Debatte um Impfquote - Wielers Zahlenzauber

Das Robert Koch-Institut geht von mehr Geimpften aus, als offiziell erfasst wurden. Die entscheidende Frage ist aber nicht die nach der wahren Impfquote. Vielmehr muss endlich geklärt werden, warum man am RKI von einem statistischen Fehltritt zum nächsten stolpert.

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (r) und Lothar Wieler, Präsident des Robert Koch-Instituts / dpa
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Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Die Wahrheit ist ein gar seltsam Ding: Oft steht sie über Monate hinweg wie der sprichwörtliche Elefant im Raum, verstellt dort jegliche Sicht und Perspektive, geht mit lautem Getöse auf und ab, und dennoch scheut man sich, ihr auch nur ein einziges Mal vorurteilsfrei ins Gesicht zu schauen. Und wenn man sich dann doch einmal näher mit ihr befasst, dann braucht es oft noch Wochen, manchmal gar Monate oder Jahre, bis sie sich im öffentlichen Bewusstsein als das vorstellt, was sie wohl wirklich ist: die Wahrheit nämlich, und nichts als die Wahrheit.

So oder ähnlich verhält es sich dieser Tage wohl auch mit dem abermaligen Zahlensalat am Robert Koch-Institut (RKI): In einem Bericht von vergangenem Donnerstag nämlich hatte das Bundesinstitut im Geschäftsbereich des Gesundheitsministeriums mit einem Mal Zweifel an sich selbst geäußert – genauer gesagt, an den Zahlen, die man dort tagein, tagaus zur Corona-Impfquote aneinandergereiht hatte. In nahezu buchhalterischer Fleißarbeit hatte man so über die zurückliegenden zehn Monate seit Beginn der Impfkampagne eine Impfquote von 79,1 Prozent für mindestens einmal geimpfte Erwachsene errechnet, während sie für vollständig Geimpfte bei 75,4 Prozent liegen sollte.

Verduztes Augenreiben

Doch, oh weh! Ein Rechenfehler hatte sich eingeschlichen. Es müsse, so ein nun veröffentlichter Bericht des Instituts, „eine Unterschätzung von bis zu fünf Prozentpunkten für den Anteil mindestens einmal Geimpfter beziehungsweise vollständig Geimpfter angenommen werden“. Also den Rechenschieber wieder auf null gesetzt und noch einmal ganz von vorne addiert. Vorläufiges Endergebnis: Es sei „in der Erwachsenenbevölkerung von einem Anteil mindestens einmal Geimpfter von bis zu 84 Prozent und einem Anteil vollständig Geimpfter von bis zu 80 Prozent auszugehen“.

Während Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) also schon fröhlich jubilierte, weil die Impfkampagne aus seiner Sicht wohl noch erfolgreicher als bis dato prognostiziert verlaufen sei, rieb man sich bei Spahns Länderkollegen verdutzt die Augen: „Wir brauchen Klarheit und Wahrheit in der Frage der Daten“, mahnte etwa am vergangenen Montag Klaus Holetschek (CSU), Vorsitzender der Gesundheitsministerkonferenz, und forderte dazu auf, das Datenchaos am RKI einmal genauer unter die Lupe zu nehmen.

Richtiger Zwischenruf

Die FDP-Gesundheitsexpertin Christine Aschenberg-Dugnus ging in ihrer Kritik am Institut und an dessen Leiter Lothar Wieler noch ein Stück weiter: „Wir haben schon vor Monaten geahnt, dass die Impfrate zu niedrig ausgewiesen wird“, so Aschenberg-Dugnus jüngst gegenüber der Bild-Zeitung. „Jetzt haben wir Oktober, und Herr Wieler korrigiert die Quote um fünf Prozent nach oben. Und es wird so getan, als wäre das ein Erfolg.“

Streng genommen hat Aschenberg-Dugnus mit ihrem Zwischenruf recht – und das nicht, weil sie das mathematische Malheur mit geradezu prophetischer Hochbegabung vorausgesehen, sondern weil das RKI selbst bereits Mitte August auf den nun erneut zur Debatte stehenden Fehler hingewiesen hatte. Es habe, so hieß es schon damals aus dem Hause Wieler, bei der Interpretation der Impfquoten-Daten „gewisse Unsicherheiten“ gegeben. So legte ein Impfreport bereits im Sommer den Verdacht nahe, dass die Meldungen im digitalen Impfquotenmonitoring des RKI höchstwahrscheinlich nach oben korrigiert werden müssten. Grund für die Untererfassung seien vermutlich nicht erfasste Meldungen von gut der Hälfte der Betriebsärzte sowie Meldeschwierigkeiten bei dem Impfstoff von Johnson & Johnson.

