. Die Vorschläge von Börsch-Supan und Kollegen kämen einem „Horrorszenario“ gleich. Eine Anhebung des Renteneintrittsalters sei ja in Wahrheit nichts anderes als eine Rentenkürzung. Stattdessen freue sich Scholz auf künftige Diskussionen mit „echten Experten“.

Brüskieren der Wissenschaftler

Eine derartige Brüskierung eines wissenschaftlichen Beirats ist in Deutschland selten. In diesem Falle gehören ihm Dutzende renommierte Professorinnen und Professoren an, darunter etwa Marcel Fratzscher, Leiter des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), sowie der Volkswirt Carl Christian von Weizsäcker.

Auf die deutsche Politik scheint das geballte Fachwissen indes keinen Eindruck zu machen. Kaum hatte sich Scholz wenige Monate vor der Bundestagswahl abschlägig zu Wort gemeldet, ruderte auch jener Minister zurück, dessen Beirat die entsprechenden Vorschläge unterbreitet hatte, nämlich Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU). In einem Tweet ließ er die Öffentlichkeit wissen, dass selbstverständlich auch er für die Beibehaltung der Rente mit 67 sei. Der Beirat sei zwar „unabhängig“, dessen Vorschläge für den Minister aber eben genau deshalb alles andere als bindend.

Politische Lippenbekenntnisse

Allerdings können diese politischen Lippenbekenntnisse leider gar nichts an der Realität ändern. Das deutsche Rentensystem leidet dabei unter drei unabweisbaren „Problemen“: Erstens rücken aufgrund der niedrigen Geburtenraten der letzten Jahrzehnte immer weniger Erwerbstätige in die Arbeitswelt nach. Zweitens steigt die durchschnittliche Lebenserwartung der Bevölkerung immer weiter an und damit auch die Notwendigkeit für Rentenzahlungen.

Und drittens werden insbesondere in diesem Jahrzehnt die sogenannten Baby-Boomer in die Rente eintreten und somit die Kosten für die gesetzliche Rentenversicherung weiter deutlich erhöhen. Oder anders formuliert: Immer mehr Rentner stehen immer weniger Erwerbstätigen und damit Beitragszahlern gegenüber. Börsch-Supan und Kollegen haben ausgerechnet, was das langfristig unter den derzeit geltenden rechtlichen Regelungen konkret bedeutet.

„Doppelte Haltelinie“ der GroKo

Die Große Koalition hatte sich 2019 auf die „doppelte Haltelinie“ verständigt. Die Renten sollen demnach bis 2025 nicht unter 48 Prozent des durchschnittlichen Einkommens sinken und die Rentenbeiträge der Zahlergeneration nicht über 20 Prozent des Einkommens (einschließlich Arbeitgeberanteil) steigen. Angesichts immer weiter zunehmender Kosten für die Rente konnte die Lösung des Problems folglich nur in der Erhöhung des steuerfinanzierten Anteils der Kosten für die Rentenversicherung bestehen.

Bereits im Jahre 2018 prognostizierte Börsch-Supan für das ifo-Institut, was damit auf den Steuerzahler zukommen würde: Während der Steuerzuschuss zur Absicherung der doppelten Haltelinie im Jahre 2025 bloß rund elf Milliarden Euro betrüge, stiege er allein bis 2030 auf 45 Milliarden Euro und bis 2035 auf sage und schreibe 80 Milliarden Euro an.

60 Prozent des Bundeshaushalts zur Rentenfinanzierung

Nach den neueren Berechnungen müssten bei Fortsetzung der derzeitigen doppelten Haltelinie langfristig rund 60 Prozent des Bundeshaushalts zur Finanzierung der Rente aufgebracht werden. Heute sind es „bloß“ rund ein Viertel. Um die Herausforderung zu schultern, müssten also entweder die Steuern astronomisch steigen oder massive Kürzungsprogramme in anderen Politikbereichen durchgesetzt werden. Oder beides.

Der Beirat um Börsch-Supan plädiert daher schlicht dagegen, die „Illusion von langfristig gesicherten Haltelinien weiter aufrechtzuerhalten“. Stattdessen müsse sich „die Politik umgehend mit möglichen Alternativen auseinandersetzen“.

Ein Verweigern der Realität

Bereits im Jahr 2020 war übrigens eine Kommission der Bundesregierung in freundlicheren Worten zu genau demselben Ergebnis gelangt. Sie empfahl, künftig die Haltelinien für das Rentenniveau zwischen 44 und 49 Prozent festzulegen und das Beitragsniveau zwischen 20 und 24 Prozent. Mit anderen Worten: die „doppelte Haltelinie“ so aufzuweichen, dass sie in Wahrheit gar nicht mehr existiert. Das Problem mit der Realität ist ja auch, dass man sich ihr nicht unendlich lange verweigern kann.

Wirft man einen Blick auf die Wahlprogramme der deutschen Parteien, bleibt die Rentenfrage bei allen aus gutem Grund im Ungefähren. Die Rentner sind schließlich schon heute eine bedeutende Wählergruppe und werden ihren Einfluss allein demografisch bedingt Jahr um Jahr steigern. Vor einer Wahl sollte man sie daher nicht unnötig mit konkreten Vorstellungen verschrecken.

