Demonstration gegen Corona-Maßnahmen - „Die Corona-Proteste wurden von Rechtstextremisten gekapert"

Wie konnte es passieren, dass Reichsbürger die Treppe zum Reichstagsgebäude stürmen konnten? Benjamin Jendro von der Polizeigewerkschaft (GdP) über Einsatzfehler, rechten und linken Extremismus und die Macht der Bilder.

Zwar waren Rechtsextreme und Reichsbürger nicht in der Mehrheit, sie haben die Demo jedoch instrumentalisiert, so Jendro / dpa
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Autoreninfo

Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Benjamin Jendro ist Sprecher der Gewerkschaft der Polizei (GdP) in Berlin.

Herr Jendro, ein Video vom Sturm auf das Reichstagsgebäude zeigt einen Ihrer Kollegen auf der Treppe vor dem Eingang, der einem wütenden Mob von 300 Reichsbürgern gegenüber steht. In seinem Gesicht steht die nackte Angst. Welches Signal sendet dieses Bild?
Ich würde nicht von nackter Angst sprechen, sondern von einer Anspannung, die diese Situation auch einfach erfordert. Es ist eine Ausnahmesituation. Stellen Sie sich vor, Sie werden von Menschen beleidigt, die auch vor Gewalt nicht zurückschrecken, und Sie stehen da alleine mit sechs Kollegen. Es sind schreckliche Bilder entstanden. Wenn Leute auf der Treppe des Bundestages Flaggen aus einer Zeit hissen, die wir nicht wiedersehen wollen, ist das kein gutes Zeichen für unsere Demokratie. 

Wenn Sie sich in den Kollegen hineinversetzten, ist es der Albtraum für jeden Polizisten?
Ich glaube, es ist der Albtraum für jeden Menschen, wenn man sieht, dass da 300 bis 400 auf Sie zustürmen und vorbeiwollen, und Sie dürfen die nicht durchlassen.

Der Bundespräsident hat den Mann und seine Kollegen ins Schloss Bellevue eingeladen, um sich persönlich zu bedanken. In der Boulevardpresse werden sie jetzt als Helden gefeiert. Zu Recht?
Definitiv sind es Helden, denn sie tragen 24/7 eine Uniform für die Menschen in dieser Stadt und in diesem Land. Das hat der Bundespräsident ja auch deutlich gemacht. Die, die eingeladen wurden, stehen stellvertretend für die Hunderttausenden Kollegen. 

Wird deren Arbeit gerade in der Coronakrise genug gewertschätzt?
Es ist Polizistinnen und Polizisten und Beschäftigen im Öffentlichen Dienst generell klar, dass es eine Auszeichnung ist, wenn man zum Bundespräsidenten darf. Sie können auch sicher sein, dass es den eingeladenen Kollegen ein bisschen unangenehm war. Sie standen zu diesem Zeitpunkt an diesem Ort. Aber neben ihnen standen noch hunderte andere. Im Schloss Bellevue ist nicht genug Platz für alle Helden des Alltags. 

Um das Reichstagsgebäude waren an diesem Tag 250 Polizisten im Einsatz. Auch drei Tage nach dem Vorfall hat die Polizei noch nicht die Frage beantwortet: Wie konnte das passieren?
Das liegt in der Natur der Sache. So eine Demo bringt immer dynamische Lagen mit. Man hatte vorher eine Kundgebung auf der Wiese vor dem Reichstagsgebäude. Man musste Kräfte verschieben. Man kann nicht alles abdecken. Wir reden von einem befriedeten Bezirk. Man muss sich fragen: Wollen wir den abriegeln? Oder wollen wir den offen lassen? Wenn man sich für zweites entscheidet und dennoch solche Aktionen verhindern will, muss man viel Personal dahin stellen. Da bräuchten Sie eine Person pro Meter. Also 550 Kollegen. 

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Benjamin Jendro / privat 

Der CDU-Politiker Armin Schuster kritisiert, das Versammlungsgesetz sei nicht mehr zeitgemäß. Nach den Erfahrungen der letzten Monate sollte man überlegen, Demonstrationen auch verbieten zu können. 
Diese Frage muss man tatsächlich stellen. Aber das ist Aufgabe der Politik. Wir nehmen das erstmal so hin. Ich warne allerdings davor, diese unschönen Bilder überzubewerten. Es war nicht so, dass das Reichstagsgebäude in Gefahr gewesen wäre oder dass es stundenlang von Rechtsextremisten besetzt worden wäre. Die Polizei hat das schnell in den Griff bekommen. 

Reichsbürger hatten den Sturm schon Wochen vorher im Internet gekündigt. Hätte man da nicht doppelt wachsam sein müssen?
Hinterher ist man immer schlauer. Diese Ankündigungen gab es nicht nur vor dieser Veranstaltung, sondern auch schon früher. Sie kamen auch von einem Vegan-Koch, der Zehntausende Follower in seiner Telegram-Gruppe hat und der regelmäßig zu so einem Sturm aufruft. Sie werden nicht glauben, wieviele solcher Ankündigungen die Polizei jeden Tag bekommt. Das muss man ernst nehmen, darf es aber auch nicht überbewerten. 

Aber in diesem Fall kam die Ankündigung von einer Heilpraktikerin per Lautsprecher von der Bühne vis-à-vis des Reichstags. Die Beamten konnten das doch hören. 
Ich war nicht vor Ort und will darüber nicht spekulieren. Heute weiß man, dass die Lageeinschätzung nicht optimal war. So etwas passiert. Menschen machen Fehler. In der Nachbetrachtung muss und wird die Berliner Polizei Lehren daraus ziehen, um so etwas in Zukunft zu verhindern. 

