Demokratie - Wie der Individualismus das Parteiensystem zerstört

Kolumne: Grauzone. Demokratie basiert auf einem Grundkonsens und der Fähigkeit, Kompromisse einzugehen. Doch das Kennzeichen der Moderne ist der Individualismus. Wie lange können sich die klassischen Parteien noch halten?

Demokratie in Zeiten der Ausdifferenzierung: jeder Sub-Gruppe ihre Partei / picture alliance
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Der Individualismus ist das Kennzeichen der Moderne. Darin sind sich die meisten Beobachter einig. Und auch die Alltagserfahrung bestätigt das. Schließlich wollen wir alle ja ganz und gar einzigartig sein, autonom und unverwechselbar. Und so versorgt uns die Massengüterindustrie mit den Insignien eines echten individuellen Lebensstils: dem ganz persönlichen Outfit, der neuesten Extremsportart, und der Individualurlaub ist ohnehin gebucht.

Wie sehr die Ideologie des Individualismus unsere Gesellschaft bestimmt, sieht man auch daran, dass es kaum bekennende Antiindividualisten gibt. Zwar gibt es das übliche kulturkritische Dauerlamento über die Atomisierung und Individualisierung unserer Gesellschaft, über schwindenden Zusammenhalt und die allgegenwärtige Selbstsucht. Doch auf seinen persönlichen individualistischen Lebensstil verzichtet deshalb natürlich niemand. Denn der böse Individualist ist im Zweifelsfall immer der andere.

Doch in individualistischen Gesellschaften schwindet zunehmend der normative Konsens. Das liegt in ihrer Logik. Denn wenn jeder ganz individuell und einzigartig sein will, nimmt die Schnittmenge allgemein verbindlicher Ideale ab.

Fehlende Kompromissbereitschaft

Für das demokratische System hat das verheerende Folgen. Denn Demokratie basiert auf einem Grundkonsens und der Fähigkeit, Kompromisse einzugehen. Doch das emanzipierte Individuum möchte keine Kompromisse eingehen. Schließlich bedeutet jeder Kompromiss Einschränkung. Und Einschränkungen sind das Letzte, was das nach Autonomie und Einzigartigkeit strebende Individuum erträgt. Denn nichts ist emanzipationsfeindlicher als der Kompromiss.

Das Ergebnis: In individualistischen Gesellschaften zersplittert sich die politische Landschaft. Bestanden die alten Demokratien – die USA etwa oder Großbritannien – aus Zweiparteiensystemen, so differenziert sich das Parteieinspektrum in postindustriellen Gesellschaften zunehmend auf. Selbst Parteineugründungen wie die AfD, die von der verlorenen Bindungskraft der alten Volksparteien profitieren, haben Probleme, ihre jeweiligen Flügel zusammenzuhalten.

Konsequenterweise organisiert sich das politische Angebot immer stärker entlang von Special Interest Groups: Da gibt es die Veganerpartei, die Tierschutzpartei und die Yoga-Partei. Die Progressiven aus den Berliner Ostbezirken schicken die Bergpartei ins Rennen, bayerische Traditionalisten setzen auf die Bayernpartei, für Frauen gibt es die Frauenpartei, für fundamentalistische Christen die PBC, und wer das nur noch mit Sarkasmus erträgt, der wählt „Die Partei“.

Machen wir uns nichts vor: Ohne die 5-Prozent-Hürde würde die eine oder andere dieser Parteien in signifikanter Stärke in den Bundestag einziehen.

Jamaika-Koalition als Kompromissformel

Das Problem dabei: Ein sich zunehmend ausdifferenzierendes Parteienspektrum blockiert sich selbst. Die mangelnde Kompromissbereitschaft in einer sich heterogenisierenden Politlandschaft führt in der politischen Praxis paradoxerweise zu immer übergreifenden Kompromissformeln: etwa zu einer Jamaika-Koalition. Also genau zu dem Gegenteil dessen, wonach sich die auf individuell maßgeschneiderte Programme fixierte Wählerschaft sehnt.

Denn dort reicht zunehmend die kleinste Abweichung vom persönlichen Meinungspotpourri, um eine Partei unwählbar zu machen. Man kann das als ideologische Verhärtung missverstehen. Im Grunde aber ist es Ausdruck einer Entideologisierung, also der Unfähigkeit, persönliche Perspektiven zugunsten grundlegender Weltanschauungen auszublenden.

Diese Entideologisierung ist zunächst kein Nachteil. Immerhin können Ideologen ziemlich anstrengend sein. Allerdings droht die zunehmende Neigung zur politischen Idiosynkrasie, das politische System zu demontieren.

Ende der Parteiendemokratie?

Denn Demokratien in der Moderne sind Parteiendemokratien. Und Parteien leben von der Verankerung in sozialen Großmilieus (der Arbeiterschaft, dem Bürgertum, den Katholiken), deren Interessenausgleich sie organisieren. Doch eine Gesellschaft, die sich im Namen der Individualisierung in zahlreiche Sub- und Kleinmilieus ausdifferenziert, kann eine Parteindemokratie nicht mehr effizient abbilden.

So gesehen ist der Ruf nach direkter Demokratie bei weitem nicht so anachronistisch, wie er zunächst erscheint. Vielleicht ist die direkte Demokratie langfristig sogar die einzige Möglichkeit, Politik effizient und ohne Blockaden zu organisieren. Abgesehen davon, dass einer individualisierten Gesellschaft eine direkte Demokratie ohnehin besser zu Gesicht steht als eine Politik, die von politischen Großorganisationen geprägt wird.

Parteien sind Produkte des 19. Jahrhunderts. Vieles spricht dafür, dass ihre Geschichte sich dem Ende zuneigt.

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