Debatte um Ungeimpfte - Tyrannei der schrägen Argumente

Nach zwei Jahren Pandemie hat die Corona-Debatte ihren Tiefpunkt erreicht. Statt auf nüchterne Analyse setzen Politik, Teile der Medien und Bevölkerung zunehmend auf Emotionalisierung, seltsame Gleichsetzungen und schwarz-weiße Erklärungsmuster, die arg unterkomplex daherkommen. So wird kein Ungeimpfter von einer Impfung überzeugt.

Eine Mitarbeiterin zieht im Corona-Impfbus in Berlin-Mitte eine Spritze mit dem Impfstoff von Biontech auf / dpa
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Autoreninfo

Ben Krischke ist Leiter Digitales bei Cicero, Mit-Herausgeber des Buches „Die Wokeness-Illusion“ und Mit-Autor des Buches „Der Selbstbetrug“ (Verlag Herder). Er lebt in München. 

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„Na herzlichen Dank! An alle Ungeimpften. Dank euch droht der nächste Winter im Lockdown.“ Mit diesen Worten beginnt ein vielbeachteter Tagesthemen-Kommentar der ARD-Hauptstadtkorrespondentin Sarah Frühauf. Was folgt, ist eine Abrechnung mit allen Pandemie-Delinquenten, die sich der Corona-Impfung partout verweigern. „Alle Impfverweigerer müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, an der derzeitigen Situation mitschuldig zu sein“, so Frühauf. Und sie sagt auch, dass sich die Ungeimpften fragen müssten, „welche Mitverantwortung sie haben an den wohl tausenden Opfern dieser Corona-Welle“.

Frühaufs Plädoyer für eine gesetzliche Impfpflicht – darauf läuft der Kommentar hinaus – ist ein guter, ein sehenswerter Beitrag. Nicht unbedingt des Inhalts wegen, über den auch in den sozialen Medien heftig gestritten wurde, sondern der Ehrlichkeit wegen. Wer Frühauf zusieht und lauscht, der sieht und hört eine wütende Kommentatorin, die ihren ganzen Corona-Frust in gut 75 Sekunden packte und ihn am liebsten hinausgeschrien hätte in die Welt.

Jeder gegen jeden

Ihre Wut kann man der ARD-Korrespondentin nicht verdenken. Denn wütend sind derzeit viele Menschen im Land. Die Impfbefürworter sind wütend auf die Impfgegner und andersrum. Die Politik ist wütend auf die Impfskeptiker, die weiterhin abwarten wollen. Und die Verfechter einer strikten Corona-Politik sind wütend auf all jene, die im Zweifel für die Freiheit und gegen den Impfzwang argumentieren. Im Show-Wrestling nennt man das einen „Royal Rumble“. Jeder gegen jeden – und manchmal auch zu zweit. 

Weil das so ist, hat die Corona-Debatte in diesem November 2021 ihren Tiefpunkt erreicht. Zunehmend hysterisch wird gestritten und immer häufiger radikal vereinfacht, wenn die Botschaft stimmt. Die Folgen sind absurde Vergleiche, verdrehte Begriffe und schwarz-weiße Erklärungsmuster, die sich in der Presse und in den sozialen Medien zwar großer Resonanz erfreuen; bei näherer Betrachtung aber derart unterkomplex daherkommen, dass man 200 Jahre nach der Aufklärung ernsthaft fragen muss, ob es nicht dringend an der Zeit wäre für die nächste.

Ungeimpft ist nicht gleich ungeimpft

Viel zu lesen ist derzeit etwa von einer „Pandemie der Ungeimpften“ oder gar von einer „Tyrannei der Ungeimpften“, wie es Weltärztepräsident Frank Ulrich Montgomery formulierte. Die Begründung lautet immer gleich: Ungeimpfte tragen in höherem Maße zur Pandemie-Entwicklung bei und haben insgesamt ein höheres Risiko, schwer an Covid-19 zu erkranken – und damit auch, auf der Intensivstation zu landen. Ungeimpfte sind demnach also nicht nur ein Risikofaktor für sich selbst, sondern für das gesamte Gesundheitssystem und den weiteren Verlauf der Corona-Pandemie.

