Corona-Pandemiepolitik - Die deutsche Bruchlandung

Die Kritik an Deutschlands Strategie in der Corona-Krise wird immer lauter. Ob bei der Schutzkleidung, den Schnelltests oder den Impfstoffen – überall war die Regierung zu zögerlich. Das hat jetzt Konsequenzen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel steht für ihre Pandemiepolitik in der Kritik / dpa
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Autoreninfo

Matthias Soyka ist Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie, für Physikalische und Rehabilitative Medizin und für Spezielle Schmerztherapie. Er lebt in Hamburg. Er betreibt einen YouTube Kanal für „Hilfe zur Selbsthilfe“ und ist Autor des Buches „Dein Rückenretter bist du selbst“ bei Ellert & Richter, Hamburg. Seine Kolumnen erscheinen regelmäßig beim Ärzte-Nachrichtendienst. 

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In den hierarchisch autoritär strukturierten Gesellschaften Asiens soll es ein interessantes Phänomen geben: Das Risiko für einen Flugzeugabsturz steigt, wenn der Kapitän fliegt. Es ist niedriger, wenn der Erste Offizier am Steuer sitzt. So beschreibt es Malcom Gladwell, Autor der Zeitschrift The New Yorker. Er gibt in seinem Bestseller „Überflieger“ auch den Grund dafür an: Der untergebene Offizier wagt es meist nicht, seinen Chef auf Fehler aufmerksam zu machen. 

Dieser Mechanismus zusammen mit der autoritären Staatsform dürfte ein wichtiger Grund dafür sein, dass die Volksrepublik China die Corona-Epidemie anfangs nicht zur Kenntnis nehmen wollte. Die untergeordneten Stellen hatten Angst, die schlechte Nachricht nach oben zu melden. Doch nachdem die Bedrohung erkannt war, reagierte das große China beeindruckend und bekämpfte das Virus mit höchster Effizienz. Die Konsequenz, mit der die Chinesen die Pandemie besiegten, ist nicht allein dem autoritären System geschuldet. Denn auch demokratische Länder in Asien wie Südkorea und Taiwan bewältigen die Epidemie besser als wir Europäer. Warum ist das so? Es hat vielleicht auch etwas mit der kulturellen Wertschätzung von Tüchtigkeit, Vitalität und effektivem Handeln zu tun.

Der deutsche Stotterstart 

In Deutschland standen alle Informationen zur freien Verfügung. Auch hier gibt es Menschen, die wissen, was eine Exponentialfunktion ist – wenn vielleicht auch nicht ganz so viele wie in China. Aber die nötigen Schlüsse zu ziehen, hätte bedeutet auf Karneval und Skiferien zu verzichten. Und das hielten viele vor einem Jahr noch für Panik. Die Chinesen sahen die Epidemie anfangs nicht, weil sie es nicht durften. Die Deutschen sahen sie nicht, weil sie es nicht wollten.

Seitdem vergeigt Deutschland in der Pandemie alle Anfangserfolge, die seinem guten Gesundheitswesen geschuldeten waren. Ob Schutzkleidung, Masken, Schnelltests oder Impfstoffe – überall war die Regierung zu spät und zu zögerlich. 

Charakteristika der deutschen Pandemiebekämpfung

Bürokratie – Alles soll bis ins Kleinste reguliert werden, von Behörden die ihre Ineffizienz nicht nur beim Bau von Flughäfen bewiesen haben und in ihrer überblähten Selbstherrlichkeit ein mattes Abbild der Effektivität darstellen, für das Deutschland früher bewundert wurde. An den Menschen vorbei zu regulieren – natürlich immer nur mit allerbesten Zielen – ohne sich um die Auswirkungen im Alltag zu kümmern, das kennen die Beschäftigten im Gesundheitswesen schon lange. Der kurzzeitig drohende Ruhetag am 1. April ist so etwas wie ein Geschwisterkind der Elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und der Elektronischen Patientenakte, um nur einige Beispiele zu nennen.

Nichts hinkriegen, aber überall reinregieren ist die neue deutsche Behördenrealität. Ein gutes Beispiel dieser Realität ist die Unmöglichkeit, innerhalb eines Jahres die zeitnahe Meldung von Inzidenzen und Todesfällen durch einen Bereitschaftsdienst der Ämter am Wochenende zu organisieren. 

Inkonsequenz – Weil man das Offensichtliche nicht sehen wollte, wurde die Realität verdrängt. Die Politiker blendeten anfangs die Gefahr aus und widmeten sich der Bekämpfung einer Panik, von der weit und breit nichts zu sehen war. Die Corona-Leugner folgen in ihrer schwurbeligen Argumentation nur den Politikern in deren Äußerungen vom Frühjahr 2020. Vielleicht taten sich deshalb viele Politiker schwer, diese wahnhafte Verleugnung der Realität als solche zu benennen. Es ist zudem nicht ganz unpraktisch, wenn man als Politiker vom offensichtlichen Kontrast zu den Wahnhaften profitiert. 

Vielleicht war es einfach nur Pech, dass die Pandemie in den innerparteilichen Wahlkampf um den Vorsitz der großen Regierungspartei fiel. Aber nicht so ganz zufällig fiel einem der Kandidaten ein, sich zu profilieren, indem er schnelle Lockerungen forderte, auch wenn die Grundlagen dafür nicht gegeben waren.

Bereits bei kleinsten Erfolgen feiern und alles wieder zurücknehmen, was die Erfolge bewirkte – das ist eigentlich das Misserfolgsrezept des Hamburger Sportvereins. Zumindest in der Pandemie wurde es aber auch das Erkennungszeichen der deutschen Politik. Weil immer wieder das Notwendige zu spät oder inkonsequent unternommen wurde, gerieten die darauf folgenden, überschießenden Kompensationsmaßnahmen immer monströser und unverständlicher. 

