Deradikalisierung von Parteien - Gärige Haufen von den Grünen zur AfD

So wie 2017 bei der AfD wurden auch mit dem Einzug der Grünen in den Bundestag 1983 die Debatten härter und aggressiver. Doch der Parlamentarismus machte aus Radikalen Demokraten. Kann das auch im Fall der AfD gelingen?

Die Grünen wurden von Radikalen zu Demokraten. Eine Blaupause für die AfD? / J.H. Darchinger
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Autoreninfo

Hubert Kleinert, Jahrgang 1954, gehörte 1983 zu den ersten Bundestagsabgeordneten der Grünen und galt als Vordenker von Rot-Grün. Kleinert ist Professor für Politikwissenschaft an der Hessischen Hochschule für Polizei und Verwaltung in Gießen. Vor kurzem erschien sein Buch „Das vereinte Deutschland“ über die Geschichte der Bundesrepublik von 1990 bis 2020 (914 Seiten, Springer).

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Seit dem Einzug der AfD in den Bundestag ist immer wieder vom veränderten Charakter der politischen Debattenkultur die Rede. Viele AfD-Abgeordnete missbrauchten die Parlamentsbühne zu hasserfüllten und polemischen Attacken. Der Ton im Hohen Hause sei deutlich rüder geworden, man müsse um die Debattenkultur fürchten. Besondere Aufregung löste im letzten Herbst das Eindringen von Demonstranten aus, die Abgeordnete wie den Wirtschaftsminister Peter Altmaier bedrängten. Sie hatten als Gäste von AfD-Abgeordneten Einlass gefunden. Von „Nötigung des Parlaments“ wurde jetzt gesprochen und sogar die Erinnerung an Weimar heraufbeschworen. 

Nun kann gar nicht bestritten werden, dass mit der neuen Rechten im Parlament der Umgangston rauer geworden ist und die Schärfe zugenommen hat. 19 Ordnungsrufe verzeichnete die Parlamentsstatistik zur Halbzeit der Legislaturperiode – deutlich mehr als in allen anderen Legislaturperioden seit 1998. Davon gingen etwa zwei Drittel an die Adresse von AfD-Abgeordneten. Und auch die übrigen waren meist Konsequenz hitziger Auseinandersetzungen mit und um die AfD. 

Keine Überraschung

Dass der Ton der politischen Debatte mit einer neuen politischen Kraft, die in ihrer Entgegensetzung von „gutem Volk“ und „bösem Elitenkartell“ populistische Züge trägt und sich vor allem als „Fundamentalopposition“ versteht, härter und aggressiver werden würde, war keine Überraschung. Wo die rechten Neuparlamentarier mit heftigen Angriffen auf die „Etablierten“ die Erwartungen und Identifikationsbedürfnisse ihrer Anhängerschaft erfüllen wollten, sahen die anderen die Notwendigkeit, der unerwünschten Konkurrenz „klare Kante“ zu zeigen. Sie sind in ihrer großen Mehrheit Teil des Empörungsfurors, der den Aufstieg der AfD von Anfang an begleitet. 

Interessanter ist die Einordnung dieser Vorgänge in die Parlamentsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Will man Maßstäbe gewinnen für das tatsächliche Ausmaß der Gefährdungen der demokratischen Streitkultur, sind historische Vergleiche allemal lohnend. 

Die grünen Ruhestörer

Dabei fällt zunächst ins Auge, dass nach der überaus stürmischen ersten Legislaturperiode 1949 bis 1953 die Schärfe der politischen Auseinandersetzung im Bundestag zunächst deutlich zurückgegangen ist. War es damals zu nicht weniger als 17 Sitzungsausschlüssen und 40 Wortentziehungen gekommen, so liefen die Debatten in den folgenden Sitzungsperioden gesitteter ab. Parallel zur politischen Konsolidierung der Bundesrepublik und zum Konzentrationsprozess des Parteiensystems, der mit dem Dreiparteiensystem nach 1961 seinen Höhepunkt erreicht hatte, ließen auch Schärfe und Unversöhnlichkeit der parlamentarischen Auseinandersetzung nach – trotz aller Polemik von Wehner und Strauß. So wurde zwischen 1957 und 1983 kein einziger Abgeordneter mehr von einer Sitzung ausgeschlossen. 

