Massive Neuverschuldung - Im Corona-Casino spielen alle mit

Die Coronakrise zwingt die Regierung zur Aufgabe der schwarzen Null. Mit den finanziellen Hilfen von mehr als hundert Milliarden Euro wird der Bundestag eine massive Neuverschuldung beschließen. Aber sind wirklich alle Mittel recht, um den Wirtschaftsschaden klein zu halten und die Gemüter zu beruhigen?

Finanzminister Olaf Scholz hat Mittel gegen die Krise / picture alliance
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Kevin P. Hoffmann ist verantwortlicher Redakteur für die Berliner Wirtschaft beim Berliner Tagesspiegel. Foto: Guido Stoll

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156 Milliarden Euro neue Schulden für den Kampf gegen Corona: Das ist ein Donnerschlag! Und genau so soll es auch klingen. Aber hätten 50 oder 100 Milliarden nicht denselben Zweck erfüllt? 156 Milliarden: Die Zahl scheint so sehr an den Haaren herbeigezogen, dass man sich Sorgen machen muss, ob mancher in der Bundesregierung nicht gerade den Kopf und die Nerven verliert.

156 Milliarden: Diese Zahl ist – nach menschlichem Ermessen beim heutigen Wissensstand um die Ausmaße dieser Katastrophe – unverhältnismäßig hoch und so weit weg von der „Schwarzen Null“, die die amtierenden Bundesfinanzminister nun immerhin schon seit dem Jahr 2014 gehalten haben. Seit sechs Jahren hat der Bund keine neuen Schulden aufgenommen. Unseren Kindern und Enkeln zuliebe. Muss man um diese symbolträchtige Null trauern?

Beispiellose Krise und beispiellose Investitionen

Nicht eine Minute! Auch ohne Corona wären einem genügend kluge und nachhaltige Investitionen eingefallen, für die der Bund neue Schulden hätte aufnehmen können – gerade in Zeiten Nullzinsen, in denen er quasi ohne Kosten Kredite aufnehmen kann: Für den Kampf gegen wirtschaftliche Armut und die Bildungsarmut, für den Strukturwandel wegen der Energiewende, für die Verkehrswende, zur Bekämpfung von Fluchtursachen. Und für vieles mehr. Hat er aber nicht.

Jetzt braucht es eben viel, viel Geld für den Kampf gegen das Coronavirus. Und der nächstliegende Gedanke ist, dass man einer beispiellos großen Krise auch mit Investitionen in beispielloser Höhe begegnen sollte. So lange man keine klügere Idee hat, stimmt das wohl auch.

Finanzpflaster für Wirtschaftssorgen

Insofern ist die extreme Höhe der aufgerufenen Summen leider ein Indiz für die Unsicherheit der Verantwortlichen: Die Regierung will offenbar so viel Geld in den Wirtschaftskreislauf drücken, dass allen denkbaren Gruppen – von den Solo-Selbstständigen bis zu Schwabens Mittelständlern mit Tausenden Industriebeschäftigten – alle Sorgen im Keim erstickt werden. Nichts gegen Beruhigungspillen: Wenn dieses Land etwas gerade nicht gebrauchen kann, dann sind es Menschen, die eingepfercht sind in ihren Mietwohnungen, und gleichzeitig um ihre wirtschaftliche Existenz fürchten müssen.

Und doch muss man die astronomischen Summen ins Verhältnis setzen, um zu verstehen, was die Regierung hier tut. Zum Vergleich: Der medizinische Kampf gegen das Virus spielt nur eine Nebenrolle. „Nur” drei Milliarden, also weniger als zwei Prozent oder ein Fünfzigstel der 156 Milliarden Euro, sollen an die Klinikbetreiber gehen, damit sie jetzt möglichst viele Leben retten können.

Erkauft man Ruhe und Harmonie?

