Deutschland nach der Wahl - Unregierbar

Die neue Regierung steht noch nicht, da erklärt der erste designierte Minister schon seinen Rückzug. Stabilität sieht anders aus. Haben wir das mit der Demokratie verlernt?

Der Adler stürzt ab: Deutschland ist keine Insel der Stabilität in Europa mehr / Illustrationen: Ben Jones
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Christoph Seils war Ressortleiter der „Berliner Republik“ bei Cicero bis Juni 2019. Im Januar 2011 ist im wjs-Verlag sein Buch Parteiendämmerung oder was kommt nach den Volksparteien erschienen.

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555 Gesetze hat der Bundestag in der vergangenen Legislaturperiode verabschiedet. Seit September kein einziges mehr. Ganze Abteilungen in den Ministerien haben seit Monaten nichts zu tun. Nur Zyniker können das für einen Segen halten. Die Bürokratie verwaltet das Land derweil mehr recht als schlecht. Immerhin Geld ist genügend da, auch wenn der Bundestag den Haushalt 2018 noch nicht verabschiedet hat. Selbst außerplanmäßige Ausgaben sind erlaubt, wenn der Finanzminister „unvorhergesehene und unabweisbare Bedürfnisse“ erkennt. Nach Artikel 111 Grundgesetz dürfte die geschäftsführende Bundesregierung in einer haushaltslosen Zeit sogar neue Schulden machen, ohne das Parlament zu fragen, wenn es gilt, unaufschiebbare Maßnahmen zu finanzieren.

Das wird nicht nötig sein. Die Wirtschaft boomt, die öffentlichen Kassen sind so voll wie nie. Deren Überschuss summierte sich 2017 auf 38,4 Milliarden Euro. Vielleicht lässt sich so die Gelassenheit erklären, mit der die Deutschen bislang ertragen, dass die Parteien es nicht schaffen, das zu tun, was eigentlich ihre demokratische Pflicht wäre: nach der Wahl eine neue Regierung zu bilden. Wenn sie an ihre staatspolitische Verantwortung erinnert werden, zeigen sie stattdessen mit dem Finger auf die politische Konkurrenz: Regier du doch! Die vier Jamaika-Parteien fanden auch in vier Wochen langem Ringen nicht genügend Gemeinsamkeiten. Die SPD hadert mit der Großen Koalition, weil die Wähler die Sozialdemokraten bei der Bundestagswahl für – aus ihrer Sicht – vier Jahre erfolgreiches Regieren an der Seite von Angela Merkel so brutal abgestraft haben.

Lieber Neuwahlen als eine rechte Mehrheit

Doch der eigentliche Grund dafür, warum es in Deutschland so schwierig geworden ist, eine Regierungsmehrheit zu finden, liegt sehr viel tiefer. „Das alltägliche politische Denken der Deutschen unterscheidet sich von dem, wie Öffentlichkeit und Eliten den politischen Denkraum kognitiv vermessen“, sagt der Dresdner Politikwissenschaftler Werner Patzelt. Oder anders formuliert: „Es gibt derzeit unter den Deutschen sowie im Bundestag eine rechte Mehrheit. Doch die politischen Eliten wollen diese Mehrheit nicht in eine regierungstragende Mehrheit umsetzen – und sie könnten das derzeit selbst dann nicht, wenn sie es wollten.“ Lieber flüchten sie sich in Neuwahlen. 

Selbst der Bundespräsident hat es schwer, sich Autorität zu verschaffen. „Wer sich in Wahlen um politische Verantwortung bewirbt, der darf sich nicht drücken, wenn man sie in den Händen hält“, hatte Frank-Walter Steinmeier bereits Ende November gemahnt. Immerhin hat er mit diesem dramatischen Appell erreicht, dass die Parteien nicht der Versuchung erlegen sind, die Wähler unmittelbar nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungen erneut an die Urnen zu bitten. Ostern, so heißt es nun, könnte es eine neue Regierung geben. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Ist Deutschland also unregierbar geworden? Ist die Demokratie in Gefahr, weil der Starrsinn der Eliten und der Egoismus der Parteien den Wählerwillen ad absurdum führen?

