Covid-Pandemie - Impfpflicht: Dead on Arrival

Ende Januar soll der Bundestag erstmals über die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht beraten. Die jüngsten Entwicklungen des Pandemie- und Impfgeschehens zeigen jedoch, dass es dafür keine legitime Grundlage gibt. Die Debatte wird schlicht von der pandemischen Wirklichkeit überholt.

Hier impft der Chef persönlich: Gesundheitsminister Lauterbach gibt Jugendlichen die Spritze / dpa
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Autoreninfo

Michael Walter ist promovierter Soziologe und beschäftigt sich unter anderem mit machtsoziologischen und ethischen Fragen.

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Wenige Tage vor der ersten Beratung des Bundestages am 26. Januar streiten die unterschiedlichen politischen Lager heftig über das Für und Wider einer allgemeinen gesetzlichen Impfpflicht. Jenseits dieser Kontroversen dürfte jedoch ein Punkt unstrittig sein: Die Impfpflicht stellt einen schwerwiegenden Eingriff in das Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit des Einzelnen dar. Die Selbstbestimmung über den eigenen Körper ist ein wesentliches Fundament der Menschenwürde. Daraus leitet sich sowohl aus ethischer als auch verfassungsrechtlicher Sicht eine besonders hohe Rechtfertigungslast ab.

Noch bis in den Herbst letzten Jahres hinein hatten die Spitzen aller Parteien im Bundestag dementsprechend auch eine allgemeine Impfpflicht explizit ausgeschlossen. Mit dem Auftauchen von Omikron und steigenden Infektionszahlen drehte sich dann nach der Bundestagswahl politisch schnell der Wind. Selbst Christian Lindner neigte nun zur Impfpflicht. Stichwort: „Lernende Politik“. Der Deutsche Ethikrat vollzog diesen Schwenk in Einklang mit der veränderten politischen Wetterlage mit. Kurz vor Weihnachten letzten Jahres votierte er in einer Ad-hoc-Empfehlung aufgrund der „veränderten Faktenlage“ mehrheitlich für eine allgemeine Impflicht. Im Februar 2021 hatte sich der Ethikrat noch dagegen ausgesprochen.

Wie ich im Folgenden aufzeigen möchte, ist die aktuelle Faktenlage jedoch wenig dazu geeignet, diesen Perspektivenwandel zu rechtfertigen: Das Pandemie- und Impfgeschehen der letzten Wochen hat die ethischen und verfassungsrechtlichen Einwände gegen eine allgemeine Impfpflicht nämlich keineswegs obsolet gemacht. Im Gegenteil. Es entzieht ihr vielmehr die empirische Grundlage.

Enttäuschte Impfhoffnungen

Mit Blick auf die Datenlage der letzten Wochen wird immer augenscheinlicher: Die Corona-Impfstoffe erfüllen nur bedingt die großen Hoffnungen, die man ursprünglich in ihre Wirksamkeit gesetzt hatte. Sie schützen zwar nach wie vor vor schweren Verläufen bei einer Infektion mit dem Coronavirus. Eine Infektion mit dem Virus und dessen Weitergabe können sie hingegen allenfalls reduzieren.

Die symptomatischen „Impfdurchbrüche“ seit Februar 2021 summieren sich laut RKI-Wochenbericht (Stand 13. Januar 2022) mittlerweile auf über 600.000 Fälle. Von allen Menschen zwischen 18 und 59 Jahren, die in den letzten Wochen an Covid erkrankten, waren 55,3 Prozent grundimmunisiert (d.h. vollständig geimpft ohne Auffrischungsimpfung). Bei den über 60-Jährigen betrug der Anteil 53,7 Prozent. Betrachtet man nur die symptomatischen Omikron-Fälle, dann liegt der Anteil von Doppelgeimpften und Geboosterten bei den 18- bis 59-Jährigen bei rund 83 Prozent (59 Prozent grundimmunisiert, 24 Prozent mit Auffrischungsimpfung). In der Altersgruppe 60+ beträgt der Anteil rund 86 Prozent (39 Prozent grundimmunisiert, 47 Prozent mit Auffrischungsimpfung).

