Corona-Krise und Zivilkultur - Das Virus als Sargnagel der Demokratie

Um das Coronavirus an seiner Ausbreitung zu hindern, greift der Staat in die Grundrechte ein. Was in der jetzigen Situation notwendig erscheint, kann Katalysator für eine weitere Krise sein, die sich schleichend angekündigt hat: die Krise der Demokratie.

Protest zur Verteidigung der Grundrechte in Berlin / dpa
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Autoreninfo

Julian Nida-Rümelin ist Professor für Philosophie in München. Er war Kulturreferent der Landeshauptstadt München und 
Kulturstaatsminister 
im ersten Kabinett Schröder.
Zuletzt erschien von ihm: „Die gefährdete Rationalität der Demokratie. Ein philosophischer Traktat“ in der Edition Körber. Foto: picture alliance

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Im Sommer 2019 habe ich den Versuch unternommen in der anhaltenden Krise westlicher, liberaler und sozialer Demokratien Orientierung zu geben. Herausgekommen ist eine Art Kondensat aus vielen Jahren des Nachdenkens über das Funktionieren, die Regeln und Institutionen der Demokratie und das, was man als Ihre normative Dimension verstehen kann – also die meist nur impliziten Verhaltensweisen, Regeln und Werte, Verständigungspraktiken und Einstellungen, die das gesellschaftliche und kulturelle Netz spannen in dem eine Demokratie erst möglich wird.

Daraus ergibt sich dann umgekehrt der Befund, dass die Demokratie erodiert, wenn dieses Netz löchrig wird oder gar zu zerreißen droht. Ich wollte allerdings keine weitere Krisen-Diagnostik schreiben, sondern verständlich machen, was die spezifische Rationalität der Demokratie im Kern ausmacht.

Missverständnisse als Krisentreiber

Verbreitete Missverständnisse zum Wesen der Demokratie sind nämlich in den vergangen Jahren und Jahrzehnten neben anderen Entwicklungen, wie der Globalisierung, der Abhängigkeit von Weltfinanzmärkte, der Ungleichheitsentwicklung in den westlichen Demokratien, der Systemkonkurrenz mit wirtschaftlich erfolgreichen Diktaturen oder Autokratien, zu einem Krisentreiber geworden.

Wer meint, Demokratie bestehe idealerweise darin, dass die jeweiligen Mehrheitsmeinungen in der Bevölkerung in politische Praxis umgesetzt werden, ist für populistische Ressentiments empfänglich, meist rechts im politischen Spektrum, manchmal in der Mitte, wie die populistische Bewegung 5 Sterne in Italien gezeigt hat; gelegentlich aber auch links, vor allem in Südeuropa und Südamerika (Syriza, Podemos, Chávez etc.).

Populisten und die demokratischen Institutionen

Populisten mobilisieren gegen demokratische Institutionen, gegen die Idee der gestuften Entscheidungsfindung über Parlamente, gegen die rechtsstaatliche Einhegung politischer Praxis, gegen wissenschaftliche Expertisen. Rechte Populisten vertrauen dann auf charismatische Führerfiguren, die – vermeintlich – den jeweiligen Volkswillen oder den Willen der Bewegung in politische Aktion abwandeln und politische Emotionen, nicht etwa einer kritischen Prüfung im öffentlichen Diskurs unterziehen, sondern zu schlichten handlungsleitenden Parolen ummünzen.

Die in dem politischen Traktat entwickelte Demokratietheorie ist integralistisch, d.h. sie macht deutlich, dass es ganz unterschiedliche Aspekte der Rationalität politischer Praxis in der Demokratie gibt, die zusammengeführt werden müssen, um ein angemessenes Verständnis von Demokratie zu entwickeln.

Unterschiedliche Aspekte der Rationalität

Nehmen wir das Beispiel des Verhältnisses von individuellen Rechten und kollektiver Autonomie. Selbst in Urteilen des Bundesverfassungsgerichtes werden diese beiden Aspekte als Rechtsprinzip einerseits und als Demokratieprinzip andererseits gegenübergestellt. Das ist irreführend.