Auf der Suche nach Lösungen in der Provinz

Wer eine Antwort auf die Frage sucht, warum das Regieren in Deutschland unter Politikern nicht mehr so populär ist, warum in vier von sieben Bundestagsparteien die Oppositionssehnsucht größer ist als die Lust an der Macht, findet diese vielleicht in Pinneberg, beim Neujahrsempfang der örtlichen Sozialdemokraten. „Für ein modernes Land. Gegen Stillstand“ steht auf den Beitrittserklärungen, die überall auf den Stehtischen im Ratssaal ausliegen. Auf den Gedanken, dass dies unpassend sein könnte, weil die SPD in Deutschland gerade für viel politischen Stillstand sorgt, kommt hier niemand. Groko oder No-Groko? Das ist an diesem Abend auch in Pinneberg die Frage.

„Wir haben einen Regierungsauftrag, und den müssen wir erfüllen“, sagt ein älterer Sozialdemokrat und nippt an seinem Sektglas. „Nur weil Angie Jamaika nicht gebacken kriegt, zeichnet jetzt die CDU das Bild, es wäre unsere Pflicht, bei der Regierungsbildung mitzuhelfen“, antwortet ihm ein etwas jüngerer Genosse. Dass die AfD die Opposition anführe, das wolle er nicht hinnehmen. Die SPD stehe für „demokratischen Sozialismus“, weshalb er nicht „mit den Nasen von der CDU“ regieren will. Während Union und SPD in Berlin hinter verschlossenen Türen über eine mögliche Neuauflage der Großen Koalition sondieren, scheiden sich bei den 140 Pinneberger Genossen an dieser Frage die Geister. Wie tief die Verunsicherung der Sozialdemokraten sitzt und wie groß die Angst davor, keine Volkspartei mehr zu sein, ist vor allem bei den Worten des Kreisvorsitzenden Thomas Hölck zu spüren: „Die SPD muss eine linke Volkspartei sein!“ Hölck sagt „muss“, nicht „will“. Da schwingen schon in der Wortwahl der Trotz und auch die Ratlosigkeit mit. 

Volkspartei? Das war einmal

Volkspartei zu sein, das war der ganze Stolz der deutschen Sozialdemokraten, seit sie sich 1959 auf dem legendären Godesberger Parteitag vom Marxismus abwandten, ihren Frieden mit der sozialen Marktwirtschaft und der Westbindung der alten Bundesrepublik schlossen und den Anspruch formulierten, nicht länger nur der Arbeiterklasse zu dienen, sondern auf neue Wählerschichten zuzugehen und das Land zu regieren. Ein Jahr später wurde Willy Brandt Parteivorsitzender, zehn Jahre später Bundeskanzler. Fünf Jahrzehnte lang agierte die SPD nach Godesberg auf Augenhöhe mit der Union. Vorbei. Bei der Bundestagswahl 2017 ist sie auf 20,5 Prozent abgestürzt – so wenig wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. 

Volkspartei? Das war einmal, der Anspruch auf das Kanzleramt wirkt zunehmend lächerlich. Es gibt noch zwei Zahlen, die die Dramatik des Niedergangs der Sozialdemokraten markieren. Bei der Bundestagswahl 1998 wählten 20 181 269 Deutsche die SPD und machten so Gerhard Schröder zum Bundeskanzler. 2017 waren es noch 9 538 367. Und fragt man, wo die rund 10,6 Millionen Wähler der SPD geblieben sind, dann bleibt die Antwort vage: überall. Nur, dass es der Union nicht viel besser geht: Sie hat allein gegenüber der Wahl 2013 insgesamt rund drei Millionen Wähler abgegeben und dazu mit der AfD nun auch politische Konkurrenz im eigenen Lager bekommen. 

Heimlich reiben sich deswegen manche Sozialdemokraten die Hände. Die Schadenfreunde darüber, dass die Union sich jetzt mit ähnlichen Problemen herumschlagen muss wie die SPD seit 1990, ist groß. Immerhin hat das rot-rote Tabu verhindert, dass 2009 oder 2013 aus der linken Mehrheit im Parlament auch eine rot-rot-grüne Regierungsmehrheit werden konnte. Doch diese Schadenfreude entlarvt nicht nur die Bigotterie der SPD beim Kampf gegen die AfD; sie führt auch dazu, dass jenseits einer Koalition von CDU, CSU und SPD keine Regierungsbildung mehr möglich ist. Zumindest nicht in der aktuellen Gefechtslage. Auf Dauer verträgt es die Demokratie aber nicht, wenn nur eine Koalition der beiden größten Parlamentsfraktionen das einzige mögliche Regierungsbündnis bleibt. Für die AfD ist die Große Koalition wiederum eine Lebensversicherung. Insofern sei es auch für die CDU „irrational“, sich in eine Große Koalition zu begeben, sagt der Politikwissenschaftler Werner Patzelt: „Weil sie in einer solchen Koalition jene Repräsentationslücke rechts von ihr gerade nicht selbst erneut besetzen kann, in der sich inzwischen die AfD eingenistet hat.“ Für die CSU gilt das erst recht. Etwa eine Million Wähler hat die Union allein an die AfD verloren. 

