Deutscher Ethikrat - Moral auf Bestellung

Der Deutsche Ethikrat empfiehlt mit der Mehrheit seiner Mitglieder die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht. Das Gremium selbst ist allerdings alles andere als staatsfern. Jetzt kommt Kritik sogar aus den eigenen Reihen: Vier Abweichler haben die Arbeitsweise des Ethikrats in Frage gestellt und sprechen von „politisch gewünschten Entscheidungen“.

Alena Buyx, Vorsitzende des Deutschen Ethikrats (M), Sigrid Graumann, Sprecherin der AG Pandemie des Deutschen Ethikrats (l), und Volker Lipp, stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Ethikrats (r) im Februar 2021/ dpa
Anzeige

Autoreninfo

Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

So erreichen Sie Alexander Marguier:

Anzeige

„Ethik“, so heißt es im Duden, ist die „Lehre vom sittlichen Wollen und Handeln des Menschen in verschiedenen Lebenssituationen“. Nun ist die Definition von „Sittlichkeit“ selbst wiederum eine Frage des zugrundeliegenden Wertegerüsts – aber wer einen Ethikrat einberuft, der wird wahrscheinlich eher keine Satanisten, verurteilte Kriegsverbrecher oder Pädophile für dieses Gremium nominieren. Und zwar aus gutem Grund

Das im Jahr 2007 in Kraft getretene „Gesetz zur Einrichtung des Deutschen Ethikrats“ beschreibt dessen Aufgabe zwar einigermaßen neutral mit den Worten, es sollten dort „die ethischen, gesellschaftlichen, naturwissenschaftlichen, medizinischen und rechtlichen Fragen sowie die voraussichtlichen Folgen für Individuum und Gesellschaft, die sich im Zusammenhang mit der Forschung […] auf den Menschen ergeben“, verfolgt werden. Aber allein schon der auffallend hohe Anteil an Theologen und Philosophen an den insgesamt 24 Ethikratsmitgliedern lässt wenig Zweifel daran, dass es sich tatsächlich um eine Art offizielle Moral-Instanz handelt.

Warum nicht beim Tempolimit?

Dass der Ethikrat in Zeiten von Corona eine vielbeschäftigte und gefragte Einrichtung ist, liegt insoweit nahe, als es bei der Pandemiebekämpfung um Abwägungen geht, die Leben und Tod betreffen – und zwar sehr konkret. Aber das tun viele andere politische Entscheidungen ebenfalls, ohne dass man jeweils die 24 deutschen Chefethiker um ihre Einschätzung bitten würde. Dabei könnte es ja durchaus interessant sein zu erfahren, was etwa die Regionalbischöfin Petra Bahr von der Mali-Mission der Bundeswehr hält, oder wie sich die Theologieprofessorin Elisabeth Gräb-Schmidt zum Tempolimit auf Autobahnen positioniert. Das jedoch sind Sachverhalte, bei denen die Politik offenbar lieber ohne ethische Beratung entscheidet.

Es liegt also der Verdacht nahe, dass Ethikräte immer genau dann um ihre Expertise gebeten werden, wenn politische Verantwortungsträger sich an ein Thema nicht herantrauen, weil aus der Bevölkerung mit heftigem Gegenwind zu rechnen ist und man sich deshalb mit einer höheren Moral glaubt imprägnieren zu müssen. So geschehen bei der einst von Angela Merkel eingesetzten „Ethikkommission“, die zur Rechtfertigung des Ausstiegs aus der Kernenergie ins Rennen geschickt wurde (darunter zwei Bischöfe sowie der Präsident Zentralkomitees der Deutschen Katholiken). Und soeben erst wieder in der mehr als heiklen Debatte über eine allgemeine Impfpflicht gegen Covid-19. Kurzum: Wenn Vater Staat sich am liebsten drücken würde, beordert er Ethikräte als moralische Prätorianergarde. Eine peinliche, weil sehr durchschaubare Taktik.

Zumal, um beim aktuellen Beispiel des Deutschen Ethikrats zu bleiben, von Regierungsferne wahrlich keine Rede sein kann. Denn kein anderer als der Präsident des Deutschen Bundestags beruft die Mitglieder dieses Gremiums, und zwar je zur Hälfte auf Vorschlag des Deutschen Bundestags und der Bundesregierung. Ob vor diesem Hintergrund tatsächlich von einem „unabhängigen Sachverständigenrat“ die Rede sein kann, wie im Ethikratgesetz postuliert, darf also mit Fug und Recht bezweifelt werden.

Vier Ethik-Abweichler

Beizeiten zeigt sich jedoch, dass die gewünschte Stromlinienförmigkeit auch Grenzen kennt. Die von den drei Rechtsgelehrten Frauke Rostalski, Stephan Rixen und Steffen Augsberg sowie der Juniorprofessorin für islamische Theologie, Muna Tatari, soeben in der FAZ veröffentliche Mindermeinung in Sachen Impfflicht lässt jedenfalls aufhorchen.

Es geht um eine „Ad-Hoc-Empfehlung“ des Deutschen Ethikrats vom 22. Dezember in Sachen der „Ethischen Orientierung zur Frage einer allgemeinen gesetzlichen Impfpflicht“ – wobei diese von einer Mehrheit der Ratsmitglieder für alle Erwachsenen über 18 Jahren empfohlen wird. Leitend war für die Befürworter „das Ziel einer nachhaltigen, dauerhaft tragfähigen und gerechten Beherrschung der Pandemie, das heißt das Erreichen einer kontrollierten endemischen Situation“. Dazu reiche das schrittweise Vorgehen einer Impfpflicht nur für Risikogruppen nicht aus, weil man damit immer hinter den Wellen der Pandemie bleibe und somit das Risiko „einer ständigen Wiederkehr von Kontaktbeschränkungen aller Art“ in Kauf nehme – worunter insbesondere Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene zu leiden haben. „Eine allgemeine gesetzliche Impfpflicht liegt daher nicht nur im Interesse vulnerabler Gruppen, sondern auch im Interesse der jungen Generation“, so die Argumentation. Wobei ein bisschen der Eindruck entsteht, dass die explizite Bezugnahme auf die Jugend von manch inhaltlicher Schwachstelle ablenken soll.