Drosten meldet sich

Die Frage ist also längst nicht mehr, wie es zu der eigentümlichen Entkoppelung von Statistik und tatsächlichem Vakzin-Einstich beim RKI kommen konnte – auf dieses Missverhältnis hat gestern sogar Christian Drosten in seinem regelmäßigen Podcast „Coronavirus-Update“ hingewiesen. Die eigentliche Frage lautet vielmehr, warum man über Wochen hinweg von der arithmetischen Fehlleistung gewusst hat, sich aber dennoch nicht bemüßigt sah, den Fehler am ehrwürdigen Institut an der Berliner Seestraße abzustellen.

Wenn man das aktuelle Problem also mit der „Warum-Frage“ untersucht, ist man schnell bei der wahren Dimension des Koch’schen Zahlenzaubers und stößt so nach und nach auf Buchhaltungsfehler, die noch ganz andere Fragen berühren könnten: So haben etwa seit Beginn der Pandemie international renommierte Statistiker und Epidemiologen immer wieder mahnend darauf hingewiesen, dass viele Zahlen aus dem täglichen Corona-Dashboard in keinem Verhältnis zum wahren Epidemie-Geschehen stünden. Politik, Wissenschaft, aber auch der interessierten Öffentlichkeit war das allerdings weitestgehend egal.

Maßnahmenpolitik im Blindflug

Jüngst etwa hat der Medizinstatistiker Gerd Antes im Interview mit dem Cicero noch einmal darauf aufmerksam gemacht, dass man es am RKI konsequent unterlassen habe, eine repräsentative Kohortenstudie zu erstellen – eine Studie also, mit deren Hilfe man ganz Deutschland bequem durch eine repräsentative Gruppe aus 40.000 bis 60.000 Menschen hätte abbilden können. „Man hätte von all diesen Menschen regelmäßig die notwendige Anzahl an Proben nehmen können, um so zu begreifen, was im zeitlichen Verlauf in der Gesamtbevölkerung passiert. Das aber ist nicht wirklich geschehen“, so Antes im Gespräch mit Cicero. Die Folge: Eine Maßnahmenpolitik im Blindflug, die man an ihren besonders pseudowissenschaftlichen Stellen ganz sicher mit einem Aluhütchen hätte krönen können.

Über die Gründe für diesen fundamentalen Fehler im politischen Handeln ist immer wieder spekuliert worden. Doch offensichtlich sind bis dato nur die Interessenkonflikte – auch und gerade am RKI. Lothar Wieler selbst etwa entpuppt sich bei genauer Betrachtung ja nicht als jenes unabhängige Zahlengenie, als das er in vielen Medien gern dargestellt wird; bei dem 60-jährigen Veterinärmediziner handelt es sich eher um einen Graf Zahl im gehobenen Beamtenstand, dessen Handeln weisungsabhängig vom Bundesgesundheitsminister ist. Sehr offensichtlich wurde diese enge Symbiose zwischen Wieler und der ihn finanzierenden Exekutive durch eine Anfang des Jahres im Zuge einer Auskunftsklage erwirkten Offenlegung einer Korrespondenz, die im März 2020 im Bundesinnenministerium entstanden sein soll.

Politische Ziele wichtiger als wissenschaftliche Evidenz?

In diesen Mails zwischen dem Staatssekretär des Bundesinnenministeriums, Markus Kerber, dem RKI-Chef Lothar Wieler sowie fünf namentlich nicht weiter bekannten Wissenschaftlern forderte Kerber damals nicht nur eine „maximale Kooperation“ mit seinem „Freund und Nachbarn“ Lothar Wieler, nein Wieler und andere Mitarbeiter des RKI selbst gaben hier immer wieder zu erkennen, dass politische Ziele letztlich wichtiger als wissenschaftliche Evidenz seien. Damit, so das Fazit der damals auf Offenlegung klagenden Medizinrechtlerin Marion Rosenke, sei der Grundstein für Unwissenschaftlichkeit, fehlende Empirie und fehlende Evidenz gelegt worden. Ein Grundstein, der sich durch die gesamte Krise wie ein roter Faden zöge.

Nun also scheint der Fehlerteufel ausgerechnet bei der Impfquote, also jener zuvor bereits festgelegten Freiheitsmarke für die Wiedereinführung unveräußerlicher Grundrechte, zuzuschlagen. Für die FDP-Politikerin Christine Aschenberg-Dugnus ist das der Beweis, dass das RKI zu nah dran sei an der Linie der Bundesregierung. „Wir machen uns dafür stark, dem RKI künftig politische Unabhängigkeit zu garantieren“, so Aschenberg-Dugnus am vergangenen Wochenende im Bild-Interview. Eine sicherlich sinnvolle Forderung. Für unsere Grundrechte indes und für den nüchternen und wissenschaftlichen Blick auf das epidemische Geschehen kommt sie 20 Monate zu spät.

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