Da ist durchaus was dran. Zwar scheint sich der Glaube, dass Geimpfte deutlich weniger ansteckend sind als Ungeimpfte langsam zu relativieren. Nach allem, was man derzeit weiß, ist das Risiko der Ungeimpften aber dennoch deutlich höher, schwer an Covid-19 zu erkranken. Daraus auf den einzelnen Ungeimpften zu schließen und darauf, inwieweit er Risikofaktor für sich und andere ist, macht trotzdem keinen Sinn.

Ein Ungeimpfter, der sich regelmäßig testen lässt und etwa Abstandsregeln einhält, ist wahrscheinlich weniger Risikofaktor als der einzelne infizierte Geimpfte, der arglos und ungetestet von Hausparty zu Hausparty streift. Ist der Mensch zudem noch jung, gesund und bestenfalls gut durchtrainiert, hat er ohnehin ein deutlich geringeres Risiko, schwer an Covid-19 zu erkranken; gar keins eigentlich. Das gilt für Geimpfte und Ungeimpfte gleichermaßen.

Sicherheit ist relativ

Es entbehrt also einerseits nicht einer gewissen Ironie, wenn dickbäuchige Mitfünfziger mit dem Finger auf ungeimpfte Spitzensportler wie Joshua Kimmich vom FC Bayern München zeigen. Andererseits liegt doch auf der Hand, dass der Fokus auf den vulnerablen Gruppen liegen muss – und darauf, was man tun kann, um sie bestmöglich zu schützen. Denn sie sind gefährdet, solange das Virus existiert. Und für sie kann ein Geimpfter genauso zum Risiko werden wie ein Ungeimpfter.

Ob das eine wahrscheinlicher ist als das andere wird spätestens dann zur Makulatur, wenn’s den nächsten Risikopatienten trifft. Oder dann, wenn Menschen wegen Covid-19 auf der Intensivstation behandelt werden müssen, obwohl sie geimpft sind. Sicherheit ist eben relativ, gerade in pandemischen Zeiten. Das ist kein Zynismus, sondern Realismus. Und Körper, geimpfte wie ungeimpfte, reagieren eben unterschiedlich auf eine Infektion mit dem Corona-Virus. Ganz egal, ob man Geimpfte und Ungeimpfte nach bester identitätspolitischer Manier in heterogene Gruppen einteilt, um dann im solidarischen Kollektiv über Letztere herzufallen.

Apropos Joshua Kimmich: In der Debatte um den Impfstatus des Fußballers wird gerne behauptet, er habe als Person des öffentlichen Lebens eine gewisse Vorbildfunktion. Schon deshalb müsse er mit gutem Beispiel vorangehen und sich per Piks, mehr oder weniger, immunisieren lassen. Doch worin liegt denn bitte die Vorbildfunktion eines jungen Mannes, der besonders gut gegen einen Ball treten kann und damit Millionen in einem Business verdient, dessen Verbände regelmäßig mit Korruptionsvorwürfen konfrontiert sind und die Großveranstaltungen wie die Fußballweltmeisterschaft in Ländern wie Katar ausrichten? Höchste Zeit vielleicht, die gesellschaftlichen Ansprüche an Vorbilder neu zu denken.

Von Sicherheitsgurten und Motorradhelmen

Einher mit der Komplexitätsreduzierung in der Corona-Debatte gehen auch schräge Vergleiche. Zwei stechen besonders hervor. Erstens die Behauptung, dass eine Impfung in etwa das gleiche sei wie ein Sicherheitsgurt beim Autofahren. Der Unterschied zwischen einer Sicherheitshilfe aus Polyester, die sich bei Bedarf anwenden lässt, und einem Impfstoff, der dauerhaft in den Körper injiziert wird, müsste eigentlich jedem einleuchten. Gleiches gilt freilich für den Vergleich der Impfung mit dem Motorradhelm oder der Corona-Maßnahmen mit der Straßenverkehrsordnung, an die man sich doch auch zu halten habe. Und überhaupt: Warum eigentlich immer Verkehrsmetaphern?