Die wachsende Wichtigkeit der Wechselwähler

Vor allem die Wechselwähler sind zum Parteienschreck geworden, zum Albtraum nicht nur der SPD. Flüchtig sind sie, immer unzufrieden und leicht erregbar. Es gab Zeiten, da hielten Politiker die Wechselwähler für „politischen Flugsand“, mit denen kein demokratischer Staat zu machen sei. In der Wissenschaft wurde die Frage diskutiert: „Gefährden Wechselwähler die Demokratie?“

Längst jedoch entscheiden die Wechselwähler über Wohl und Wehe der Parteien, über deren Existenz, wie 2013 die FDP bitter erfahren musste. Vor allem aber entscheiden die Wechselwähler über den Ausgang von Wahlen. Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik haben mehr Wähler ihre Parteienpräferenz geändert wie zwischen 2013 und 2017, noch nie hat es so dramatische Verschiebungen in der Wählergunst gegeben. Womöglich hat sich das Land längst von einer Volksparteiendemokratie in eine Wechselwählerdemokratie verwandelt – in eine Demokratie, in der kurzfristige Stimmungen wichtiger sind als langfristige Überzeugungen. 

Gleichzeitig hat sich das Parteienangebot im selben Zeitraum verdoppelt. Die Wähler nutzen das breitere Angebot – und sie reagieren, wenn sich das „Produkt“ verändert. Das musste die SPD erfahren, als viele Wähler in Reaktion auf die Agenda 2010 zur Linken wechselten. Die AfD wiederum verdankt ihren Erfolg dem Mitte-links-Drall der Unionsparteien. Und die FDP flog 2013 auch deshalb aus dem Bundestag, weil sie die von ihren Wählern bestellten Steuersenkungen nicht lieferte. Protest zu wählen, ist längst nicht mehr verpönt, und weil zwei Parteien am linken und rechten Rand des Parteiensystems den Protest zu ihrem Markenkern erkoren haben, geraten die übrigen Parteien zusätzlich unter Legitimitätsdruck. 

Jeder Wahlkampf ein Existenzkampf

Die Wählermobilisierung wird für Politiker so zum Glücksspiel, jeder Wahlkampf für die Parteien zum Existenzkampf. Kein Wunder, dass sie allesamt völlig verunsichert sind, selbst die Machtmaschine CDU. Hinzu kommt, dass die Parteien ausgelaugt wirken, ideenlos. „Es gibt keine inhaltlichen Projekte mehr, die die Parteien zusammenbringen“, so Hermann Binkert, Chef des Meinungsforschungsinstituts Insa, „es existiert schlicht kein Projekt mehr, für das richtig gekämpft wird.“ Die inhaltliche Beliebigkeit sei groß. „Außerdem erleben wir derzeit die Endphase der Kanzlerschaft von Angela Merkel, und da will sich niemand mit in den Abgrund ziehen lassen.“ So stellen die Parteien das eigene Interesse über das gesellschaftliche. Das Überleben der eigenen Organisation ist für sie letztendlich wichtiger, als politische Verantwortung zu übernehmen. Immerhin hängen davon nicht nur politische Karrieren ab, sondern auch Tausende von Arbeitsplätzen in den Parteiorganisationen, in Fraktionen und in Ministerien. Ganze Lebensentwürfe sind in Gefahr.

Diese Entwicklung hat viele Gründe: Individualisierung der Gesellschaft, sozialer Wandel, die Fragmentierung von Interessen, die Auflösung der klassischen Milieus und der Bedeutungsverlust von gesellschaftlichen Großorganisationen wie Kirchen oder Gewerkschaften. Mit dem Zerfall traditioneller gesellschaftlicher Bindungen verloren die Parteien ihre Orientierung. Nicht mehr große politische Entwürfe waren gefragt, sondern das kleinteilige Bedienen von Klientelinteressen. Die Große Koalition hat das vier Jahre demonstriert. Die Desorientierung der Parteien wiederum verstärkte die Desintegration der Gesellschaft. 

