Coronavirus-Krise - Föderalismus kann tödlich sein

Obwohl die Zahl der am Coronavirus Erkrankten in Deutschland steigt, bleibt es oft Veranstaltern überlassen, ob sie der Empfehlung des Gesundheitsministers folgen und Fußballspiele oder Messen ausfallen lassen. Dabei ist es höchste Zeit, Kleinstaaterei und Kompetenzwirrwarrr zu überwinden.

Abgesagt: Wegen der Infektionsgefahr fällt die Leipziger Buchmesse aus / picture alliance
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Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Ich war immer ein großer Anhänger des deutschen Föderalismus. Dass die Bundesrepublik ein Bundesstaat ist, hat mich immer besonders für sie eingenommen. Deutschland lässt sich nicht von seinen Metropolen her verstehen und nicht von einer Metropole aus regieren. Davon bin ich fest überzeugt. Deutschland ist die Summe seiner Provinzen und mehr als deren Bestandteile.

Die Weimarer Klassik, die Dresdner Romantik, die Frankfurter Schule, schwäbischer Pietismus, Hamburger Kaufmannschaft, bayrischer Wald und Pfälzer Weine: das und viel mehr macht unsere Republik unverwechselbar. Und doch muss ich in Zeiten der Corona-Krise Abbitte leisten: Föderalismus kann lähmen, Föderalismus kann schaden, Föderalismus kann die Gesundheit gefährden. Es ist an der Zeit, den Föderalismus zurückzubauen.

Virenfalle öffentlicher Nahverkehr 

Das kommende Wochenende könnte als Wochenende der Geisterspiele in die Geschichte des deutschen Fußballs eingehen. Am Montag noch fand das Spitzenspiel der Zweiten Bundesliga zwischen dem VfB Stuttgart und Arminia Bielefeld vor 54.000 Zuschauern statt. Wer nicht gerade neben der Mercedes-Benz-Arena wohnt, wird die Anreise zum Stadion mehrheitlich mit öffentlichen, in der Regel überfüllten Verkehrsmitteln zurückgelegt haben.

War das vernünftig? Im Stadion werden sich die Fans, vor allem in den engen Stehrängen, bei den Toren in den Armen gelegen haben. War das vernünftig? Zwei Tage später, am Mittwoch, müssen der 1. FC Köln und Borussia Mönchengladbach ihr Derby ebenso vor leeren Rängen austragen wie Borussia Dortmund und Schalke 04 am Samstag. Union Berlin wiederum freut sich auf ein ausverkauftes Stadion gegen Bayern München.

Nordrhein-Westfalen ist stärker betroffen als Berlin

Nordrhein-Westfalen ist stärker vom Virus betroffen als Baden-Württemberg und Berlin. Dennoch hat der Manager des 1. FC Köln, Horst Heldt, Recht, wenn er eine „klare Ansage“ vermisst und erklärt, „wir handeln gerade konsequent inkonsequent in vielerlei Hinsicht.“ Zumal am heutigen Dienstag Rasenballsport Leipzig sein Champions-League-Spiel gegen Tottenham Hotspur vor vollem Haus bestreiten darf, während die zeitgleich geplante Leipziger Buchmesse ebenso abgesagt wurde wie das Internationale Literaturfestival lit.Cologne. Laut dem Leipziger Gesundheitsamt ist Großbritannien „kein Risikogebiet“, und aufgrund personalisierter Tickets „wäre jeder im Ernstfall nachverfolgbar und wieder auffindbar“. Drittens bestehe bei Veranstaltungen im Freien eine „andere Gefährdungslage“ als drinnen.

So kurios diese Begründung klingt – zu jeder Freiluftveranstaltung machen sich Hunderte oder Tausende in gemeinsam genutzten Fahrzeugen auf –, so glasklar ist die Begründung der Stadt Leipzig. Das „städtische Gesundheitsamt“ habe so entschieden. Und weshalb? Weil Gesundheitsämter tun dürfen, was dem Bundesgesundheitsminister aufgrund der „Kompetenzordnung des Grundgesetzes“ (Stephan Detjen) untersagt ist: Entscheidungen treffen.

Der Bund darf nur Empfehlungen aussprechen

Der Bund darf nur Empfehlungen aussprechen, etwa jene, Veranstaltungen mit über 1.000 Teilnehmern abzusagen. Vor Ort kann man sich an diese Empfehlung halten oder sie, wie nun in Leipzig, in den Wind schlagen. Ich bin bereit, das Subsidiaritätsprinzip gegen all seine Feinde in den Metropolen bis aufs Äußerste zu verteidigen. Hier aber gestehe ich: Wenn die Verabsolutierung eines Prinzips sich zur Gefahr für Leib und Leben auswächst, muss das Prinzip relativiert werden.