Der zweite Vergleich ist nicht unbedingt schräg, was ihn aber auch nicht logischer macht. Befürworter einer gesetzlichen Corona-Impfpflicht verweisen in ihrer Argumentation gerne auf die Erfolge der verpflichtenden Pockenimpfung, die in Westdeutschland bis 1976 galt. Als Seitenhieb gegen Impfskeptiker wird da gerne angeführt, dass auch damals viele Menschen skeptisch gewesen seien. Die Anekdote, manche glaubten gar, der Pocken-Impfstoff könne Menschen in Kühe verwandeln, darf da nie fehlen. Was dagegen häufiger fehlt ist der Hinweis, dass die Pocken-Impfung deutlich wirksamer war als es die Corona-Impfung ist.

Mit Corona leben lernen

Die gegen Pocken Geimpften waren bis zu fünf Jahre immun gegen das Virus. Bei der Corona-Schutzimpfung hält die Wirkung dagegen deutlich kürzer an, und Menschen können das Virus auch dann verbreiten, wenn sie selbst noch gut geschützt sind. Mit der verpflichtenden Pockenimpfung ließen sich die Pocken ausrotten, mit einer verpflichtenden Corona-Impfung würde das gar nicht gelingen. Im Gegenteil wird das Corona-Virus gerade endemisch. Insofern wäre die wichtigere Diskussion, wie wir lernen mit Corona zu leben.

Außerdem stellt sich bei einer gesetzlichen Corona-Impfplicht nicht nur die Sinn-, sondern auch die Umsetzungsfrage. Das wurde immerhin schon vielfach diskutiert. Und auch: Wäre eine allgemeine Corona-Impfpflicht überhaupt verfassungskonform? Empfehlenswert ist hierzu der Cicero-Beitrag der Strafrechtlerin Jessica Hamed. An dieser Stelle deshalb nur dies: Wissen Sie, in welchen Ländern bereits eine Corona-Impfpflicht für alle Erwachsenen gilt? Im Vatikan, in Tadschikistan und Turkmenistan. Auch das könnte man bei dieser Debatte vielleicht etwas häufiger erwähnen.

Corona-Maßnahmen sind nie alternativlos

Gestritten wird in Zusammenhang mit der Corona-Pandemie ohnehin leidenschaftlich über den Freiheitsbegriff. Wo fängt Freiheit an? Wo hört sie auf? Ist Freiheit etwas Individuelles oder gibt es sie nur im Kollektiv? „Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt“, lautet das liebste Zitat jener, die es begrüßen, dass der Druck auf Ungeimpfte bis hin zur Impfpflicht vielleicht erhöht wird. Doch welche Art von Freiheit soll das eigentlich sein, die die Ungeimpften wieder herstellen, indem sie sich impfen lassen, wenn das die Pandemie gar nicht beenden würde? Und die vulnerablen Gruppen dennoch geschützt werden müssten?

Tatsache ist doch dies: Nicht die Ungeimpften schränken die Freiheit der Geimpften ein – die Politik tut das. Welchen Anteil die Ungeimpften am Verlauf einer Pandemie haben, ist die eine Diskussion. Eine andere aber ist, welche Schlüsse die Politik aus welchen Kennzahlen zieht – und welche Maßnahmen sie daraus ableitet. Wer behauptet, die Ungeimpften seien schuld, dass etwa die Christkindlmärkte nicht stattfinden dürfen, Schüler Masken tragen müssen oder demnächst 2G-Plus samt Sperrstunde in Restaurants gilt, vergisst, dass keine Corona-Maßnahme – nicht eine einzige – wirklich alternativlos ist. Jedenfalls nicht in einem demokratischen System.