Symbolische Sympathiepunkte

So hält die SPD zwar an einem dauerhaften „Rentenniveau von mindestens 48 Prozent“ fest, aber von einer „doppelten Haltelinie“ ist in ihrem Programm nicht mehr die Rede. Man wird sich daher sowohl auf steigende Steuern als auch Beiträge einstellen dürfen. Allerdings plädiert sie dafür, endlich auch Selbstständige, Beamte und Politiker in die gesetzliche Alterssicherung einzubeziehen. Das bringt zwar symbolisch Sympathiepunkte, hinsichtlich der Finanzierungsfrage der Rentenversicherung allerdings keine Vorteile.

Da für Beamte zugleich das „Gesamtniveau ihrer Alterssicherung nicht reduziert“ werden soll, halten sich damit zusätzliche Ausgaben und Einnahmen letztlich die Waage. An der Finanzierungslücke ändert sich somit nichts. Eigentlich wird sie sogar größer, da Beamte statistisch gesehen eine längere Lebenserwartung haben als der Durchschnitt der Bevölkerung.

Bloß warme Worte

Im Wahlprogramm der Union ist außer warmer Worte in Sachen gesetzlicher Alterssicherung wenig zu finden. Sie weicht damit dem eigentlichen Problem vollständig aus. Aber immerhin: Die vor 20 Jahren eingeführte kapitalgedeckte Alterssicherung, die sich aufgrund der andauernden Niedrigzinsphase letztlich als Rohrkrepierer erwiesen hat, möchte die Union „neu gestalten“.

Es soll ein Konzept entwickelt werden, „eine neue Form der kapitalgedeckten Altersvorsorge zu etablieren“. Wie die aussehen soll, erfährt man in dem Wahlprogramm aber nicht. Offenbar, weil es trotz 16 Jahren Kanzlerschaft noch gar kein Konzept gibt.

Freie Demokraten und Grüne setzen auf private Vorsorge

Ähnlich unkonkret wie CDU und CSU bleibt in Sachen Finanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung auch die AfD. Sie will die „umlagefinanzierte Rente“ zwar stärken, aber leider erfährt man in ihrem Wahlprogramm partout nicht, wie sie dies eigentlich erreichen will.

Ambitionierter sind da schon die FDP und Bündnis 90/Die Grünen. Beide setzen vor allem darauf, die private Vorsorge weiter zu stärken. Während die FDP dafür plädiert, nach schwedischem Vorbild künftig zwei Prozent der Rentenbeiträge in eine „gesetzliche Aktienrente“ einzubringen, wollen die Grünen neben der Absicherung des Rentenniveaus in Höhe von 48 Prozent die Frauenerwerbstätigkeit fördern, wie die SPD Selbstständige und Beamte in eine „Bürger*innenversicherung“ einbeziehen und einen solidarischen, nachhaltigen und öffentlich verwalteten „Bürger*innenfonds für die Rente“ ins Leben rufen. Obwohl sich nach Ansicht der Grünen die kapitalgedeckte Riester-Rente als „völliger Fehlschlag“ herausgestellt hätte, hofft sie trotzdem auf „gute Renditen“ auf dem Kapitalmarkt.

Die Linke lässt die „Bonzen“ zahlen

Allein Die Linke lässt es in Sachen Rente richtig krachen. Ihr genügt das gesetzliche Niveau der Rentenversicherung von heute 48 Prozent natürlich nicht; sie möchte es kurzfristig sogar auf 53 Prozent erhöhen. Außerdem soll das Renteneintrittsalter wieder auf 65 Jahre abgesenkt werden und bei 40 Beitragsjahren sogar auf 60 Jahre. Eine „solidarische Mindestrente“ in Höhe von 1.200 Euro monatlich für alle, deren Rente bisher darunterliegt, ist für Die Linke außerdem eine Selbstverständlichkeit. Wie Grüne und SPD strebt auch sie eine „solidarische Erwerbstätigenversicherung“ an, in die neben Politikern und Beamten auch Selbstständige einzahlen sollen.

Als einzige deutsche Partei hat sie außerdem Mühe, in Sachen Rente dem Kapitalmarkt zu vertrauen. Die Riester-Rente will sie „auf freiwilliger Basis in die gesetzliche Rente“ überführen. Über die Kosten für dieses Wohlfühlprogramm und dessen Finanzierbarkeit schweigt sich Die Linke hingegen weitreichend aus. Wahrscheinlich sollen das am Ende alles die „Bonzen“ zahlen.

„Sagen, was gesagt werden müsste“

Nachdem Olaf Scholz (SPD) einen der renommiertesten Sozialwissenschaftler Deutschlands wegen seiner kritischen Anmerkungen zur deutschen Rentenpolitik öffentlich abgewatscht hatte, blieb dieser dennoch erstaunlich gelassen: „Unsere Aufgabe als Gutachter ist, zu sagen, was gemacht werden muss, und nicht, Wahlen zu gewinnen.“ Keine Partei traue sich in ihrem Wahlprogramm „zu sagen, was gesagt werden müsste“, nämlich dass die Rentenerhöhungen in Zukunft entweder sehr mager ausfallen und das gesetzliche Rentenniveau somit deutlich unter 48 Prozent sinken werde oder Steuern und Beiträge in erheblichem Umfang steigen müssten.

Nach dem 26. September 2021 droht daher der Zahltag in Sachen Rente. Und für einige möglicherweise ein böses Erwachen. Ganz egal, welche Parteien künftig in Berlin regieren werden.

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