Julian Nida-Rümelins
„Die gefährdete Rationalität der Demokratie“
ist am 9. März erschienen  

Kollektive Autonomie einer Bürgerschaft beruht auf einem Konsens höherer Ordnung, der zumindest die Regeln des Konfliktaustrages, die Grundprinzipien der Verfassung und die Grundwerte, die die Zivilkultur einer Demokratie prägen, betrifft. Wenn es Konflikte auch hinsichtlich dieser normativen Grundlagen der Demokratie gibt, dann verschiebt sich der Konsens weiter auf eine höhere Stufe, das heißt es muss dann wenigstens einen Konsens darüber geben in welcher Weise der Konflikt in solchen Fällen auszutragen ist.

Auf Kriegsfuß mit den Normen der Zivilkultur

Wer Bürgerinnen und Bürger lediglich als Marktteilnehmer modelliert, die ihre je eigenen Interessen optimieren und sich fallweise zu Lobbygruppen und Interessenvertretungen zusammenfinden, verfehlt die normative Logik der Demokratie. Aber auch diejenigen, die gegen die Idee einer deliberativen, auf Verständigung zielende, demokratische Praxis mit dem Argument polemisieren, dass es doch um Freund-Feind-Verhältnisse ginge, dass der Klassenkampf durch demokratische Verfahren nicht moderiert werden könne, sondern lediglich Herrschaftsverhältnisse spiegele.

Wer – post-marxistisch – für ein agonistisches, statt zuvor antagonistisches, Politikverständnis plädiert, steht mit den Normen der Zivilkultur, die eine Demokratie trägt, auf dem Kriegsfuß. Das gilt auch für multikulturalistische Modelle, wonach die einzelne Person als Mitglied einer kulturellen Gemeinschaft zählt und die Demokratie keine inklusive Verständigungspraxis über die gesamte politische Gemeinschaft hinweg, sondern lediglich einen Modus Vivendi, zwischen diesen kulturellen Gemeinschaften herstellen könne, gefährdet die spezifische Rationalität der Demokratie.

Vorboten des demokratischen Verfalls

Man kann dies besonders deutlich in den USA beobachten. Der Positionalismus von Links, wonach die jeweilige Wahrnehmung der sozialen und politischen Realität vom eigenen Standpunkt abhänge, wurde unterdessen erfolgreich in einen rechtsgewirkten Medien-Populismus transformiert (wie es der italienische Philosoph Maurício Morais treffend formuliert hat) und das Ergebnis ist eine schwere Beschädigung der politischen Kultur.

Die Rechts- und Staatsordnung einer Demokratie kann nur dann den zivilen Frieden stiften, wenn sie von einer geteilten Zivilkultur des Respekts und der Kooperation getragen ist. Die rechts im politischen Spektrum offene und links meist verhaltene Verehrung für den Kronjuristen der Nationalsozialisten Carl Schmitt und die zynische Verächtlichmachung des mühsamen Geschäfts rationaler Verständigung über unterschiedliche Interessensstandpunkte hinweg sind Vorboten demokratischen Verfalls.

Wird die Corona-Krise zum Sargnagel?

Die beiden feindseligen Brüder im Geiste, der ökonomistische Marxismus und der ebenfalls ökonomistische Markt-Radikalismus fordern die normativen Grundlagen demokratischer Praxis gleichermaßen heraus. Nur als Citoyen, als Teilnehmende an einer Praxis, die den eigenen partikularen Interessensstand überwindet, sind wir in der Lage das Netz der Kooperation und der Verständigung zu knüpfen, das die zivile Kultur der Demokratie ausmacht.

Wird die Corona-Krise nun zum Sargnagel der Zivilkultur und der demokratischen Institutionen? Die bisherige Entwicklung ist ambivalent: Auf der einen Seite stehen demokratisch gewählte Staatsmänner mit autokratischen Herrschaftsallüren, die sich die Krise zu einer weiteren Demontage demokratischer Zivilkultur und demokratischer Institutionen zu Nutze machen. Nein, Ungarn und die USA sind Beispiele. Auf der anderen Seite scheint es eine Sehnsucht in der Bevölkerung nach Seriosität in der Krise zu geben, die populistische Stimmungsmache verstummen lässt oder wirkungslos macht.