Auch wenn man diese Zahlen zur relativ hohen Impfquote ins Verhältnis setzt, ist der schützende Effekt der Vakzine bezüglich Infektions- und Transmissionsrate mehr als überschaubar. Von einer „Pandemie der Ungeimpften“ kann aktuell jedenfalls keine Rede mehr sein.

Die Fähigkeit der Impfstoffe, eine sterile Immunität zu bewirken und so die Weitergabe des Coronavirus an andere zu verhindern, war für den Deutschen Ethikrat jedoch noch vor wenigen Monaten eine Voraussetzung für die Legitimität einer allgemeinen Impfpflicht. Dieses Argument verliert durch das aktuelle Infektionsgeschehen im Windschatten von Omikron nicht nur nicht seine Gültigkeit. Es gewinnt vielmehr deutlich an Relevanz.

Impfung kann „Durchseuchung“ nicht verhindern

Aus ethischer wie rechtlicher Perspektive ist der Umstand, dass die Corona-Impfstoffe nicht in der Lage sind, eine sterile Immunisierung zu bewirken, in der Tat von entscheidender Bedeutung. Denn daraus folgt notwendigerweise, dass die Impfstoffe eine „Durchseuchung“ der Bevölkerung nicht verhindern, sie lediglich zeitlich verzögern können. Sprich: Früher oder später wird sich also jeder mit dem Corona-Virus infizieren, wie jüngst auch Christian Drosten zum Ausdruck gebracht hat. Die Impfung ist insofern vor allem als sinnvolle Vorbereitung des Einzelnen für eine „natürliche Immunisierung“ durch eine Infektion mit dem Coronavirus zu betrachten.

Das heißt aber: Die Impfung dient in erster Linie dem Selbstschutz, nicht dem Fremdschutz. Der Selbstschutz der Einzelnen alleine kann jedoch kein legitimes Ziel einer Impfpflicht sein, wie ein Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages vom Dezember 2021 betont: „Wenn schon einem Kranken eine medizinische Behandlung zu Heilungszwecken nicht aufgenötigt werden darf, dann darf sie erst Recht einem Gesunden nicht zu seinem vorbeugenden Schutz aufgenötigt werden. Eine Impfpflicht, die allein dem Selbstschutz der Geimpften dienen würde, wäre mithin kein legitimes Ziel.“ (S. 8)

Auch das solidaritätsbezogene Argument der drohenden Überlastung des Gesundheitssystems, mit dem die Impfpflicht zusätzlich begründet wird, verliert durch die Omikron-Welle tendenziell an Überzeugungskraft. Einer US-Studie zufolge ist die Hospitalisierungsrate bei Omikron um mehr als die Hälfte reduziert, das Sterberisiko um gut 90 Prozent geringer als bei der Delta-Variante. Auf einen milderen Verlauf der Omikron-Variante deuten auch die aktuellen Zahlen in Deutschland hin: Trotz Rekordinzidenzen jenseits der 500 sind Hospitalisierungen und Intensivbettenbelegung mit Covid-Patienten rückläufig.

Corona ist eine Pandemie der Älteren

Ein weiterer gewichtiger Einwand gegen die allgemeine Impfpflicht hat auch unter der Herrschaft von Omikron Bestand: die Altersgruppen in Deutschland sind nach wie vor in sehr unterschiedlichem Ausmaß von der Pandemie betroffen, wie die Statistiken des RKI klar belegen.

Zwar wird seit Herbst letzten Jahres immer wieder davor gewarnt, dass auch junge Menschen zunehmend durch Corona gefährdet seien. Die Virologin Melanie Brinkmann prognostizierte beispielsweise in der Zeit, dass „mehrere Hundert Kinder und Jugendliche im kommenden Winter ihr Leben verlieren, wenn die nicht geimpften Kinder und Jugendlichen durchseucht würden“. Der nüchterne Blick auf die Daten entlarvt solche Prognosen allerdings als unbegründeten Alarmismus.
Die Wahrscheinlichkeit, am Coronavirus zu sterben, ist für jüngere Menschen nach wie vor sehr gering. Der Anteil der 0- bis 39-Jährigen an den Todesfällen seit Ausbruch der Pandemie beträgt laut RKI (Stand 13. Januar) lediglich rund ein halbes Prozent (0,52 Prozent). Mehr als 90 Prozent (94,56 Prozent) der Todesfälle fallen in die Gruppe der Menschen ab 60 Jahren. Ähnliche Verhältnisse finden sich auch in anderen Ländern. Eine aktuelle Studie aus Italien zeigt, wie massiv die Mortalitätsrate mit zunehmenden Alter systematisch ansteigt: Während das Sterberisiko bei Menschen unter 50 Jahren bei praktisch null liegt, steigt sie bei den über 80-Jährigen auf nahezu 18 Prozent an, bei den über 90-Jährigen auf rund 26 Prozent.


