Debatte um Impfpflicht - Moralische Spaltung?

Beim Thema Impfen fördert die Bundesregierung mit einer Mischung aus Angstmache, Drohung und Ausgrenzung ein toxisches gesellschaftliches Klima. Dabei wäre die Lösung recht einfach. Die Regierung könnte sich offen dazu bekennen, die Impfpflicht einführen zu wollen. Darüber ließe sich wenigstens diskutieren und streiten, meint unser Gastautor.

Eine Frau hält während einer Protestkundgebung ein Schild mit dem Foto von Gesundheitsminister Spahn / dpa
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Wolfgang Kubicki ist stellvertretender FDP-Bundesvorsitzender und Bundestagsvizepräsident. (Foto: dpa)

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In den aktuellen Diskussionen über 3G in Zügen, über 2G in Restaurants oder über berufliche Konsequenzen für Ungeimpfte wird fast immer vergessen, was die eigentliche Aufgabe des Verfassungsstaates ist: Dessen Aufgabe ist nicht, die nächste Stufe der Einschränkung zu zünden, sondern schnellstmöglich in einen grundrechtlichen Normalzustand zurückzukehren. Man kann es nicht oft genug betonen, dass die Verfassung auch und gerade in Zeiten einer Pandemie zu gelten hat. Insofern müssen die staatlichen Verantwortungsträger alles, was notwendig und geboten ist, dafür tun, den Ausnahmezustand so bald wie möglich zu beenden.

Unser Grundgesetz will nicht nur idealerweise die größte Freiheit für alle, es ist auch auf die gesellschaftliche Integration möglichst aller Menschen im Land angelegt. Zum Beispiel soll die durch Artikel 5 des Grundgesetzes garantierte Meinungsfreiheit genau dies gewährleisten: Sie soll jedem Einzelnen, jeder Minderheit und jeder Interessensvertretung die Chance geben, sich in die Debatte einzubringen, um damit Teil des gemeinsamen Fortschrittsprozesses zu werden. Die Verfassungsmütter und -väter sahen hierin ein unerlässliches Element, um den gesellschaftlichen Frieden selbst bei größeren gesellschaftlichen Konflikten zu wahren.

Gesellschaftliche Desintegration

Was passiert aber, wenn Vertreter dieses Verfassungsstaates sich über diesen grundsätzlichen Integrationsgedanken hinwegsetzen und vielmehr selbst dafür sorgen, eine gesellschaftliche Desintegration von Menschen aktiv zu betreiben? Wer sorgt dann für den gesellschaftlichen Frieden, wenn der Staat Menschen in größerer Zahl den Rücken zudreht?

Die Bundesregierung hat in der Corona-Krise mehrfach Gruppen ins moralische oder tatsächliche Abseits gestellt: Im Dezember waren es etwa Glühweintrinker oder Silvesterböllerer, die angeblich das Pandemiegeschehen antrieben. Im Frühjahr gerieten dann Mallorcareisende in den Fokus; diese suchten zwar eine Destination auf, die zu diesem Zeitpunkt kein Risikogebiet mehr war, aber das spielte für die politische Botschaft damals keine Rolle. Und jetzt sind es die Ungeimpften, die sich erdreisteten, das heilige Versprechen dieser Regierung – es werde keinen Zwang zur Impfung geben – ernst zu nehmen. Indem ein Ministerpräsident wie Tobias Hans aus dem Saarland erklärt: „Mit Impfen zeigt man Solidarität, mit Impfverweigerung zeigt man Egoismus“, offenbart sich ein Menschenbild, das unsere Verfassung jedenfalls nicht teilt. In einer solchen Gedankenwelt ist moralisch richtig, was der Denunzierung und der Ausgrenzung für einen angeblich höheren Zweck dient.

Persönliches, selbst gewähltes Risiko

Wer nun erklärt, die Einschränkungen, die die Exekutive aktuell für die Ungeimpften vorgibt, seien keine Impfpflicht durch die Hintertür, sollte sich besser informieren. Denn beispielsweise mit den 2G-Maßnahmen, wie sie in Hamburg eingesetzt wurden, spielt der Staat über Bande, wenn er Private für seine Zwecke einbindet. Die Gastronomen und Veranstalter werden so in die öffentliche Pflicht genommen, und sollen das umsetzen, was der Staat sich offen nicht umzusetzen traut. Er schafft damit faktisch die Impfpflicht.

Abgesehen davon: War es nicht auch das große Versprechen dieser Bundesregierung, im Herbst sämtliche Freiheiten auch für Ungeimpfte wiederherzustellen, wenn jede und jeder die faire Möglichkeit hatte, sich über eine Impfung immunisieren zu lassen? Damit würde sich die gesamte Debatte über Ausgrenzung, Egoismus und Unsolidarität erübrigen. Dänemark ist diesen Weg sogar schon gegangen, nachdem jede und jeder über 50 sich impfen lassen konnte. Das „Impfbuch für alle“, das das Robert Koch-Institut im Juni dieses Jahres veröffentlicht hatte, sprach ebenfalls davon, dass ab Herbst dann alle Ungeimpften einzig das persönliche, selbst gewählte Risiko zu tragen hätten, an dem Virus zu erkranken und zu sterben. Dies kannte man vor Corona noch als das „allgemeine Lebensrisiko“. Warum gilt heute nicht mehr, was vor wenigen Wochen noch versprochen wurde? Und warum setzt die Bundesregierung stattdessen auf das Element der moralischen Spaltung?

Unfreies Klima

Der mentale Schaden, den die Bundesregierung anrichtet, ist jedenfalls enorm. Denn es werden nicht nur die Corona-Ziele immer wieder ins Unerreichbare geschoben und damit ein Dauer-Frustrationszustand geschaffen. Es wird auch mit einer Mischung aus Angstmache, Drohung und Ausgrenzung ein toxisches gesellschaftliches Klima befördert. Schuldige werden an den Pranger gestellt, vom saarländischen Ministerpräsidenten als Egoisten bezeichnet, und können so mit entsprechender moralischer Rückendeckung des Staates unfair behandelt werden. Dass dieses unfreie Klima die Pandemie übersteht, ist sehr wahrscheinlich. Wir werden noch lange an der Verhärtung der gesellschaftlichen Fronten zu tragen haben. Dabei wäre die Lösung recht einfach. Die Bundesregierung könnte sich offen dazu bekennen, die Impfpflicht einführen zu wollen. Darüber könnte man wenigstens streitig diskutieren. Das passiv-aggressive Vorgehen, das sie jetzt mit ihren Verbrämungsversuchen an den Tag legt, macht viel mehr kaputt als ein harter demokratischer Streit über eine falsche Maßnahme.

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