
- Was passiert, wenn das Virus die Regierung lahmlegt?
Das Coronavirus hat jetzt auch die Politik erreicht. Die Bürger müssen sich darauf vorbereiten, dass die Legislative und Exekutive nur noch bedingt einsatzfähig sind. Der Staatsrechtler Christian Pestalozza sieht diesem Ernstfall gelassen entgegen. Mehr Sorge bereitet ihm etwas anderes.
Christian Pestalozza ist emeritierter Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Freien Universität Berlin. Er ist auch bekannt als Buch-Autor und Grundgesetz-Kommentator.
Herr Pestalozza, das Corona-Virus ist in der Politik angekommen. Der Reichstag ist für Besucher schon geschlossen. Was ist, wenn die Kanzlerin erkrankt?
Für den Fall, dass sie verhindert ist, hat sie einen Vize-Kanzler ernannt, Finanzminister Olaf Scholz. Der kann natürlich auch krank werden.
Und dann?
Das Grundgesetz hat auf diese Frage keine Antwort. Die Auffassung geht dahin, in solchen Fällen die Geschäftsordnung der Bundesregierung anzuwenden. Die regelt diese Frage zwar auch nicht unmittelbar. Es gibt aber eine Eventual-Regelung für die Sitzungen der Bundesregierung. Und danach führt der Minister die Geschäfte, der von der Kanzlerin oder vom Vize-Kanzler bestimmt worden ist. Wenn es dazu nicht mehr gekommen ist, kommt der Minister zum Zuge, der der Bundesregierung am längsten ununterbrochen angehört. Und wenn das mehrere sind, ist es der lebensälteste ...
... Entwicklungshilfeminister Gerd Müller von der CSU.
Genau. Diese Regelung könnte man nicht nur auf die Sitzungen, sondern auf die allgemeinen Geschäfte der Bundesregierung anwenden. Sie können natürlich auch noch eine Ebene tiefer gehen. Die Minister werden normalerweise von ihren Staatssekretären vertreten, und wenn die ausfallen, rücken die Referatsleiter nach. Irgendwie wird das schon funktionieren. Je mehr Sie sich von der politischen Spitze entfernen, desto wahrscheinlicher ist es, dass Sie auf Fachkräfte treffen. Eine politische Spitze ist nicht automatisch eine fachverständige.
Heißt das, ob Deutschland von der Kanzlerin regiert wird, oder in China fällt ein Sack Reis um, ist eigentlich egal?
Was heißt ein Sack Reis? Die Leute, die wir in dieser Krise brauchen, sind nicht die Politiker, sondern Virologen. Und die Pharmazeuten, die bitteschön so schnell wie möglich einen Impfstoff entwickeln. Die Politik tritt in den Hintergrund.
Betrifft das auch das Parlament? Einzelne Bundestagsabgeordnete wie Alexander Graf Lambsdorff (FDP) sind jetzt schon infiziert. Können Gesetze notfalls auch verabschiedet werden, wenn eine Fraktion nicht an der Sitzung teilnehmen kann, weil sie unter Quarantäne steht?
Wenn ich die Frage bejahen würde, würde es so klingen, als hätte ich etwas gegen die FDP-Fraktion. Jeder kann betroffen sein, es wird nicht so sein, dass es gezielt nur die oppositionellen Fraktionen betrifft oder umgekehrt nur die Mehrheitsfraktionen.
Was passiert in Deutschland, wenn die Legislative ausfällt?
Es kann schon sein, dass das Parlament drastisch reduziert wird oder dass vorsorglich angeordnet wird, dass es nicht mehr zusammentritt.
Und dann würden alle Gesetze vorübergehend auf Eis gelegt?
Nein, Gesetze können auch in kleinster Runde beschlossen werden. Das Grundgesetz schreibt nicht vor, wie viele Leute da sein müssen, damit der Bundestag ein Gesetz verabschieden kann. Das können drei Leute sein. Es darf nur keiner der Teilnehmer beanstanden, dass der Bundestag nach der Geschäftsordnung nicht beschlussfähig ist. Und danach müssen mehr als die Hälfte der 709 Abgeordneten anwesend sein. Aber wenn das nicht gerügt wird, spielt das keine Rolle. Mein Gott, wird sind doch technisch nicht mehr im Mittelalter. Wozu gibt es Videokonferenzen?
Das Parlament fremdelt aber noch ein bisschen mit der digitalen Übertragungstechnik.
Warum eigentlich? In der Wirtschaft gehören Videokonferenzen doch längst zum Alltag. Die Abgeordneten brauchen gar nicht mehr zusammenzusitzen.
Ist das nach der Verfassung möglich?
In der Verfassung steht nichts von Videokonferenzen, nur von „öffentlichen Sitzungen“. Man muss das eben modern interpretieren.

Infizierte Abgeordnete sollen sich per Skype dazuschalten können?
Genau. Wenn es ganz schlimm kommt, treffen wir uns überhaupt nicht mehr, sondern machen alles über Videokonferenzen. Die werden dann ins Internet gestellt, damit die Transparenz gewährleistet ist. Dann ist das unser Plenum. Aus ihrem Krankenbett schalten sich die Abgeordneten zu, das Frühstücksbrettchen daneben. Dann wird heftig diskutiert und sich gegenseitig beschimpft. Und dann wird abgestimmt. In Zeiten der Not muss das klappen,
Nur in Zeiten der Not?
Nein, ich würde mir das sowieso in Zukunft auch für andere Gremien wünschen. Diese Reisen der Abgeordneten zu den Sitzungen des Bundestags sind unglaublich teuer. Es kostet auch unglaublich viel Zeit. Es kann auch nicht sein, dass 30 Jahre nach der Wiedervereinigung immer noch Mitarbeiter von Ministerien zwischen Bonn und Berlin hin- und herfahren.
Die Verfassung stammt noch aus dem Jahr 1949. Zeigt die Coronakrise nicht, dass sie von der Globalisierung überholt wurde?
Wir können von einer Verfassung nicht verlangen, dass sie alle Widrigkeiten des Lebens regelt. Die Ereignisse, die wir jetzt haben, sind aber ein guter Anlass, über die Zuständigkeiten von Bund und Ländern nochmal neu nachzudenken. Sollten die in der Gesundheitspolitik nicht stärker beim Bund liegen?
Aber die Bürger müssen sich keine Sorgen machen, dass in Deutschland das Chaos ausbricht, wenn das Coronavirus die Exekutive und die Legislative lahmlegt?
Irgendjemand wird immer noch da sein, aber das Personal könnte sich zum Schluss sehr ausdünnen. Aber noch mehr Sorge bereitet mir etwas anderes.
Was denn?
Dass neben dem Personal in den Krankenhäusern auch unsere Sicherheitskräfte ausfallen könnten: Polizei, Feuerwehr, Bundeswehr. Die arbeiten ja in Gruppen zusammen und sind deshalb auch einem größeren Risiko ausgesetzt, sich untereinander anzustecken. Da sehe ich große Gefahren, wenn die in erheblichem Umfang ausfallen. Ich möchte mir nicht vorstellen, was hier passiert, wenn plötzlich keine Polizeistreife mehr fährt.
Die Fragen stellte Antje Hildebrandt.