Die Volksparteien der alten Bundesrepublik waren in der Lage, gesellschaftliche Konflikte aufzunehmen und innerparteilich jene politischen Kompromisse vorzudenken, mit denen sich gesellschaftliche Spaltungen überbrücken ließen. Mit dem Anwachsen der Klientelpolitik ging diese Fähigkeit verloren. Die SPD etwa war immer dann stark, wenn sie auch profilierte Wirtschafts- und Innenpolitiker wie Karl Schiller oder Otto Schily in ihren Reihen hatte. Stattdessen ist die Partei jetzt so orientierungslos, dass ihr nicht einmal ein programmatischer Brückenschlag zwischen den traditionellen Industriearbeitern und dem neuen Dienstleistungsprekariat im digitalen Kapitalismus gelingt. Das drängendste Problem der CDU wiederum ist eher nicht das fehlende konservative Profil, sondern die fast völlige Bedeutungslosigkeit der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft ( CDA ). Ein neuer Norbert Blüm ist nirgends in Sicht.

Flüchtlingskrise reißt Kluft zwischen Parteien und Bürgern

Wie sehr den Parteien die Fähigkeit abhandengekommen ist, gesellschaftliche Konflikte zu antizipieren und daraus politische Kompromisse abzuleiten, hat sich nicht zuletzt in der Flüchtlingskrise seit 2015 gezeigt. Im Wahlkampf konnte die Migrations- und Flüchtlingspolitik vor allem deshalb zum wahlentscheidenden Thema und zum einzigen Mobilisierungsthema der AfD werden, weil sich nirgendwo sonst eine größere Diskrepanz zwischen den etablierten Parteien und der Bevölkerung offenbarte. Die SPD tauchte völlig ab, wohl wissend, dass ein Großteil ihrer Wähler in dieser Frage ganz anders denken als die Parteifunktionäre. Also lieber schweigen oder beschwichtigen. CDU und CSU hingegen gelang es erst nach der Wahl und unter dem Eindruck dramatischer Verluste, ihren Obergrenzen-Streit beizulegen. Zugleich offenbarte die Flüchtlingskrise, wie tief der Graben zwischen den politischen Eliten und den Wählern geworden ist. Für Werner Patzelt sind daran auch die Medien schuld. Denn sie „definieren jenen Rahmen, in dem sich die politische Klasse gefahrlos bewegen kann“. Vieles sei schon deswegen nicht möglich, weil Befürworter etwa einer härteren Migrationspolitik „die absehbar skandalisierende mediale Berichterstattung politisch nicht überleben würden“.

Auch die Mittefixierung der Parteien hält einem Realitätscheck nicht mehr stand. Die Einteilung politischer Lager in rechts und links bietet angesichts einer fragmentierten Gesellschaft mit individualisierten Interessen offenbar keine hinreichenden Gewissheiten mehr. Und die Merkel-CDU hat daraus durchaus konsequent den Schluss gezogen, als eine Art unideologische One-size-fits-all-Partei praktisch unbezwingbar zu werden. Was auch lange gut funktioniert hat, aber neuerdings an Grenzen stößt. So hat der Meinungsforscher Binkert festgestellt, dass sich die CDU-Wählerschaft tatsächlich verändert habe: „Seit dem letzten Spätsommer verortet sich der durchschnittliche Unionswähler selbst Mitte-links.“ Am Vorwurf mancher Unionsleute, Angela Merkel habe ihre Partei nach links verschoben, sei also tatsächlich etwas dran. Doch zeige eine aktuelle Erhebung, dass dieser Effekt auch negative Folgen hat: Wenn demnach – wie von der FDP vorgeschlagen wurde – der als konservativ geltende Jens Spahn Kanzlerkandidat wäre, würde die CDU zwar 6,5 Prozentpunkte von ihrer aktuellen Wählerschaft verlieren. „Gleichzeitig würde sie aber 12,5 Prozentpunkte hinzugewinnen, nämlich von Leuten, die zumindest zuletzt nicht mehr für die Union gestimmt haben.“ Unterm Strich käme die Union mit Spahn als Kandidat auf 38,5 Prozent, aktuell steht sie mit Merkel aber nur bei 32,5 Prozent. „All das führt zu dem Befund, dass die Parteien ihre Rolle, die sie traditionell im politischen Spektrum ausfüllten, heute nicht mehr innehaben“, sagt Binkert. „Und das macht natürlich auch eine Regierungsbildung schwer, weil die politischen Mandatsträger nicht mehr wissen, für wen sie eigentlich Politik machen sollen.“ Nach Überzeugung des Demoskopen wäre es für die SPD einfacher, mit einer CDU zu koalieren, die eindeutige Positionen vertritt: „Dann könnten die Wähler die politischen Entscheidungen innerhalb einer Großen Koalition wenigstens dem einen oder dem anderen Lager klar zuordnen, und es käme nicht zur inhaltlichen Beliebigkeit.“