Ein anderer Leitsatz zur Begründung der Impfflicht-Empfehlung durch den Ethikrat steht wissenschaftlich nämlich durchaus auf tönernen Füßen: Dass eine Eindämmung des Gesamtinfektionsgeschehens dazu beiträgt, die hohe Anzahl langfristiger Schädigungen wie Long und Post Covid zu reduzieren, wie es in dem Papier heißt, dürfte unbestritten sein. Weiter heißt es dann aber wörtlich: „Dies erfordert angesichts der hohen Infektiosität der Delta- und wohl noch mehr der Omikron-Variante zwingend eine sehr hohe Impfquote in der Gesamtbevölkerung.“ Diese sei ohne die Einbeziehung auch jüngerer Erwachsener in eine allgemeine gesetzliche Impfpflicht nicht zu erreichen. Zudem seien „sehr hohe Impfquoten auch notwendig, um das Risiko des Entstehens neuer gefährlicher Virusvarianten abzusenken“.

Apodiktische Statements

Den vier Abweichlern sind solche Statements allerdings zu apodiktisch. Und so plädieren die drei Jura-Professoren Frauke Rostalski (sie lehrt Strafrecht an der Uni Köln), Steffen Augsberg (Öffentliches Recht, Gießen) und Stephan Rixen (Öffentliches Recht, Bayreuth) sowie die Paderborner Theologin Muna Tatari nicht nur dafür, Unsicherheiten stärker zu betonen – dies zu tun sei sogar ethisch geboten, wie sie ausdrücklich festhalten. „Das Narrativ, nur eine ,allgemeine‘ Impfpflicht helfe aus aller Not, insbesondere aus den ,Dauerschleifen‘ weiterer Covid-19-Bekämpfungsmaßnahmen, halten wir für falsch und kontraproduktiv“, schreiben sie in der FAZ. Die Einführung einer weitreichenden allgemeinen Impfpflicht ließe sich nur rechtfertigen, wenn zugrunde liegende tatsächliche Ungewissheiten in die rechtliche und ethische Bewertung integriert und die offenkundigen Probleme einer tragfähigen und praktisch effektiven Umsetzung stärker berücksichtigt würden, als dies bislang der Fall ist. „Wer das nicht tut, läuft Gefahr, dass die ,allgemeine Impfpflicht‘ zum bloßen Symbol eines politischen Aktionismus wird, der sich von Pseudo-Effektivität beherrschen lässt.“ Damit aber könne das Vertrauen der Menschen in die Maßnahmen der Pandemieregulierung „insgesamt“ beschädigt werden.

Wenig später werden die vier Abweichler dann konkret, wenn sie erklären, warum ihrer Ansicht nach nicht einmal die Voraussetzungen für die Einführung einer nach individuellem Risiko differenzierenden Impfpflicht vorliegen. Drei Argumente stünden dem nämlich entgegen, und zwar bestehende Unsicherheiten mit Blick auf die tatsächliche Lage, erwartbare Schwierigkeiten der Umsetzung einer Impfflicht sowie Verhältnismäßigkeitserwägungen, „insbesondere auch mit Blick auf ungewollte Nebenfolgen“. Rostalski, Augsberg, Rixen und Tatari geht es dabei nicht um die Frage, ob Impfungen generell sinnvoll sind; hiervon seien sie „uneingeschränkt überzeugt“. Jedoch hätten sie Zweifel daran, dass die gegen eine Infektion mit Sars-CoV-2 im Rahmen einer Pflichtimpfung verwendeten Vakzine „angesichts der Unwägbarkeiten, die durch bereits bekannte oder noch auftretende Virusvarianten entstehen, das ihnen zugesprochene Ziel, die Infektions- und Erkrankungswahrscheinlichkeit signifikant zu senken, erreichen können“.

Grundsätzliche Kritik

Zum Schluss, und das ist mindestens ebenso heikel, stellen sie die Rolle des Deutschen Ethikraths sogar grundsätzlich in Frage. Insbesondere in der derzeitigen Krise bestehe nämlich die Gefahr, „dass außer dem Zeitdruck auch der Erwartungsdruck groß ist, politisch gewünschten Entscheidungen nicht im Wege zu stehen“. Dies gelte erst recht, wenn die Einbeziehung des Ethikrats zum „informellen, verfassungsrechtlich nicht vorgesehenen Bestandteil des Gesetzgebungsverfahrens“ mutiere: „Bleibt dann beim gemeinsamen Beraten und Empfehlen noch Raum, der Ur-Versuchung von Politikberatungsgremien ins Auge zu sehen, dass autonomer Rat sich politischen Wünschen zuweilen geschmeidig anzupassen versteht?“, fragen sie.

Wenn Mitglieder dieses Gremiums selbst es sind, die solche Fragen stellen, dann wird man ihnen freilich kaum vorwerfen können, sie wüssten nicht, wovon sie sprächen. Aber wie „sittlich“ wäre eigentlich eine Politik, die sich aus Angst vor der eigenen Courage hinter gefügigen Moral-Kommissionen verschanzt? Vielleicht wäre das ja auch mal ein interessantes Sujet für den Deutschen Ethikrat.

Anzeige