Demokratien in der Krise - Die Grenzen der Langsamkeit

Egal, ob es um den Brexit, die SPD-Urwahl oder die Koalitionsfindung in den Ländern geht: Manche Entscheidungen bläht die Politik ohne Not auf. Dabei ist es ein Luxus, dass sich die Demokratie Zeit lassen kann – und eine Gefahr, wenn sie die Geduld der Bürger überstrapaziert

Organisierte Verantwortungslosigkeit: Die SPD lässt ihre Mitglieder abstimmen über eine neue Spitze/ picture alliance
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Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

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Geduld ist zur Zeit eine gefragte Eigenschaft bei Menschen, die sich fürs politische Geschehen interessieren. 142 Tage haben sich die deutschen Sozialdemokraten gegönnt für ihre erste Etappe auf der Suche nach einem neuen Vorsitzendenpaar, noch ohne endgültiges Ergebnis. Seit dreieinhalb Jahren versucht Großbritannien vergeblich, geregelt aus der Europäischen Union auszutreten, die nächste angeblich finale Deadline wackelt auch schon wieder. Deutschland hatte sich nach der vergangenen Bundestagswahl auch ein gutes halbes Jahr geleistet, bis es wieder eine Regierung hatte. Und auch in Sachsen, Wahltag war am 1. September, ist noch lange nicht sicher, ob bis Weihnachten eine neue Landesregierung steht.

Demokratie ist langsam, und das ist im Prinzip auch gut so. Das System der Checks and Balances, die Berücksichtigung der Rechte Einzelner (etwa beim Bau von Stromtrassen), die edle Suche nach dem Kompromiss, all das macht diese Staatsform zur Besten unter den Schlechten, wie Winston Churchill einmal pointiert bemerkt hat. Es ist ja vielleicht auch gar nicht erstrebenswert, einen Großflughafen in nur fünf Jahren zu bauen, wie zuletzt in Peking, weil die Vermutung naheliegt, dass hier Anwohnerrechte buchstäblich plattplaniert werden. Die Frage aber ist: Muss es sein wie in Berlin, dass der ursprüngliche Eröffnungstermin schon acht Jahre überschritten ist und immer noch keine Ende des Buddelns und Bauens in Sicht?  

Wie demokratisch ist Trump?

Die Demokratie verhält sich zur Diktatur wie die Schallplatte zur MP3-Datei. Sie ist die analoge Staatsform in einer digital beschleunigten Welt. Sie ist lange Zeit ein Exportschlager der westlichen Welt gewesen, wie der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama in seinem jüngsten Buch beschreibt. Fukuyama  merkt aber auch an, dass der Zenit der weltweit existierenden Demokratien überschritten ist. Zwischen 1970 und dem Beginn des 21. Jahrhundert sind sie von weltweit 35 auf 120 angewachsen. Seit Mitte der Nullerjahre habe sich dieser Trend jedoch umgekehrt, und die Anzahl der demokratischen Staaten ist wieder gesunken.

Diese Staatsform steht also unter Druck, unter einem globalen Wettbewerbsdruck, unter dem sich ein autoritärer Staatskapitalismus wie in China als enorm effektiv und effizient erweist. Umso mehr sind die liberalen westlichen Demokratien gehalten, einen verantwortungsbewussten Umgang mit dieser Staatsform zu wahren. Der amtierende amerikanische Präsident etwa lässt Zweifel an seiner demokratisch-sittlichen Reife zu, wenn er regelmäßig mit dem präsidialen Instrument des Dekrets regiert, das das Parlament aushebelt und deshalb nur für den absoluten Ausnahmefall gedacht ist. Er lässt Zweifel an seiner demokratischen Gesinnung  zu, wenn er sein Amt missbraucht, um belastendes Material seines gefährlichsten Herausforderers bei der nächsten Wahl zu sammeln. Solche autoritären Tendenzen innerhalb eines demokratischen Systems sind auch in Europa zu betrachten, wenn etwa der ungarische Premier Viktor Orban eine illiberale Demokratie für erstrebenswert hält.

Ausfransungserscheinungen durch Unterlassen

Das sind Ausfransungserscheinungen, weil Akteure das gebotene Verantwortungsbewusstsein gegenüber dem hohen Gut der Demokratie vermissen lassen. Das tun aber auch jene, die die demokratischen Mühlen noch langsamer mahlen lassen als nötig. Und die diesen Prozess nutzen, um ihre parteipolitischen Spielchen auf Kosten der Allgemeinheit zu spielen. Beim endlosen Brexit kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Opposition im Unterhaus nicht an einer Lösung interessiert war, sondern daran, die Regierung im Chaos zu belassen.

Ausfransungserscheinungen zeigen sich aber auch, wenn vor lauter Scheu vor einer Entscheidung Prozesse ohne Not in die Länge gezogen werden. Das zeigt sich an den immer ausufernderen Koalitionsverhandlungen, hierzulande und in anderen europäischen Demokratien. Die Urwahl, wie sie nun die Sozialdemokraten vorexerzieren, hat auch etwas mit dieser Entscheidungsscheu zu tun. Und mit mangelndem Vertrauen. Statt Delegierte eines Parteitages mit diesem Mandat zu betrauen, soll es die Gesamtheit entscheiden. Das ist keine Stärkung der innerparteilichen Demokratie, sondern ihre Schwächung.

Abstimmung mit den Füßen

Denn die repräsentative Demokratie ist der direkten basisdemokratischen haushoch überlegen. Sie führt zu klaren Ergebnissen in überschaubarer Zeit. So wird es nun ein halbes Jahr andauern, dass die SPD keine Führung mit wirklicher Prokura hat. Sie ist schlicht nicht präsent für diese lange Zeit: Oder hat jemand einen einzigen politischen Impuls bemerkt, der von der verbliebenen kommissarischen Vorsitzenden Malu Dreyer ausgegangen wäre?

Die liberale westliche Demokratie ist nach wie vor die freiheitlichste Form eines Gemeinwesens. Es ist nicht ohne Grund so, dass die globale Migration aus Theokratien im Mittleren Osten und dem Petro-Populismus Lateinamerikas heraus in Richtung Westen stattfindet. Das ist eine Herausforderung. Aber auch ein Kompliment, eine Abstimmung mit den Füßen. Man sollte mit dieser besten unter den schlechten Staatsformen verantwortungsbewusst umgehen und sie nicht der Lächerlichkeit preisgeben. Wie das beim endlosen Brexit und  der monatelangen Vorsitzendensuche der SPD  leider der Fall ist.

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