Das änderte sich in der zehnten Wahlperiode ab Frühjahr 1983. Mit dem Einzug der Grünen stieg die Zahl der Ordnungsrufe gegenüber der vorangegangenen Legislaturperiode von 30 auf 132 gleich um mehr als das Vierfache. Die Zahl der Wortentziehungen durch den Sitzungspräsidenten wuchs von einer auf 16. Und erstmals seit 1957 kam es wieder zum Sitzungsausschluss von Abgeordneten. Einer galt dem späteren Außenminister Joschka Fischer, der den Ausschluss seines Fraktionskollegen Jürgen Reents mit der Bemerkung zu Sitzungspräsident Richard Stücklen quittiert hatte: „Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch.“ 

Kaum weniger stürmisch ging es in der folgenden Wahlperiode zu. Die Parlamentsstatistik verzeichnet zwischen 1987 und 1990 zwar nur noch 78 Ordnungsrufe. Aber die Zahl der Wortentziehungen stieg sogar noch auf 18. Und diesmal wurden gleich drei Grünen-Abgeordnete mit der „Höchststrafe“ des Ausschlusses von der Sitzung belegt. 

„Fundamentale Opposition“ von Linksaußen

Mit den Grünen war nicht nur das alte Dreiparteiensystem perdu. Die Neuen verstanden sich in ihrer Mehrheit auch als „fundamentale Opposition“ gegenüber allen anderen, den „etablierten Parteien“. Sie kamen von außen, manche von ganz weit links, und sie sahen sich zunächst auch selbst in einer solchen Flügelposition. Manche hätten auch am liebsten links außen gesessen. Die seinerzeit gebräuchliche Metapher vom „Standbein“ der Grünen in den „sozialen Bewegungen“ und vom „Spielbein“ in den Parlamenten offenbarte ein politisches Selbstverständnis, das man heute wohl eher als „linkspopulistisch“ definieren würde. 

Ein Selbstverständnis, das sich nicht nur an den Inhalten wie Ökologie, Kampf gegen die Atomkraft, für Feminismus, Frieden und radikale Abrüstung festmachte, sondern auch in Form aller möglichen mehr oder weniger lustvollen Provokationen. So hatte Fischer schon im April 1983 im Frankfurter Szeneblatt Pflasterstrand kundgetan, der Bundestag sei „eine unglaubliche Alkoholikerversammlung, die teilweise ganz ordinär nach Schnaps stinkt“. 

Reaktionen der Union

Die Reaktionen der „Altparteien“ auf diese bunte Schar, die so ganz anders sein wollte als sie selbst, fielen entsprechend aus. Das galt vor allem für die Unionsparteien. Während die meisten SPD- und FDP-Politiker eine Art distanzierte Höflichkeit an den Tag legten, machten die meisten Unionsabgeordneten aus ihrem Herzen keine Mördergrube. Zwar blieben die Überlegungen des späteren Verteidigungsministers Rupert Scholz zu einem Parteienverbot nur eine Einzelstimme. Er sah in der Forderung der Grünen nach einer „Basisdemokratie“ die Abkehr vom Prinzip der repräsentativen Demokratie. 

Doch dass die Grünen in ihren Augen eine Versammlung von linksextremistischen Systemgegnern und ein „Produkt des Bildungsnotstands“ seien, dass sie jedenfalls nicht in dieses Haus gehörten, wurde anfangs immer wieder deutlich. Noch in der Haushaltsdebatte 1984 ist der Verfasser, obschon für grüne Verhältnisse von damals eher gemäßigt, vom CSU-Abgeordneten Erich Riedl als „geistiger Helfershelfer des Terrorismus“ bezeichnet worden. Im Jahr zuvor hatte ihm der CDU-Mann Adolf Roth in der Debatte um unsere Mitwirkung bei der parlamentarischen Kontrolle der Geheimdienste zugerufen: „Wenn ich mir Sie so anschaue: Sie zum Kontrolleur unserer Geheimdienste zu machen, das würde bedeuten, den Bock zum Gärtner zu machen.“ 

Unvergessen ist auch das Gejohle und Gefeixe, das eine Altherren-Combo der Union aufführte, als die Abgeordnete Waltraud Schoppe im Bundestag über das „Liebesspiel“ und den „weiblichen Orgasmus“ sprach. 1986 veröffentlichte die CDU/CSU-Bundestagsfraktion eine Dokumentation über die „Kader der Grünen“. In ihr wurde der Nachweis versucht, dass die meisten wichtigen Grünen-­Politiker aus dem Linksradikalismus stammten und ihre umstürzlerische Gesinnung keineswegs aufgegeben hätten. Tatsächlich ließen sich diverse Zitate finden, in denen prominente Grüne das Gewaltmonopol des Staates infrage stellten oder Anschläge auf Strommasten rechtfertigten. 

