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Die Regierung geht dazu über, impfunwilligen Bürgern zu drohen. Daraus spricht ein unverhohlener Machthunger. Weder Geimpfte noch Ungeimpfte sollten das akzeptieren – und besser gegen eine viel größere Gefahr zusammenstehen: den Totalitarismus.

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn bei seinem Impftermin im Mai / dpa
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Gerhard Strate ist seit bald 40 Jahren als Rechtsanwalt tätig und gilt als einer der bekanntesten deutschen Strafverteidiger. Er vertrat unter anderem Monika Böttcher, resp. Monika Weimar und Gustel Mollath vor Gericht. Er publiziert in juristischen Fachmedien und ist seit 2007 Mitglied des Verfassungsrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer. Für sein wissenschaftliches und didaktisches Engagement wurde er 2003 von der Juristischen Fakultät der Universität Rostock mit der Ehrendoktorwürde ausgezeichnet. Foto: picture alliance

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„Wer sich heute nicht impfen lässt, darf sich morgen nicht beschweren, wenn er nicht zur Party eingeladen wird“, verkündet Jens Spahn im Brustton der Überzeugung. Die Sinnhaftigkeit der Diskriminierung Ungeimpfter zu unterstreichen, scheint dem Gesundheitsminister ein echtes Herzensanliegen zu sein. Zumal: „Was den Impfstoff angeht, gilt: Es gibt keine Ausreden mehr! Denn Impfstoff ist genug da!“

„Im Augenblick haben wir gesagt, wir wollen keine Impfpflicht“, denn „die nächsten Wochen gelten erst mal dem Werben“ für das Impfen, erklärt Bundeskanzlerin Merkel. Ein Zwang zur kostenpflichtigen Teilnahme an Corona-Tests für Nichtgeimpfte zu einem späteren Zeitpunkt schließen Spahn und Merkel dagegen nicht aus. Eine Steilvorlage, die Markus Söder sofort aufgreift: Dieser Weg, den Frankreich bereits beschreite, könne „teilweise auch für Deutschland spannend sein“, da Testen enorme Summen koste.

Sanfte Drohgebärden

Hintergrund dieser sanften Drohgebärden ist die offenkundig nachlassende Impfbereitschaft. Diese wiederum ist nicht verwunderlich: Viele Menschen haben von autoritärer Bevormundung die Nase gestrichen voll und leben schon lange im Zustand der inneren Emigration. Die logische nächste Eskalationsstufe folgt, wenn die Zeit des Werbens vorbei ist. 

Wie dies aussehen könnte, demonstriert aktuell Emmanuel Macron, der nun eine Impfpflicht zunächst für Beschäftigte im Gesundheitsbereich angeordnet hat und auch der Gesamtbevölkerung offen mit Zwang droht. Die Antwort folgt umgehend: Massendemonstrationen in vielen Städten Frankreichs und teils gewalttätige Auseinandersetzungen von Demonstranten mit der Polizei machen deutlich, dass die Kluft zwischen Regierung und Regierten kaum größer sein könnte.

Ein Weg, den auch Deutschland beschreiten könnte, denn das vom Robert-Koch-Institut vorgegebene Impfziel von 85 Prozent aller Menschen über zwölf Jahren liegt noch in weiter Ferne. Und Institutionen, die den totalitären Wünschen von Regierenden Vorschub leisten, gibt es leider vielfach. Hierzu zählt auch die Universität Hamburg in Gestalt ihres Präsidenten Dieter Lenzen, in dessen Gedankenwelt der regelmäßige Uni-Podcast des Hamburger Abendblatts Einblick gewährt.    

Dialog mit Dieter – der totalitäre Talk

„Wie jetzt? – Der Dialog mit Dieter“ ist ein Talkformat, in dem sich trefflich über die Probleme der Zeit plaudern lässt. Schon das Sound-Logo der Reihe, das latent an einen Halloween-Schocker erinnert, lässt erahnen, dass sich hinter dem lockeren Plauderton Abgründe verbergen. Und tatsächlich: Im Gespräch mit Abendblatt-Chefredakteur Lars Haider scheint der gelernte Erziehungswissenschaftler Lenzen die Existenz des Mikrofons zeitweise zu vergessen. So stellte der Podcast am 24. Juni 2021 die Frage in den Raum: „Was machen wir mit den freiwillig Ungeimpften?“, schließlich könne man sie nicht zwingen. Die Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen: „Ja, kann man schon! Man muss es als Gesetzgeber natürlich wollen!“ 

Dennoch empfiehlt Lenzen eine andere Vorgehensweise, die viel über sein Menschenbild verrät: Er stellt die Frage in den Raum, ob es nicht klüger wäre, die Folgen des Nichtimpfens tatsächlich spürbar zu machen. Dieses Konzept des „logischen Bestrafens“ stamme aus der Erziehungsphilosophie und könne auch bei Kindern angewandt werden. Auf Corona bezogen: „Bestimmte Freiheiten kann man dann nicht beanspruchen.“ Ein Plädoyer für den Nanny-Staat und die Entmündigung seiner Bewohner, ganz im Sinne von Partyschreck Jens Spahn. 