(Quelle: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1114647/umfrage/letalitaetsrate-in-zusammenhang-mit-dem-coronavirus-in-italien-nach-alter/)

In Bezug auf die Mortalitätsrate haben wir es also weniger mit einer Pandemie der Ungeimpften als mit einer Pandemie der Älteren zu tun. 

Dieser starke Zusammenhang zwischen Alter und Sterberisiko hat natürlich auch Einfluss auf die Risikobewertung der Impfung. Durch die vergleichsweise geringe Wahrscheinlichkeit junger Menschen, einen schweren Verlauf einer Coronaerkrankung zu erleiden, wiegt das Risiko von gesundheitlichen Schäden von Nebenwirkungen bei ihnen deutlich schwerer. Hinzu kommt: aktuelle internationale Studien legen nahe, dass junge Menschen von Impf-Nebenwirkungen wie Herzmuskelerkrankungen häufiger betroffen sind als ältere.

Für wie relevant dieses Risiko bei jungen Menschen einzuschätzen ist, zeigen Entscheidungen von Ländern wie Dänemark, Schweden oder Finnland, den Impfstoff von Moderna wegen erhöhten Risiken von schweren Nebenwirkungen nicht mehr für Menschen unter 30 einzusetzen.

Angesichts dieses prekären Risiko-Nutzen-Verhältnisses ist ein auf Zwang beruhender Grundrechtseingriff in die körperliche Integrität junger Menschen ethisch nicht verhältnismäßig. Dies gilt besonders vor dem Hintergrund der Notwendigkeit mehrerer Impfungen, die deren Risiko zusätzlich erhöhen.

Auch die Begründung der allgemeinen Impfpflicht mit Blick auf einen drohenden Kollaps des Gesundheitssystems scheitert an der unterschiedlichen Betroffenheit der Alterskohorten. Denn die Intensivstationen werden überwiegend von Corona-Patienten jenseits der 50 belegt. Stand 16. Januar machten sie rund 84 Prozent der Fälle in Deutschland aus. Der Anteil der 0- bis 39-Jährigen liegt dagegen gerade einmal bei rund 7 Prozent.   


(Quelle: intensivregister.de / Stand 16.01.2022)

Auch hier gilt: Eine Impfpflicht, die sich undifferenziert auf alle erwachsenen Altersgruppen erstreckt, folgt in keiner Weise dem Verhältnismäßigkeitsprinzip. Sie ist weder angemessen, noch erforderlich oder geeignet, um die Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern.

Fazit

Die Gesamtbetrachtung verdeutlicht: Eine allgemeine Impfpflicht hat mit Blick auf das derzeitige Infektionsgeschehen sowohl aus verfassungsrechtlicher als auch ethischer Sicht keine legitime Grundlage. Vielmehr stellen die dargelegten empirischen Evidenzen die Verhältnismäßigkeit des seit Wochen erfolgenden Ausschlusses ungeimpfter Menschen aus weiten Teilen des öffentlichen Lebens in Frage – was faktisch nichts anderes als einen indirekten Impfzwang darstellt.

Auf dieser fragwürdigen Basis würden die grundsätzlich zu befürchtenden „sozialen Folgekosten“ einer allgemeinen Impfpflicht umso drastischer ausfallen. Sie würde sowohl die bestehende gesellschaftliche Spaltung als auch das Misstrauen gegenüber dem Staat massiv vertiefen.

Die politischen Apologeten einer allgemeinen Impfpflicht wären daher gut beraten, Abstand von dieser fixen Idee zu nehmen und zu ihrer früheren skeptischen Haltung vor den Bundestagswahlen zurückkehren. Das wäre tatsächlich eine Einsicht, die der jüngst häufig bemühten Rede von der „lernenden Politik“ gerecht würde.

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