Gemischte Signale

Gewiss, es gab bald auch andere Signale. Mit der Spaltung in „Fundis“ und „Realos“ unterschieden auch die anderen mehr zwischen solchen, „mit denen man reden könne“, und den anderen. Und die ersten rot-grünen Bündnisse trugen zur Entspannung des Verhältnisses mit der SPD bei. Auch der Parlamentsalltag mit seiner Sacharbeit begünstigte eine gewisse Auflockerung. Doch bis 1990 blieb die Hermetik der Abgrenzung noch oft spürbar, etwa wenn Parteisprecherin Jutta Ditfurth ausgeführt hatte, „dieser Staat brauche nichts so sehr wie den Terrorismus“. 

Diese Frontstellung schlug sich nicht nur in der Statistik der parlamentarischen Ordnungsmaßnahmen nieder. Sie fand ihren Niederschlag auch bei der Besetzung von Parlamentsgremien. Als die neue Grünen-Fraktion die Abgeordnete Christa Reetz als Vizepräsidentin des Hohen Hauses durchsetzen wollte, erhielt sie in den verschiedenen Wahlgängen maximal 68 Stimmen. Vier Jahre später, als Christa Nickels dafür nominiert wurde, waren es 119. Von dem mit viel Ranküne durchgesetzten Ausschluss der Grünen von der Kontrolle über die Wirtschaftspläne der Geheimdienste war oben schon die Rede. Von Normalität im Umgang zwischen politischen Konkurrenten konnte jedenfalls bis 1990 so recht noch nicht gesprochen werden. 

Die Ankunft der PDS

Relativ unspektakulär hat sich dagegen 1990 die Ankunft der PDS im gesamtdeutschen Parlament niedergeschlagen. Zwar sahen sich die 17 ganz überwiegend ostdeutschen Abgeordneten mit dem permanenten Hinweis auf die SED-Vergangenheit konfrontiert und stießen als „Vertreter des alten Regimes“ auf eisige Ablehnung. Einen echten demokratisch-sozialistischen Reformwillen mochte ihnen kaum jemand abnehmen. Als der Schriftsteller Stefan Heym 1994 mit seiner Rede die 13. Legislaturperiode eröffnete, regte sich gegen alle parlamentarischen Gepflogenheiten bei solchen Gelegenheiten in der Unionsfraktion fast keine Hand zum Beifall. Zuvor hatte man sogar versucht, den Emigranten Heym, der als US-Offizier 1945 nach Deutschland zurückgekehrt war, zum Stasi-Informanten zu stempeln. Erstmals blieb im offiziellen Bulletin der Bundesregierung die Rede eines Alterspräsidenten unerwähnt. 

Dennoch hat sich die Ausgrenzung der PDS in der Parlamentsstatistik kaum niedergeschlagen. Der bürgerliche Habi­tus der Abgeordneten der neuen Linkspartei mag dazu beigetragen haben, dass das Debattenklima wieder unaufgeregter wurde. Für den 12. Bundestag zwischen 1990 und 1994 verzeichnet die Statistik nur noch 35 Ordnungsrufe. Ausgeschlossen wurde niemand. Vier Jahre später war die Zahl der Ordnungsrufe sogar auf 32 zurückgegangen. Und das, obwohl die Grünen jetzt wieder in Fraktionsstärke zurückgekehrt waren. Die neue Fraktion wurde geführt von jenem Joschka Fischer, der 1983 das Wort von der „Alkoholikerversammlung“ geprägt hatte. Jetzt bekamen die Grünen sogar eine Vizepräsidentin: Antje Vollmer, die 1985 im Streit mit Otto Schily das Gewaltmonopol des Staates nicht hatte anerkennen wollen. 