Soziale Medien als Brandbeschleuniger

Aber sogar die CSU gerät unter öffentlichen Legitimationsdruck, wenn sie erklärt, die Union müsse nachhaltige Integrationskraft bis hin zum rechten Rand entfalten. Vor allem Linke, Grüne und SPD erweckten den Eindruck, „als ob in einer Demokratie Leute, wenn sie politisch rechts stehen, ihren Anspruch auf politische Repräsentation verwirken“, so Werner Patzelt. „Und die bitterste Pointe des hinter den Koalitionsschwierigkeiten liegenden Parteienwettbewerbs ist es, dass die SPD – und in einer Großen Koalition erst recht – von der CDU einen klaren ,Trennstrich nach rechts‘ verlangt.“

Empörungspotenzial ist also reichlich vorhanden und kann nach Belieben instrumentalisiert werden – unabhängig vom politischen Standpunkt. Und die sozialen Medien wirken da als Brandbeschleuniger. Auch sie haben viel mit den derzeitigen Schwierigkeiten zu tun, stabile Regierungsmehrheiten zu bilden. Dass die sozialen Medien bei Wahlen eine so große Rolle spielen würden, hätte vor einem Jahrzehnt kaum jemand für möglich gehalten. Twitter war noch nicht das wichtigste Sprachrohr eines US-amerikanischen Präsidenten, sondern eine Spielerei von Geeks und Nerds. Auf Facebook gab es lustige Katzenvideos und Reisefotos sowie hin und wieder einen Gruß an Freunde oder Verwandte. Inzwischen ist aus Facebook aber vor allem eine Werbefläche geworden, die auch für politische Parteien unverzichtbar ist – und ein Marktplatz, auf dem um Meinungen und Wahrheiten gerungen wird. Alle kämpfen gegeneinander – Konservative gegen Liberale, Nationalisten gegen Weltbürger, Rechte gegen Linke. Auseinandersetzungen eskalieren in atemberaubendem Tempo, jeden Tag wird eine andere Sau durchs digitale Dorf getrieben, und zwar in Echtzeit.

Hintergrundinformationen und komplexe Zusammenhänge spielen da keine Rolle mehr, Tatsachen und Fakten nur dann, wenn sie ins jeweils eigene Weltbild passen. 
Und alle machen mit. Mal ruhig und fundiert, öfter aber pöbelnd und aus dem Bauch heraus. Hinter dem Bildschirm kann man seiner Wut freien Lauf lassen. In den digitalen Filterblasen politisch Gleichgesinnter haben Gegenargumente oft keinen Zutritt, Politik gerät dort zu einer Alles-oder-nichts-Veranstaltung. Der Kompromiss gilt folglich als Schwäche. Neue Parteien wie die AfD haben es schneller verstanden, sich auf dieses Spiel einzulassen – auch, weil es bei ihnen nicht um die Übernahme von Regierungsverantwortung geht. Aber die etablierten Parteien müssen mithalten, um nicht überrollt zu werden. Hinzu kommen Medien, die sich auf die schnelle Verbreitung von Informationen – die sogenannte Viralität – spezialisiert haben, und Marketingfirmen, die einfach nur Geld verdienen wollen. Dazu spannen sie ausländische Billigkräfte in Mazedonien ein oder gleich Bots, also als Menschen getarnte, automatisierte Software. So entstehen Stimmungen und Shitstorms, Filterblasen und Fake News.