Und erinnert sich jemand an den Streit der Koalition um die sogenannte „Grundrente”? An der Detailfrage, ob die Bedürftigkeit jedes einzelnen Empfängers überprüft werden muss, wäre die Koalition vor Monaten fast zerbrochen! Für diese Grundrente ab dem Jahr 2021 sind nur rund 1,3 Milliarden Euro (also ein Hundertzwanzigstel) der nun angesagten Corona-Summe veranschlagt. Insgesamt würde diese Schuldenaufnahme den bisher angesetzten Bundeshaushalt um deutlich mehr als ein Drittel (plus 43 Prozent) erweitern.

Das klingt nach Schlagkraft, ist aber auch eine historisch extrem hohe Last, die die Regierung den jungen Generationen aufbürden will – ohne die Frage beantwortet zu haben, welche weiteren Kosten noch auf heimische Steuerzahler zukommen, wenn Deutschland ökonomisch weitaus schwächeren Ländern der EU im Kampf gegen Corona unterstützen will. Oder muss, soll die Union erhalten werden. Und wofür das alles? Um Ruhe zu haben, Harmonie zu erkaufen.

Wem muss man die Existenzsorgen nehmen?

Kein Regierungsmitglied besaß bisher den Mut oder die Frechheit öffentlich ein paar unbequeme Fragen zu stellen: Warum zum Beispiel in Bund und Ländern pauschal jeder Kleinstunternehmer oder Solo-Selbstständige von Steuergeld unterstützt werden soll. Sind das wirklich allesamt prekär beschäftigte Lohnsklaven, denen eine Festanstellung stets verwehrt worden ist, und denen man jetzt zweifellos Existenzsorgen nehmen muss?

Oder sind nicht auch viele darunter, die in guten Tagen gern von allen denkbaren – nicht nur steuerlichen – Freiheiten und Vergünstigungen der Freiberuflichkeit profitiert haben und die sich erfolgreich den teuren aber wirksamen Schutzsysteme der Solidargemeinschaft entzogen haben. Und was ist mit den Unternehmern, deren gesamtes Geschäftsmodell auf Unterstützung durch Freiberufler beruht?

Es gilt: Solidarität statt Neid

Auch sie sollen durch die Steuern von Arbeitern und Angestellten gerettet werden. Unbequem – aber geboten – wäre es auch, zumindest fünf Minuten das geplante Gesetz zu hinterfragen, mit dem die Regierung für Vermietern pauschal verbieten will, ihren Mietern wegen Rückständen zu kündigen.

Natürlich sollte jeder Vermieter, der während der Corona-Krise einem Mieter – egal ob privat oder gewerblich – kündigt, zur Hölle fahren. Aber unter den Vermietern sind auch Privatpersonen, die nur ein bis zwei Wohnungen besitzen, und die Kredite für den Kauf auch jeden Monat über Jahre bei der Bank abstottern müssen. Wer hilft ihnen? In diesen Tagen ist Zusammenhalt gefragt, nicht Spaltung, Solidarität statt Neid.

Die Regierung muss weiter hinterfragt werden

Wir bleiben zu Hause, wir helfen anderen, wir retten so Leben. Hoffentlich. Trotzdem muss gefragt und hinterfragt werden: Muss und kann der Staat eine Vollkaskoversicherung für alle Unternehmer sein, auch für die, die sich gern von Steuerlasten befreit haben? Sind all die Maßnahmen, die die Bundesregierung ergreift, wirklich geeignet, um langfristig die Gesundheit und den sozialen Frieden in diesem Land zu sichern? Oder taugen sie nur für einen Schub in der nächsten Wahlumfrage?

Finanzminister und Vizekanzler Olaf Scholz erlebt gerade seinen Helmut-Schmidt-Sturmflut-Moment. Die Wahrscheinlichkeit, dass dieser den ehemaligen Hamburger Bürgermeister auch irgendwann ins Kanzleramt spült, steigt nicht mit der Höhe der Corona-Rettungssumme, sondern mit der dem Grad an Weitsicht und Fairness, mit der der Minister das nötige Steuergeld unter die Leute bringt.

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