In den folgenden Legislaturperioden ging die Zahl der parlamentarischen Regelverletzungen weiter zurück. Zurück ging freilich auch die öffentliche Ausstrahlungswirkung der Bundestagsdebatten. Mehr und mehr dominierten die Talkshow-Formate die öffentliche Wahrnehmung des Bonner und bald darauf Berliner Geschehens. 

Alles halb so wild?

Nimmt man diese Vergangenheit zum Maßstab, dann scheint die Aufgeregtheit über die Rolle der AfD doch eher übertrieben. Dass nach langen Jahren einer gewissen Annäherung des Parteienspektrums in der Mitte das Auftreten einer neuen Partei, die sich als Fundamentalopposition von rechts versteht und weite Teile der modernen Political Correctness ablehnt, manche unschönen und auch abstoßende Züge trägt, ist kaum zu bestreiten. Daraus aber alarmistisch auf eine Wiederkehr Weimarer Zeiten zu schließen, ist unangemessen. 

Im Grunde ging es wilder zu, als meine politischen Freunde und ich das „Raumschiff Bonn“, wie man damals sagte, eroberten. Dennoch sind manche von denen, die damals dabei waren, zu respektablen Würdenträgern der Republik geworden. Von Fischer und Vollmer war schon die Rede. Der republikanische Anwalt Otto Schily wurde als SPD-Mitglied später Innenminister. Und die Grünen sind heute ein ganz normaler Teil des Parteienspektrums, der in vielen Großstädten eine Art geistiger Hegemonie errungen hat und wohl demnächst mitregieren wird. 

Klare Unterschiede zwischen Grün und Blau

Natürlich unterschieden und unterscheiden sich die Grünen fundamental von der AfD. Mehr noch als andere sind sie der natürliche Antipode der Rechten. Aber eine Gemeinsamkeit gibt es doch: Beide kamen von außen – die einen von rechts, die anderen, grosso modo, von links. Beide waren unerwünscht und stießen auf heftige Ablehnung. Beide haben sich selbst als grundsätzliche Opposition gegen das etablierte System gesehen. Gewiss, bei den Grünen gab es von Anfang an Reformer, die den Radikaleren vorhielten, sie gerierten sich, als wollten sie „Politik in Feindesland“ machen (Kretschmann in den späten Achtzigern). Aber Mainstream waren sie zunächst nicht. Und auch die AfD ist kein Monolith, ihr Spektrum reicht von bürgerlich-nationalkonservativ bis rechtsradikal.

Dass bei der Gründung der Grünen um 1980 auch Einflüsse linksradikaler Gesellschaftsbilder eine Rolle spielten, lässt sich kaum bestreiten. In den „neuen sozialen Bewegungen“ vermischten sich die Anliegen einer Umweltbewegung, die im Kampf gegen den Neubau von Atomkraftwerken ihren aktionistischen Höhepunkt fand, mit allen möglichen radikaldemokratischen, frauen- und friedenspolitischen Themen, einem system­oppositionell begründeten „Kampf um befreite Lebenswelten“ der Alternativbewegung und radikalsozialistischen Vorstellungen einer „ganz anderen Gesellschaft“. Diese Vermischungen machten es nahezu unmöglich, zwischen reformpolitischen Anliegen, Fundamentalkritik der Industriegesellschaft und linksradikalen Gesellschaftsbildern genau zu unterscheiden. Ein „gäriger Haufen“ – das waren auch die Grünen von 1983. 

Musterbeispiel der Integrationskraft unserer Demokratie

Eigentlich ist die Geschichte der Grünen ein Musterbeispiel für die Integrationskraft des demokratisch-parlamentarischen Systems. Über schwere innere Kämpfe haben sie im Laufe der Jahre weite Teile des politischen Linksradikalismus der siebziger Jahre regelrecht geschluckt. Weil ein Teil der ehemals Radikalen dabei beachtliche politische Lernfähigkeit bewies, lässt sich diese Geschichte auch als ein Weg demokratischer Integration ehemaliger Linksradikaler verstehen. Der Parlamentarismus lieferte die Voraussetzungen für eine demokratische Sozialisation auf dem zweiten Bildungsweg. 