Hat die Polizei die Reichsbürger unterschätzt?
Man hat sicher nicht damit gerechnet, dass hunderte Menschen einfach über die Absperrgitter klettern und einen kurzen Moment der Unachtsamkeit ausnutzten. Man kann nicht alles voraussehen. So eine Demo ist immer ein dynamisches Geschehen. Da trifft man Entscheidungen und wählt Einsatztaktiken. Wenn die – wie in diesem Fall geschehen – nicht komplett aufgehen, muss man sich der Kritik stellen. 

Wäre die Aufregung über die Bilder genauso groß gewesen, wenn der Reichstag von der Antifa statt von Reichsbürgern gestürmt worden wäre?
Unsere Aufregung wäre genauso groß gewesen. Wir verurteilen jede Form von extremistischer Gewalt. Wir unterscheiden nicht, ob sie von links, rechts oder wo auch immer herkommt. In unserer politischen Landschaft ist es aber schon so, dass es eher Sympathien für die linke Szene gibt als für die rechte. 

Sie meinen: in Berlin.
Na ja, wir haben einen rot-rot-grünen Senat. In Berlin haben SPD, CDU, Grüne, Linke, FDP und Piraten 2016 eine Resolution gegen Rechtsextremismus unterschrieben, aber keine gegen Linksextremismus. Das zeigt ja schon, in welche Richtung es geht. 

Der Bundesverfassungsschutz hat gesagt, einige Rechtsextreme würden zwar bei Anti-Corona-Demos mitmischen, sie prägten aber weder das Geschehen noch die Debatte. Deckt sich das mit Ihrer Einschätzung in Berlin?
Nein, die Situation hat sich geändert. Ich glaube, dass die Corona-Proteste von Rechtsextremisten und Reichsbürgern gekapert wurden. Der von Ihnen zitierte Verfassungsschutzbericht datiert vom August. Daran sieht man mal, wie schnell sich die Lageeinschätzung verändern kann. Dazwischen liegen zwei Großdemos in Berlin, die am 1. August und die am 29. August. Man hat deutlich gesehen, dass die Masse der Teilnehmer nicht extremistisch eingestellt ist, aber mit Rechtsextremisten mitläuft.

Was wäre die Alternative: zu Hause zu bleiben?
Nein, aber die Leute müssen sich fragen, mit wem sie da zusammen laufen und von wem sie sich instrumentalisieren lassen. Es reicht dann eben nicht, zu sagen: „Das geht mir zu weit, dass Ihr die Reichstagstreppe stürmt.“ Man muss sich klar distanzieren und einen anderen Weg für den legitimen Protest finden. 

Aber das Bild, das jetzt von der Demo hängenbleibt, ist das vom „Reichstagsststurm“. Spielt das den Rechten in die Hände? 
Das ist leider so. 

Stimmt es, dass die Demo insgesamt friedlich verlaufen ist?
Nein, das kann man nicht sagen. Es gab diverse Straftaten sowie Stein- und Flaschenwürfe auf unsere Kollegen. An dem Tag wurden über 30 Polizisten verletzt. 

Es gibt aber auch Bilder, die Gewalt von Polizei dokumentieren. Eins zeigt, wie drei Beamte über einer schreienden Frau knien. Einer schlägt ihr in den Rücken. Für einen PR-Film über die Polizei taugen solche Bilder nicht. 
Definitiv nicht. Aber Bilder von Festnahmen sehen selten schön aus. Solchen Szenen geht immer etwas voraus. Gerade in diesem Fall hat die Frau Widerstand geleistet und den Vorgaben nicht Folge geleistet. Die Polizei muss im Ernstfall Gewalt anwenden, um Gesetze durchzusetzen. Wer die Rechtmäßigkeit anzweifelt, kann juristisch dagegen vorgehen und das im Rechtssstaat überprüfen lassen. Jeder Polizist trägt eine Nummer oder ein Namensschild. Er ist identifizierbar. 

Im Internet wurde die Meldung verbreitet, die Demonstrantin sei gestorben. 
Das habe ich auch gelesen. Ich kann Ihnen sagen: Die Frau erfreute sich bester Gesundheit, als sie von der Polizei entlassen wurde. 

Wenn es nach dem Innensenator gegangen wäre, hätte die Demo gar nicht stattfinden dürfen. Zwei Verwaltungsgerichte haben das Verbot jedoch gekippt. Jetzt sagt der Innensenator, es sei genau das eingetroffen, was er befürchtet hat. Gehört der Reichstagssturm auch dazu? 
Nein, ich glaube, das konnte niemand vorhersehen. Sonst hätte der Innensenator die Polizei ja angewiesen, das Gebäude besonders zu schützen. Dem Innensenator ging es vor allem um die Gewalt und die zahlreichen Verstöße gegen das Infektionsschutzgesetz. Die Versammlungsbehörde hat die Demo und die dazugehörigen Anmeldungen auf Basis der Erfahrungen von Anfang August abgelehnt, was wir absolut nachvollziehen können. Ob das Verbot handwerklich sauber war, müssen andere entscheiden. Vielleicht würde das Verwaltungsgericht das Verbot nach den Ereignissen von diesem Wochenende auch anders bewerten. 

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