Lenzens Verhältnis zum Grundgesetz klingt denn auch ambivalent. Im Podcast vom 29. April 2021 nach den Nachteilen des Föderalismus bezogen auf die Coronakrise gefragt, antwortet er: „Sicher ist, dass offenbar immer wieder geschielt wurde nach Volkes Stimme. Es ist ja nett, dass in der Demokratie Volkes Stimme durchschlagen soll, aber das ist ja nicht immer identisch mit dem Richtigen, was von Experten beispielsweise in diesem Fall gesagt wird.“ Nachfrage: „Aber dann kann man es doch mit dem Föderalismus auch gleich sein lassen, oder?“ Lenzen: „Es ist in der Tat eine komische Einrichtung, wenn Sie‘s mit vielen anderen Staaten vergleichen und vielleicht auch nur historisch erklärbar.“

Föderalismus als „komische Einrichtung“?

Tatsächlich stellt der Föderalismus ein einzigartiges Bollwerk gegen totalitäre Bestrebungen dar und wurde von den Vätern und Müttern des Grundgesetzes als derart wichtig erachtet, dass sie Art. 20 unter den Schutz der in Art. 79 definierten Ewigkeitsklausel stellten. Sie taten dies in einer weisen Voraussicht, wie nur die schmerzhaft-frische Diktaturerfahrung sie hervorbringen konnte. Wie richtig sie damit lagen, zeigen die heute vielfach auftretenden mentalen Korrosionserscheinungen, die jeden Sinn für derart „komische Einrichtungen“ vergessen machen.

Nun scheint die Stunde des Dieter Lenzen gekommen. Im aktuellen Podcast vom 8. Juli 2021 („Wer impft die Studenten – und wenn ja, wie viele?“) kündigt er die Umsetzung der „logischen Bestrafung“ in seinem Wirkungskreis an. Die 3-G-Regel sei fürderhin das Mittel der Wahl, um an Präsenzvorlesungen der Universität Hamburg teilnehmen zu dürfen: „Wer hier hinein will, muss entweder geimpft, genesen oder getestet sein.“ In einem Interview mit dem Hamburger Abendblatt präzisiert er: „Das hilft vielleicht auch, Impfverweigerer vom Sinn einer Impfung zu überzeugen. Wir müssen Anreize schaffen, die Teilnahme an einer Präsenzvorlesung kann so ein Anreiz sein.“ 

Dass der Anreiz einer medizinischen Maßnahme in dieser selbst liegen und jeder Mensch individuell über sie entscheiden sollte, scheint angesichts dieser sachfremden Verheißungen ein aus der Mode gekommener Grundsatz zu sein. Die Ablehnung einer medizinischen Behandlung an persönliche Nachteile knüpfen zu wollen, ist eine im tiefsten Sinn unethische Vorgehensweise und Zeichen eines verlotterten Zeitgeists. 

Der Machthunger des Funktionärs  

Auch die Kassenärztliche Vereinigung Rheinland-Pfalz scheint nicht vor totalitären Abstürzen gefeit zu sein. Deren Vorsitzender Dr. Peter Heinz zur Rhein-Zeitung: „Die Nicht-Geimpften haben nicht die Freiheit, ihre Maske abzulegen. Sie dürfen nicht ins Stadion, nicht ins Schwimmbad und nicht ohne Maske im Supermarkt einkaufen. Und man darf Ungeimpften und jenen mit nur einer einfachen Impfung nicht mehr gestatten, in den Urlaub zu fahren. Ungeimpfte dürfen nicht mehr reisen.“

Der unverhohlene Machthunger des Funktionärs, der aus diesen Zeilen spricht, zeigt es sonnenklar: Die Frage nach der Impfung ist längst sekundär geworden. Im Zentrum steht vielmehr der Wunsch der Politik nach Zugriff auf den menschlichen Körper. Für den passenden Zeitgeist sorgen Multiplikatoren wie Dieter Lenzen oder Peter Heinz. Sie und ihre Gesinnungsgenossen sind nicht von Unrechtsbewusstsein angekränkelt. Sie leben vielmehr in der trügerischen Sicherheit, das alternativlos Richtige zu tun. 

Umso wichtiger ist es, dass weder Geimpfte noch Ungeimpfte über dieses Stöckchen springen. Wir sollten lieber gegen die größte Gefahr zusammenstehen, die uns droht: gegen den Totalitarismus.

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