Debatte um Impfpflicht - Not kennt ein Gebot

Gesundheitsminister Spahn macht sich jetzt stark für ein „Impfgebot“ in Abgrenzung zu einer „Impfpflicht“. So droht der Staat nicht mit Strafen, macht aber klar: Wer sich dem Impfen verweigert, verhält sich unsozial. Doch das Private zum Öffentlichen zu machen, davor sollte sich die Politik hüten.

Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) bei einer Pressekonferenz Foto: Michael Kappeler/dpa
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Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Jens Spahn hat gewiss viele Qualitäten. Man tritt ihm jedoch nicht zu nahe, wenn man feststellt, dass er als großer Denker bisher eher nicht aufgefallen ist. Am vergangenen Dienstag jedoch sorgte der Gesundheitsminister für eine Sternstunde der Moralphilosophie. „Wir brauchen“, sagte Spahn nach seinem Besuch des Robert-Koch-Instituts, „keine Impfpflicht, wir brauchen aber ein Impfgebot“.

Holla, die Waldfee – was für eine Ansage! Nicht Pflicht soll Impfen also sein, aber Gebot. Man kommt umgehend ins Grübeln. Was ist eigentlich die nachdrücklichere Aufforderung? Tatsächlich die Pflicht? Oder nicht doch das Gebot? Was Jens Spahn sagen wollte, ist klar: Der Staat droht Impfunwilligen nicht mit Strafen, er macht aber unmissverständlich klar, dass jeder sich impfen lassen sollte. Und wer sich dem verweigert, der verhält sich unsozial. Allein dieser Gedanke ist apart genug: Ganz offen äußert hier ein Bundesminister, dass renitente Bürger zwar nicht mit Zwangsmaßnahmen zu rechnen hätten (die ziemlich sicher ohnehin verfassungswidrig wären), aber dass ihre soziale Ächtung durchaus das Wohlgefallen des Staates fände.

Postautoritäre Gesellschaft

Spahn verheddert sich hier erheblich in das Dilemma eines Entscheidungsträgers in einer postautoritären Gesellschaft. Steile Hierarchien, autoritäre Anordnungen und Befehle gehören quasi in allen Bereichen der Gesellschaft der Vergangenheit an: von der Schule bis zum Unternehmen. Es wird nicht mehr verfügt, heutzutage wird man gebeten, motiviert oder abgeholt.

Was aber, wenn sich jemand nicht abholen lassen möchte? Dann bleibt nur ein Druckmittel: die soziale Anerkennung. Und mit deren Entzug droht der Minister in seiner Hilflosigkeit ganz offen. Der Fehler dabei: Als Minister ist er zuständig für die Belange der Öffentlichkeit. Und nur für die. Soziale Anerkennung ist aber Privatsache. Wer wen warum anerkennt oder nicht anerkennt, beruht auf persönlichen Vorlieben und Neigungen. Das Private zum Öffentlichen zu machen, davor sollte sich die Politik hüten.

Ein Gebot wird nur von Gott erlassen

Doch Spahns Intervention, man brauche keine Impfpflicht, aber ein Impfgebot, geht im Grunde sogar noch über den Wink mit dem Zaunpfahl der öffentlichen Ächtung hinaus. Verräterisch ist dabei seine Unterscheidung von Pflicht und Gebot. Eine Pflicht oder Verpflichtung ist nämlich etwas, das man als Individuum gegenüber einem Einzelnen oder einer sozialen Gruppe hat. Sie beruht auf einem Vertrag, einer Abmachung, einem Versprechen oder auf sozialen Konventionen. Einige Philosophen – Kant etwa – vermuteten auch eine Pflicht aus Vernunftgründen, aber das ist vielleicht etwas professoral gedacht.

Pflichten sind also etwas zwischen Menschen und Mitmenschen. Anders Gebote: Auch ohne langes Theologiestudium dröhnt einem der religiöse Unterton des Wortes „Gebot“ förmlich in den Ohren. Ein Gebot wird von Gott erlassen und sonst von niemandem. Allenfalls noch von gottgleichen Kaisern („Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging …“). Geboten widerspricht man nicht. Man hält sich an sie. Oder man ist ein Sünder. Und ein Sünder wiederum ist nicht einfach nur jemand, der gegen eine Regel verstoßen hat, sondern eine an sich verwerfliche Person.

Moralisch höher zu veranschlagen als eine Pflicht

Mit seiner Äußerung wollte Jens Spahn vermutlich beruhigen und gleichzeitig doch Druck aufbauen. Keine Pflicht, nur ein Gebot. Doch die Abstufung ist verräterisch. Denn ein Impfgebot ist moralisch weitaus höher zu veranschlagen als eine Impfpflicht. Einer Pflicht sollte ich nachgehen, auch wenn sie unsinnig sein mag. Wenn ich meine Pflichten vernachlässige, ist das zwar schlimm und kann Konsequenzen haben, aber die sind zumeist punktuell.

Anders Gebote. Gebote haben etwas Absolutes. Wenn ich gegen sie verstoße, dann mache ich nicht nur punktuell etwas falsch, sondern handele gegen eine ganze Weltordnung. Und in der Tat hat die Diskussion über Impfpflicht und Impfzwang inzwischen einen moralischen Unterton, der weit über pragmatische oder verfassungsrechtliche Erwägungen hinausgeht. Wieder einmal bekommt die Moral in der öffentlichen Debatte semireligiöse Züge. Eine ungute Entwicklung.

Körperliche Selbstbestimmung

Um nicht missverstanden zu werden: Ich denke, jeder sollte sich impfen lassen. Genauso wichtig ist es aber auch, dass jene, die das aus irgendwelchen Gründen ablehnen, nicht sanktioniert, benachteiligt oder sonst wie in Misskredit gebracht werden. Sie nehmen nämlich nur eines ihrer fundamentalsten Grundrechte war: das auf (körperliche) Selbstbestimmung. Und das zu schützen, ist oberstes Gebot des Staates. Das sollte auch ein Gesundheitsminister wissen.

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