Der Ungeimpfte als Sündenbock

Dass die Politik bei der Durchsetzung der Corona-Maßnahmen über weite Strecken nun ebenfalls dazu übergegangen ist, von der eigenen Verantwortung abzulenken, indem das eigene Handeln mit dem Fehlverhalten anderer („Pandemie der Ungeimpften“) entschuldigt wird – und so die Verantworung quasi an eine höhere Macht deligiert – ist mindestens hanebüchen, wenn nicht skandalös. Wer aktiv Freiheitsrechte einschränkt, muss auch die politische Verantwortung dafür übernehmen. Das ist das Mindeste.

Stattdessen werden Nebelkerzen gezündet und der Ungeimpfte wird zum alleinigen Sündenbock gemacht – und viele machen fleißig mit. „Die Gesellschaft muss sich spalten!“, ist bei der Zeit zu lesen. Und die Süddeutsche Zeitung nennt das Recht, selbst über eine Impfung zu entscheiden, „kindisch“ und ruft den „November des Zorns“ aus. Die Freiheit des Einzelnen endet offenbar dort, wo die Freiheit des SZ-Redakteurs beginnt.

Historisch dumme Vergleiche

Kein Wunder also, wenn Maßnahmenkritiker, wie zuletzt in Österreich, auf die Straße gehen, um gegen die Corona-Politik der Regierung zu demonstrieren und im Endeffekt eben auch dagegen, welches Bild von Ungeimpften generell gezeichnet wird. Dass dies in demokratischen Bahnen ablaufen muss, versteht sich von selbst. Dass sich unter diese Menschen auch Spinner und Extremisten mischen, ist schlimm, taugt aber nicht, um Proteste gegen die Corona-Maßnahmen per se zu delegitimieren. Mehr noch müssten wir uns eher Sorgen machen, wenn es keinen Protest gegen die größten Freiheitseinschränkungen in Friedenszeiten geben würde.

Mal abgesehen davon, dass es vielen Journalisten ohnehin gut zu Gesicht stünde, wieder stärker darauf zu schauen, was die Regierenden tun, statt darauf, welcher Blödsinn auf irgendwelchen Pappschildern steht oder welch historisch dummen Vergleich jemand wählt, weil er intellektuell vielleicht nicht in der Lage ist, seine Wut anders zu artikulieren. Alle Demonstranten in einen Topf zu werfen, weil dort auch Rechtsextreme demonstrieren, ist jedenfalls nicht weniger primitiv als auf einer Anti-Corona-Demo von „die da oben“ zu schwadronieren.

Wo sind die kreativen Ansätze?

Aber zurück zur Corona-Politik: Wenn eine Pandemie nach zwei Jahren immer noch nicht unter Kontrolle ist, und eine vierte Welle ein ganzes Land mit dieser Wucht trifft, obwohl jeder, wirklich jeder wusste, dass die vierte Welle kommen wird: Wer trägt die Verantwortung? Der normale Ungeimpfte, der bisweilen ohnehin nur noch sporadisch vor die Tür geht? Oder die Politik, weil sie trotz großer Worte und noch größerer Versprechen nicht fähig war, vorzubereiten, was andere ihr längst vorhergesagt haben? Und warum wurde nicht viel früher viel deutlicher kommuniziert, dass der Impfschutz nach wenigen Monaten wieder nachlässt, statt Kampagenen wie „Ein Piks für die Freiheit“ zu spielen?

Wo sind die Anreize der Politik für die paar Tausend Pfleger, die sich derzeit um die verlorenen 4000 Intensivbetten kümmern sollten? Was soll das parteipolitische Begriffsgeplänkel um die epidemische Notlage nationaler Tragweite? Und was sagt es eigentlich über den Zustand der deutschen Corona-Politik, wenn – hier bewusst eine Umschreibung – die Fraktionsvorsitzende einer großen Partei im Stadtrat einer deutschen Metropole nach zwei Jahren Corona-Pandemie twittert: „So traurig es ist, aber wir können bei vollen Intensivstationen keinen Glühwein trinken.“ Wenn da ein User „Aber Bier geht?“ antwortet, braucht man sich nun wirklich nicht zu wundern. Das Niveau ist ungefähr das gleiche, und wir sind mal wieder keinen Schritt vorangekommen. Oder frei nach Sarah Frühauf: Na herzlichen Dank für nichts!

 

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