Atmosphäre des Misstrauens

Der Internetunternehmer Sean Parker, Mitbegründer von Napster und einer der ersten Berater der Facebook-Gründer, hat unlängst eingeräumt, dass die Erfinder und Entwickler des Netzwerks explizit darauf aus waren, den Dopamin-Ausstoß bei dessen Nutzern zu steigern – bis die Feuerwerke in deren Köpfen losgehen und sie aus dem Gleichgewicht geraten. „Nur Gott weiß, was das mit den Hirnen unserer Kinder macht“, sagt Parker heute. Und Chamath Palihapitiya, ein ehemaliger Facebook-Manager, gibt zu Protokoll: „Wir haben ein Instrument geschaffen, das das Gewebe unserer Gesellschaft zerreißt.“ Nicht nur Kinder, auch Politiker und Wähler sind längst abhängig vom Kick, den das Netz bietet. Das setzte sich fort bis in die Sondierungsverhandlungen für eine Jamaika-Koalition, zu denen sich CDU, CSU, FDP und Grüne im Herbst eingefunden hatten: Ständig drangen Informationen via Twitter nach draußen, jede Wasserstandsmeldung wurde zur Nachricht, jedes Kompromissangebot am Verhandlungstisch sofort kommentiert. Quasi wie in einem Live­stream konnte die Nation mitverfolgen, was hinter verschlossenen Türen vor sich ging. „Durch die permanenten Indiskretionen entstand eine Atmosphäre des Misstrauens“, schreibt der Grünen-Politiker Robert Habeck in einem Beitrag für die FAS rückblickend. 

Und weil die politischen Verhandler wussten, dass alles nach außen dringt, war die Profilierung vor den Anhängern im Lande wichtiger als ein Vertrauensverhältnis am Verhandlungstisch. Der stellvertretende CDU-Vorsitzende Thomas Strobl hat als Erfahrung aus den Jamaika-Sondierungen vorgeschlagen, Sondierungen zukünftig in einer Art Kloster abzuhalten: ohne WLAN, erst nach Abgabe des Smartphones und aller anderen Online-Maschinen. Andernfalls seien derartige Gespräche zum Scheitern verurteilt. Die Verletzungen, die durch die quasiöffentlichen Verhandlungen entstanden sind, wirken weiter nach. „Es wird nach dem Bruch und den gegenseitigen Vorwürfen ungleich schwerer, Bündnisse jenseits der Großen Koalition zu schmieden“, resümiert der designierte Grünen-Vorsitzende Habeck nach dem Scheitern von Jamaika.

Wie kann ein Aufbruch gelingen?

Doch wie wird Deutschland wieder regierungsfähig? Wie gewinnen die Parteien das Vertrauen der Wähler zurück? Wie erlangt die Politik wieder ihre Gestaltungsfähigkeit? Was muss geschehen, damit große Politikentwürfe zum Beispiel in der Steuerpolitik, der Industriepolitik oder auch der Rentenpolitik wieder eine Chance bekommen? Kann das gesellschaftliche Gewebe regeneriert werden? Dass die alte Herrlichkeit der Volksparteien irgendwann zurückkehrt, darauf sollte man nicht setzen. Das Internet und die sozialen Medien lassen sich ohnehin nicht wieder abschalten; Domestizierungsversuche wie mit dem umstrittenen Netzwerkdurchsetzungsgesetz stoßen schnell an Grenzen. Und auf Dauer können Wähler, die sich politisch rechts der Mitte verorten, auch nicht von der politischen Willensbildung ausgeschlossen werden. Sonst gerät die Demokratie zur Farce.

Dass auf die Erstarrung des deutschen Parteiensystems ein Aufbruch folgen wird, dafür gibt es die unterschiedlichsten Hinweise. Und dass dieser Aufbruch in dem Moment beginnt, in dem die Ära Merkel zu Ende geht, ist evident. Ob das nun in drei Monaten oder in zwei Jahren der Fall sein wird – ein „Weiter so“ dürfte es kaum geben. Denn die Parteien haben längst damit begonnen, sich auf fundamentale Veränderungen in der politischen Landschaft der Bundesrepublik einzustellen. Am augenfälligsten ist das bei den drei kleinen etablierten Parteien FDP, Grüne und Linke. Die FDP versucht, sich von der Rolle des Anhängsels der Union zu befreien. Die Grünen sind darum bemüht, die innerparteiliche Flügellogik zu überwinden, um ins bürgerliche Lager hinein koalitionsfähig zu sein. 