Die Pressekonferenz vom 9. März mit Bundesgesundheitsminister Spahn und Lothar Wieler, dem Präsidenten des Robert-Koch-Instituts, brachte das ganze Dilemma zutage. Die Fallzahlen steigen europaweit rapide an, die Sterberate in Italien ist enorm, Deutschland beklagt seine ersten Corona-Toten, Frühling und Sommer werden voraussichtlich nicht für Entlastung sorgen. Unverändert aber soll gelten, was immer galt und was Lothar Wieler referierte? Dass grundsätzlich das „lokale Gesundheitsamt“ zuständig bleibt, weil es „wirklich ein lokales Geschehen“ ist, „wo man möglichst viele Informationen liefern muss und Beratung, und dann entscheidet das lokale Gesundheitsamt, was es tut oder nicht“, von „Gemeinde“ zu „Gemeinde“.

Neue Herausforderungen können alte Prinzipien brechen

Jens Spahn stimmte zu und drehte die Argumentation listig in ihr Gegenteil. Er fände es „richtig, dass Behörden vor Ort entscheiden, aus genau dem Grund, den Professor Wieler gerade genannt hat.“ Ans Bekenntnis zum Status Quo setzte Spahn aber ein Plädoyer für dessen Änderung. „Erstmals in der bundesrepublikanischen Geschichte“ habe die Bundesregierung eine zentrale Quarantäne angeordnet – für 126 aus dem chinesischen Wuhan zurückgeholte Deutsche.

Präzedenzloses Neuland wurde damit gerade beschritten. Die Botschaft ist klar: Neue Herausforderungen können alte Prinzipien brechen. Darum erhofft Spahn ausdrücklich „zusätzliche Möglichkeiten auf Seiten des Bundes, zu reagieren“. Jetzt sei nicht die Zeit, eine solche Debatte zu führen, unter föderalen Bedingungen könne man sehr gut, sehr konstruktiv „miteinander“ arbeiten. Doch auch hier ließ das Aber nicht lange auf sich warten: Er, Spahn, habe großes Verständnis für das „hohe und nachvollziehbare Bedürfnis der Bürgerinnem und Bürger nach einheitlicher Handhabung mancher Dinge“, zumal in einer „nationalen Lage“ wie dieser, die nicht mit einem „regionalen Masernausbruch“ zu vergleichen sei.

Ist der Mensch ein lernfähiges Wesen? 

Es ist wirklich allerhöchste Zeit, diese Debatte zu führen und den Dissens zwischen „nationaler Lage“ (Spahn) und „lokalem Geschehen“ (Wieler) zu schlichten. Es gibt über 400 Gesundheitsämter in Deutschland. Natürlich sollen und müssen dort die lokalen Daten gesammelt und gemeldet werden. Ab einer kritischen Masse aber sollte künftig der Bund eine nationale Lage ausrufen und die entscheidenden Maßnahmen für das ganze Land verfügen, koordinieren und durchsetzen.

Der Föderalismus bräche nicht entzwei, würde er an dieser neuralgischen Stelle ausgehebelt. Zur Verantwortung in einem Gemeinwesen gehört zwingend eine „einheitliche Handhabung“ allgemein bedrohlicher Risiken. Die Länder, Kreise und Städte müssen bereit sein, Macht abzugeben, um Kompetenz zu gewinnen. Auf dem Spiel steht eine entscheidende Frage, dies- und erst recht jenseits von Corona: Ist der Mensch ein lernfähiges Wesen? Machen Niederlagen ihn klüger, oder bestärken sie ihn auf falschem Pfad?

Viren halten sich an keine Grenze 

Schon einmal hat der Mensch versagt. Nach der westafrikanischen Ebola-Katastrophe mit über 11.000 Todesopfern versammelte sich die WHO, die Weltgesundheitsorganisation der Vereinten Nationen, im Mai 2015, um ihre Schlüsse zu ziehen. Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach damals in Worten, die heute zur Wiedervorlage taugen: Gewonnen sei der Kampf gegen das Virus „erst, wenn es keine neuen Erkrankungen gibt. Eigentlich ist er aber erst dann wirklich gewonnen, wenn wir für die nächste Krise gerüstet sind – das heißt, wenn wir die Lehren aus dieser Krise gezogen haben.

Eine Lehre, die wir alle ziehen müssen, ist: Wir hätten früher reagieren müssen. Deshalb muss gefragt werden: Was kann gemacht werden?“ Die Kanzlerin gab sich die Antwort selbst: „Wir brauchen eine Art globalen Katastrophenschutzplan.“ Wenig ist geschehen seitdem. Besser gerüstet sind wir keineswegs. Umso wichtiger wäre es, wenigstens auf nationaler Ebene Kleinstaaterei und Kompetenzwirrwarr zu überwinden. Viren halten sich an keine Grenze, erst recht nicht an jene, die der bundesdeutsche Föderalismus vorsieht.

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