Laschheit – Sie trägt witzigerweise einen Namen. Aber nicht nur der NRW Ministerpräsident muss sich den Vorwurf gefallen lassen, lau und töffelig zu agieren. Dass in Deutschland viel zu wenig geimpft wird, ist das schlimmste Beispiel des politischen Verpennens.

Es gibt viele Ansätze in der Welt, mit Covid 19 fertig zu werden. Viele Länder haben dabei gravierende und größere Fehler gemacht als die Deutschen. Aber sehr viele Staaten - von Neuseeland bis Israel  - zeigten im Krisenmanagement einfach mehr Vitalität und Kraft. 

Selbst das Amerika unter Donald Trump reagierte letztendlich kraftvoll, kümmerte sich rechtzeitig um die nötigen Impfstoffe. Man mag kritisieren, dass der Konkurrenzkampf über den Preis unsolidarisch ist. Aber die Amis traten nicht nur als Käufer, sondern auch als Investoren von Produktionsstätten auf und sorgten so dafür, dass auch insgesamt mehr Impfstoffe produziert wurden. 
In Deutschland hingegen schleppt sich die Impfkampagne müde dahin. Es gibt vermutlich zu wenig CDU-Bundestagsabgeordnete, die sich darum kümmern wollen, vielleicht sind die Provisionen zu niedrig.

Nach einem Jahr Pandemie gibt es immer noch keine bundesweiten Konzepte für Schnelltests und eine effektive Impfkampagne in den Arztpraxen. Von einer adäquaten Bezahlung der Stütze des Gesundheitswesens ganz zu schweigen.

Bürgerferne – Wer alles bürokratisch regulieren will, versäumt es, die Bürger mitzunehmen und sie für die Pandemiebekämpfung zu begeistern. Dass die Kanzlerin eine „Blood, Sweat and Tears“-Rede halten würde, um Begeisterung zu erzeugen, hat niemand von ihr erwartet. Aber das ist ja das Problem. Die Mutti an der Spitze des Beamtenapparates wird es schon richten – das war jahrelang der „common sense“, von dem jetzt deutlich wird, dass er nicht funktioniert.

Eigeninitiative der Bürger ist nicht gewünscht, nicht einmal vorstellbar. Wenn Eltern auf eigene Initiative Luftreiniger für eine Schulklasse kaufen, geht das natürlich nicht – allein schon wegen der sozialen Gerechtigkeit nicht. Man muss schon so wie Lisa Federle gestrickt sein, um gegen solche Widerstände anzukommen.

Drohender Pandemiecrash

Die verzweifelten Kompensationen von Versäumnissen erreichten ihren Höhepunkt mit dem Vorschlag, den 1. April zum zusätzlichen Ruhetag zu machen. Dieses Manöver erschien der Kanzlerin nötig, weil man vorher im Vertrauen auf die Impfungen lockerte, aber dummerweise nicht ausreichend Vakzine bestellt hatte.

Aber wie so oft wurden die praktischen Probleme bei der Umsetzung nicht überlegt. Es geht ja nur um Kleinigkeiten wie die Frage, ob Urlaubstage genommen werden müssen, wie der Einkauf vor den Feiertagen ablaufen würde, ob es Gedränge vor den Geschäften gibt und – ja auch um die Frage, was mit Patienten geschehen soll, für die Behandlungstermine in Praxen oder Kliniken geplant waren.

Der große Vorteil des Westens, dem Chef zu widersprechen zu dürfen, scheint unter Angela Merkel geschwunden zu sein. Sie scharte abhängige Gefolgsleute um sich, von denen Widerworte kaum zu erwarten waren. Das große Flugzeug, das sie steuert, liegt dadurch nicht unbedingt sicherer in der Luft.

Zum Glück ist dieser Jumbojet aber eine gute Konstruktion. Da der letzte Kapitän ihm noch ein paar Extras einbauen ließ, flog es danach gar nicht so schlecht.

Turbulenzen und Krisen

Aber jetzt ist der Flieger erneut klapperig geworden. In der Dienstzeit der amtierenden Kapitänin wurde er immer mehr überladen – mit ebenso modernen wie unwirksamen Apparaten zur Rettung der Welt, Gender-Equalizern, Klimaneutralisatoren und Geldvernichtungsmaschinen. In seinem Rumpf stapeln sich alte Karteischränke und Faxgeräten, die niemand mehr braucht. Trotzdem flog die Maschine irgendwie noch – bis Corona kam. 

Die Kapitänin des großen Flugzeugs – das ahnt man spätestens seit 2015 – hat ihre Stärken vor allem auf Schönwetterflügen und schwächelt in Turbulenzen und Krisen.

Eine typische Panikreaktion 

Das Corona-Unwetter war jedenfalls zu viel für die Kapitänin und ihren Chefsteward. Nach vielen Fehlern war die Idee, den 1. April zum „Ruhetag“ zu machen, eine typische Panikreaktion. Erstaunlicherweise traute sich dann doch einer ihrer Offiziere, sie auf den bevorstehenden Crash hinzuweisen. Durch das Zurückziehen des Vorschlags konnte die Bruchlandung noch knapp vermieden werden. 

Den Passagieren sitzt jetzt natürlich der Schreck im Nacken und sie fragen sich ängstlich, wie der Vogel im zweiten Landeanflug wieder runterkommt. Nur die Kaltblütigeren unter ihnen sehen es optimistisch.  Und vielleicht haben sie ja recht. Mit ein paar Reparaturen, mehr kompetenten Copiloten und einem vitaleren Kapitän könnte die Kiste nach der Landung vielleicht sogar wieder fliegen.

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