Wie weit ein solcher Weg gehen konnte, lässt sich beispielhaft an den Biografien von Joschka Fischer und Daniel Cohn-Bendit zeigen. Am Ende stand die Wandlung der Grünen zu einem „normalen“ demokratischen Faktor, der mit einem eigenen spezifischen Profil in den konkurrenzdemokratischen Parteienwett­bewerb zieht und dabei dessen Spielregeln akzeptiert. So sind aus den Outsidern von 1983 längst Insider geworden. 

Empathie für die AfD hält sich in Grenzen

Dass dieser Weg erfolgreich verlief, dafür haben viele Faktoren eine Rolle gespielt. Die schwere Wahlniederlage 1990, die zum Auszug der „Altfundis“ um Ditfurth und Ebermann führte, gesellschaftliche Veränderungen, die bei der Popularisierung grüner Themen hilfreich waren, sicher auch der Generationswechsel. Wichtig aber waren auch die Reaktionen der Öffentlichkeit. Bei allem Grünen-Bashing im medialen Mainstream der achtziger Jahre konnten zumindest die Realo-Grünen bald auch auf Interesse und ein gewisses Wohlwollen in wachsenden Teilen des linksliberalen Meinungsspektrums zählen. Und als die Grünen 1990 aus dem Bundestag flogen, war schon vielerorts auch dort Bedauern zu vernehmen, wo man sie noch längst nicht wählen mochte. 

Mit einem solchen Bedauern werden die rechten Outsider von heute kaum rechnen können, sollten sie sich irgendwann zerlegen und aus dem Parlament wieder verschwinden. Hier enden die strukturellen Parallelen. Wo die Grünen die Hermetik der Abgrenzung durch die anderen allmählich auflockern konnten und sich auch das mediale Bild über die Jahre ausdifferenzierte, kann bei der neuen Rechten davon keine Rede sein. Eher hat sich die Konfrontation seit 2017 weiter zugespitzt, wie sich im Frühjahr in der Debatte um eine Mitverantwortung der AfD für rechtsradikale Terroranschläge und die (rechtlich umstrittene) Einstufung der Partei als „Verdachtsfall“ für den Verfassungsschutz gezeigt hat. 

Meuthens Flucht nach vorn

Vor diesem Hintergrund hat sich der AfD-Parteivorsitzende Jörg Meuthen im Frühjahr 2020 zur Flucht nach vorn entschieden. Das Parteiausschlussverfahren gegen den Partei-Rechtsaußen Andreas Kalbitz und mehr noch seine scharfe Abgrenzung von Corona-Leugnern und Wirrköpfen in der AfD im letzten November sollen verdeutlichen, das gemäßigte bürgerlich-konservative Kräfte künftig das AfD-Profil prägen sollen. 

Ob Meuthen und seine Freunde damit tatsächlich eine Chance haben werden, einer rechtskonservativen, aber eindeutig demokratischen politischen Kraft eine Zukunft zu öffnen, wird sich nicht nur an ihrer inhaltlichen Profilierung und dem Stil ihres politischen Auftretens entscheiden. Von den Themen her hätte eine europa- und migrationskritische, nationale Partei, die sich als Gegenkraft zum grün-feministischen Zeitgeist versteht, dabei aber klare Grenzen zu Geschichtsrevisionismus und Rechtsradikalismus zieht, gewiss eine Chance, beachtliche Minderheiten zu gewinnen. 

Keine demokratische Partei rechts der CDU

Doch ob der Mainstream einer öffentlichen Meinung, die die AfD bislang überwiegend in den Kategorien des Antifaschismus als Wiedergänger der „Gefahr von rechts“ begreift, einen solchen gemäßigten Rechtskurs differenzierter aufnehmen würde als die AfD der Vergangenheit, ist unsicher. 

Für weite Teile der öffentlichen Meinung scheint ausgemacht, dass der Satz von Franz Josef Strauß, nach dem es rechts von der CSU keine demokratisch legitimierte Partei geben dürfe, nicht strategische Maxime, sondern eine analytische Grundkategorie ist. Durchaus möglich, dass Meuthens innerparteilichen Kritiker dem AfD-Chef eines Tages vorwerfen werden, er sei vor den Etablierten zu Kreuze gekrochen und habe doch nichts dafür zurückbekommen. 

Ob auch der AfD ein Weg der demokratischen Normalisierung gelingen kann, ist deshalb zweifelhaft. Und hier liegt das größte Handicap für die Gemäßigten in der AfD.

Dieser Text stammt aus der April-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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