Das Amt des Parlamentspräsidenten - Steil nach oben

Die SPD-Fraktion hat Bärbel Bas als Präsidentin des 20. Deutschen Bundestags nominiert. Doch das Amt des Bundestagspräsidenten taugt nicht für Symbol- und schon gar nicht für Proporzpolitik. Vielleicht gehen die Parlamentarier also noch einmal in sich. Es wäre nicht das erste Mal, dass erst in einer Kampfabstimmung entschieden worden wäre.

Bärbel Bas (SPD) spricht im Bundestag / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

So erreichen Sie Ralf Hanselle:

Anzeige

Es ist eigentlich eine gute Nachricht: Deutschland ist in den zurückliegenden Dekaden durchlässiger geworden. Was spätestens Ende der 1960er Jahre im Westen des Landes mit der allgemeinen Bildungsexpansion begann, das vollzieht sich nun mehr und mehr auch auf dem Gebiet von Geschlecht und ethnischer Zugehörigkeit. Herkunft sollte in einer Demokratie eben keine Hürde sein – ganz egal, ob es sich dabei um die Wohnadresse im vielleicht ökonomisch schlechter gestellten Kiez einer Großstadt handelt, um Hautfarbe oder um Geschlecht.

So gesehen hat die neue SPD-Fraktion ein richtiges Zeichen gesetzt, als sie gestern Bärbel Bas als Präsidentin des 20. Deutschen Bundestags nominiert hat. Nicht nur wäre die langgediente Sozialdemokratin, die 1968 im nördlichen Duisburger Stadtteil Walsum zur Welt kam, nach Annemarie Renger und Rita Süssmuth die bis dato erst dritte Frau im Amt des Parlamentspräsidenten. Bas‘ bisherige Karriere könnte auch all jene stellvertretend würdigen, die ohne Leumund und güldenem Familienstammbuch ihren ganz eigenen Weg in die Gesellschaft finden mussten.

„Ich konnte perfekt einen U-Stahl feilen“

Aufgewachsen in einem klassischen Ruhrpott-Milieu mit drei Brüdern und zwei Schwestern führte Bas‘ Weg langsam, aber schließlich auch immer steiler nach ganz oben – von der Bürogehilfin bei der Duisburger Verkehrsgesellschaft bis an die Spitze der SPD im Deutschen Bundestag, wo sie heute der parlamentarischen Linken innerhalb ihrer Partei zuzuordnen ist. 2019 konnte sie hier sogar den sicherlich weit prominenteren Karl Lauterbach als Fraktionsvize ablösen. Seither hat sie sich im Parlament einen Ruf als Expertin für Gesundheits- und Jugendthemen erarbeitet. Bärbel Bas ist eben bis in die DNA hinein im besten Sinne sozialdemokratisch.

Denn vorauszusehen war ihre sicherlich nicht ganz einfache Karriere keinesfalls. Statt eines Goldenen Löffels hat Bärbel Bas zunächst einen Hauptschulabschluss 10 B sowie Kenntnisse in Schweißarbeiten auf ihren Lebensweg mitbekommen. Und statt eines Stipendiums an irgendeiner Eliteuniversität in Zentralengland flatterten in ihren Briefkasten anfangs nur 80 Absagen auf Bewerbungen. „Ich konnte perfekt einen U-Stahl feilen“, scherzt die einstige Amateurfußballerin vom SV Glückauf Möllen und dem DJK Adler Duisburg auf ihrer Abgeordneten-Homepage über ihre Zeit an der höheren Berufsfachschule für Technik in Dinslaken im Kreis Wesel.

Wie gesagt: Die Biografie von Bärbel Bas, die in der nun beginnenden 20. Legislaturperiode bereits zum vierten Mal in Folge als Direktkandidatin ihres Wahlkreises Duisburg I im Bundestag sitzt, ist ein wirklich gutes Zeichen. Indes: Das Amt des Bundestagspräsidenten ist nicht immer geeignet für Symbol-, und schon gar nicht für Proporzpolitik. Zwar ist die protokollarische Rangfolge, nach der der Parlamentspräsident in seiner nominalen Ordnung noch vor dem Bundeskanzler rangiert, an keiner Stelle gesetzlich festgeschrieben – sie ist allenfalls Ergebnis einer Staatspraxis, die sich über Jahre herausgebildet hat. Und dennoch sagt es etwas aus, wenn der Präsident des Deutschen Bundestages laut Inlandsprotokoll der Bundesregierung eben die zweithöchste Position im Staat bekleidet.

Wie steht es um die Leistungsgerechtigkeit?

Die Liste der Vorgänger ist zumindest beachtlich: Norbert Lammert, Wolfgang Thierse, Rita Süssmuth, Eugen Gerstenmaier: Mit ihrem Wirken und ihrer Persönlichkeit haben diese Präsidenten, die die Abgeordneten des Deutschen Bundestages in den zurückliegenden 72 Jahren aus ihrer Mitte gewählt haben, der Würde und dem Selbstverständnis des deutschen Parlamentarismus ihren unverwechselbaren Stempel aufgedrückt. Nicht selten haben diese Persönlichkeiten die Legislative sogar besonnener, ja souveräner geführt als die Vorsteher der Exekutive im Nachbarhaus. Der Präsident des Deutschen Bundestages ist eben weit mehr als der Hallenwart des Parlaments, der laut Artikel 40 des Grundgesetzes Hausrecht und Polizeigewalt im Gebäude des Bundestages ausübt. Nein, er ist Vorsitzender jenes Organs in der Verfassung, das immer noch die stärkste demokratische Legitimität genießt.

Nun will man der erfahrenen Sozialdemokratin Bas, die zu ihren Lieblingsbüchern laut Selbstauskunft Robert I. Suttons „Der Arschloch-Faktor“ zählt, und die eine kulinarische Leidenschaft für Currywurst, Pommes und „Köpi" pflegt, nicht schon im Vorhinein jegliche Kompetenz für dieses verantwortungsvolle Amt streitig machen. Aufgefallen durch grundsätzlichere Überlegungen, durch überparteiliche Einlassungen, nachdenkliche, ja vielleicht sogar philosophischere Töne ist die 53-jährige Duisburgerin bis dato aber eher selten.

Vielleicht gehen die gewählten Parlamentarier also bis zum 26. Oktober, dem Tag der konstituierenden Sitzung des 20. Bundestages, noch einmal in sich. Es wäre jedenfalls nicht das erste Mal, dass über das Amt des Bundestagspräsidenten erst in einer Kampfabstimmung entschieden worden wäre. 1954 etwa, bei der Wahl Eugen Gerstenmaiers (CDU), kam der Gegner sogar aus den eigenen Reihen: Es handelte sich um den späteren Bundespostminister Ernst Lemmer (CDU), der erst in der dritten Abstimmungsrunde unterlag.

Das wäre vielleicht auch ein Modell für den kommenden Dienstag. Neben der Verteilungsgerechtigkeit, bei der Herkunftskriterien wie Milieu und Geschlecht zum Glück keine Rolle spielen, gibt es nämlich auch noch eine Leistungsgerechtigkeit. Und es wäre doch gelacht, wenn die gute alte Tante SPD im weiten Rund ihrer nun 206 Abgeordneten – darunter leider nur 86 Frauen – nicht noch einen Kandidaten oder eine Kandidatin fände, die zumindest ähnlich ambitioniert und qualifiziert wäre. Dem Parlamentarismus jedenfalls täte so viel Wettbewerb ganz sicher gut.

Anzeige