Im Hintergrund steht ein politischer Großkonflikt

Auf der einen Seite steht die angstgetriebene Konformität, das vorweggenommene Einverständnis mit jeder Form des Regierungshandelns in der Krise und auf der anderen Seite das wachsende Vertrauen in demokratische Parteien, die exekutive Verantwortung tragen. Im Hintergrund steht der Großkonflikt zwischen unterschiedlichen politischen Systemen.

Die Sorge, dass China mit Staatskontrolle, mit Missachtung der Bürgerrechte, mit dem umfassenden Einsatz digitaler Überwachungsmethoden, in der Krisenbewältigung erfolgreicher ist als westliche, rechtsstaatlich verfasste Demokratien. Dabei kann kein Zweifel bestehen, dass die bisherige Bilanz für die ostasiatischen Staaten, China, Südkorea und Taiwan, wohl auch Singapur und Japan erfolgreicher ausfällt als für die europäischen Strategien.

Mittelalterliche Methoden in Europa

Während Südkorea auf Nachverfolgbarkeit, ein umfangreiches Testungsprogramm, Sicherheitsschleusen und Masken tragen setzt, verlassen sich die meisten europäischen Länder bislang auf die mittelalterliche Methode, die missverständlich als Social Distancing bezeichnet wird, also soziale Distanzwahrung.

Dabei geht es nicht um soziale Distanz, im Gegenteil, in der Krise ist soziale Nähe wichtiger denn je, sondern um das unterbrechen von Infektionswegen und dazu gehört in vielen Fällen die räumliche Distanz. Italien, Spanien, Frankreich, abgeschwächt auch Deutschland setzen auf allgemeine Ausgangsbeschränkungen und alle gleichermaßen betreffende Maßnahmen, während Südkorea auf allgemeine Ausgangsbeschränkungen verzichtet und mit risikostratifizierten Maßnahmen vorgeht.

Kultur- statt Systemkonflikt

Bislang ist Südkorea dabei sehr erfolgreich hat eine Verlängerung des Verdopplungszeitraums von Infektionen auf über 60 Tage erreicht, was weit über den Ergebnissen europäischer Länder liegt. Von daher könnte man eher von einem Kultur- als von einem Systemkonflikt sprechen. Dieser Kulturkonflikt zieht sich auch quer durch Europa.

Schweden setzt immer noch überwiegend auf Freiwilligkeit und Einsicht. Italien, Spanien und Frankreich auf massive Einschränkungen der Bürgerrechte, Deutschland folgt dem bislang weitgehend, während sich in der USA ein Desaster abzeichnet, angesichts eines schwach entwickelten Sozialstaates, einer vollständig durchkommerzialisierten Medizin und sozialer und kultureller Spaltungen.

Die Corona-Pandemie als Krisenbeschleuniger?

Die Demokratie kann aus der Corona-Krise gestärkt hervorgehen, wenn die Maßnahmen sich als wirksam herausstellen, die Institutionen Handlungskraft zeigen und die Bürgerrechte nicht dauerhaft beschädigt werden. Dies setzt voraus, dass die Kooperationsbereitschaft und die Einsichtsfähigkeit der Bürgerinnen und Bürger ernstgenommen und möglichst bald risikostratifizierter Schutz für diejenigen, die den Schutz besonders nötig haben, die Gruppen der Gefährdeten und Hochbetagten, zulässt, die ökonomischen, sozialen, kulturellen und politischen Aktivitäten wieder aufzunehmen.

Wenn aber die Sehnsucht nach dem starken Staat, der mit rigorosen Eingriffen in individuelle Freiheiten und Rechte, eine Krise nur schlecht bewältigt, dann könnte sich die Corona-Pandemie als Krisenbeschleuniger der liberalen und sozial verfassten Demokratien des Westens erweisen. Ich hoffe sehr, dass es anders kommt.

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