 

Die Linke steht vor der Spaltung, weil das innerparteiliche Bündnis zwischen traditionellen, am Nationalstaat orientierten Sozialisten auf der einen und den postmodernen Linken auf der anderen Seite nicht mehr hält. Entscheidend allerdings wird sein, was in den beiden (vorerst noch) großen Parteien passiert, sobald sie sich aus dem Korsett einer Großen Koalition befreit haben.

Die französische Antwort auf die Krise der traditionellen Parteien hieß: Neugründung in Form der Bewegung „En Marche“ mit einem charismatischen Parteiführer Emmanuel Macron an der Spitze. In Deutschland wäre es jedoch sehr viel schwerer als in Frankreich, solch eine neue politische Bewegung ins Leben zu rufen. Denn hierzulande sind die Parteien sehr viel stärker als jenseits des Rheins, ihr Einfluss im bundesdeutschen Parteienstaat ist größer und die Finanzierung durch den Staat wesentlich höher. 

Die österreichische Variante hieße: Rekonstruktion der politischen Lager. Die Rückkehr zum alten Rechts-links-Schema hätte zur Voraussetzung wohl einen Sturz Merkels durch eine innerparteiliche Opposition; zudem müssten CDU und CSU zumindest mittelfristig eine politische Zusammenarbeit mit der AfD in Erwägung ziehen. Doch das scheint auf absehbare Zeit nicht vorstellbar: „Diese Partei ist ja wirklich noch ein obergäriger Haufen ohne Selbstverständigung über den einzuschlagenden Kurs“, konstatiert der Politikwissenschaftler Patzelt. „Und solange auch nicht klar wird, wer dort für längere Zeit den Kurs mitbestimmen wird, kann man erst recht keine Partnerschaft anbahnen.“ Das sei einst im Fall des Magdeburger Modells, als sich eine SPD-Regierung von der PDS tolerieren ließ, völlig anders gewesen. „Damals hatten reformorientierte Kräfte in der PDS bereits glaubwürdig gemacht, dass sie mitregierungsfähig und zu verlässlicher Zusammenarbeit in der Lage wären.“ 

Und auf der linken Seite? Der Vorschlag zur Gründung einer linken Sammlungsbewegung, den der ehemalige SPD-Vorsitzende und spätere Linkspartei-Chef Oskar Lafontaine jüngst unterbreitet hat, zielt zwar ebenfalls auf die Wiederauferstehung der politischen Lager – vor allem aber orientiert er sich an der britischen Labour Party und einem Linkspopulismus nach dem Vorbild von Jeremy Corbyn. Den Nachweis, dass ein solcher Kurs auch an die Macht führt, hat der Brite allerdings noch nicht erbracht.

Die Parteien müssen lernen

Womöglich ist der deutsche Weg in der Nach-Merkel-Ära aber auch jener, der im November mit dem Auszug der FDP aus den Jamaika-Sondierungen so spektakulär scheiterte. Vielleicht kommen CDU, CSU, FDP und Grüne trotz allen Wunden, die von ihren missratenen Annäherungsversuchen zurückgeblieben sind, doch noch zusammen. Nicht, um eine neue Ära zu begründen. Sondern nur vorläufig – als Übergangsregierung, bis sich das Parteiensystem reorganisiert hat und der politische Denkraum von den Deutschen und ihren Eliten gemeinsam neu vermessen wurde. Die sozialdemokratische Linke könnte sich sammeln, und die AfD müsste zeigen, ob sie gewillt ist, einem realpolitischen Kurs zu folgen und sich vom rechten Narrensaum abzugrenzen. Aus den vielen Fehlern der vier Jamaika-Parteien bei ihrem ersten Versuch, ein Bündnis der bürgerlichen Mitte zu schmieden, ließe sich lernen. Sicherlich fände sich auch ein Kloster, in dem die Delegationen der Parteien in digitaler Entsagung miteinander verhandeln könnten.

Mitarbeit: Christoph Schwennicke, Ulrich Thiele, Constantin Wißmann

 

Dies ist die Titelgeschichte der Cicero-Februarausgabe, die Sie am Kiosk oder in unserem Onlineshop erhalten.

 

 

 

 

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