Corona-Diskurs - Woher kommt die Impfskepsis? Ein etwas anderer Erklärungsversuch

Viele Argumente derjenigen, die sich nicht mit den neuartigen Covid-Vakzinen impfen lassen wollen, mögen irrational sein – jedoch bei Weitem nicht alle. In jedem Falle stehen Ängste und Bedenken dahinter, über die in einer demokratischen Gesellschaft offen geredet werden müsste. Doch das scheint im gegenwärtigen gesellschaftlichen Klima unmöglich.

Emmanuel Macron wähnt sich im „Krieg“ gegen Corona - da ist die Suche nach dem Feind nicht weit / dpa
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Autoreninfo

Wolfgang Müller ist freier Autor in Hamburg. Er war bis 2020 Redakteur für Zeitgeschichte beim NDR. 2021 erschien sein Buch "Zumutung Anthroposophie. Rudolf Steiners Bedeutung für die Gegenwart."

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Ganz leicht ist es nicht zu verstehen. Da ist eine Epidemie, die gerade durch ihre vierte Welle geht und die bei vielen, nicht nur den Ältesten, zu schweren Erkrankungen führen kann, es gibt auch inzwischen eine Impfung, die zumindest die Verläufe mildern kann – und trotzdem schlagen manche Menschen sie aus. „Irrational“, wie sie dann zu hören bekommen. Und tatsächlich lässt sich aus den Verlautbarungen der Impfgegner leicht ein Panoptikum des Unsinns zusammenstellen.

Dennoch ist die Sache komplizierter. Und tief im Unsinn verbirgt sich auch ein gewisser Sinn. Drei Aspekte.

1. Das Phänomen wurde nicht richtig erfasst

Da kam ein neues Virus, und es ist buchstäblich virulenter als das meiste, dem die heute Lebenden begegnet sind; weil es eben unsere Immunsysteme noch unvorbereiteter trifft als etwa Influenzaviren, mit denen unser Organismus, trotz ihrer Wandelbarkeit, schon eine gewisse Bekanntschaft hat. Mithin war es gerade in der Anfangsphase, noch ohne Impfoption, eine vernünftige Reaktion, eine Vielzahl von Kontaktbarrieren aufzurichten, um besonders verletzliche Gruppen, Alte und Vorerkrankte, zu schützen. Die gesellschaftliche und ökonomische Vollbremsung hatte einen hohen Preis. Andererseits ist man dankbar, in einem Gemeinwesen zu leben, das nicht gleichsam einen Teil seiner Mitglieder opfert, damit der Betrieb weiterläuft.

Wahr ist aber auch: Der reale Umgang mit dem Problem schoss weit über diese rationale Ebene hinaus, er hatte Züge einer großen hysterischen Übertreibung. Was der französische Präsident Macron aussprach: man sei „im Krieg“, traf auch hierzulande die Stimmung. Camus‘ „Pest“ wurde zum postumen Bestseller, offizielle Reden wie mediale Darstellungen waren vielfach aufgeladen mit Angstszenarien, die die reale Herausforderung weit übertrafen.

Im Grunde war die leichtfertige Bagatellisierung der Gefahr in anderen Teilen der Gesellschaft nichts anderes als die entsprechende Gegen-Übertreibung. Hier wie dort wurde das Entscheidende verfehlt: das Format des Problems einigermaßen nüchtern zu bestimmen und eine angepasste Antwort zu finden. Vielleicht wäre diese Antwort gar nicht viel anders ausgefallen als das, was wir hatten, aber sie wäre – ohne jenen verdächtigen Panikmodus – glaubwürdiger gewesen.

2. Der Diskurs war nicht ok

Mit dem Großalarm war der Ton gesetzt, alle anderen Töne waren nicht mehr wirklich willkommen. Dieses Muster zieht sich durch die ganze Pandemie. Es zeigte sich schon im April 2020, als der Hamburger Rechtsmediziner Klaus Püschel, der als Erster eine größere Zahl Corona-Toter obduzierte, feststellte, alle von ihm Untersuchten hätten schwere Vorerkrankungen gehabt. Er verstand das nicht als Einwand gegen die Schutzmaßnahmen, die er befürwortete. Trotzdem wurde sein Befund mit einer Aufregung registriert und rasch weggeschoben, als falle hier ein Einzelner der ganzen Nation in den Rücken.

Diese Linie zieht sich bis zu den jüngsten Äußerungen eines Richard David Precht. Der medienaffine Philosoph hatte berichtet, seine zweite Corona-Impfung habe ihn „umgehauen“, und hatte erklärt, er würde eine solche Impfung bei Kindern mit ihrem im Aufbau befindlichen Immunsystem nicht einsetzen. Postwendend wurde der doppelt Geimpfte als „Querdenker“ diffamiert.

Es geht überhaupt nicht darum, ob ein Püschel schon das ganze Bild dieser Erkrankung erfasste oder ein Precht recht hat. Geirrt haben sich auch ganz andere, angefangen mit dem RKI, das etwa das „Masken“-Tragen anfangs für sinnlos hielt und fast über Nacht zum zentralen Teil der Lösung erklärte. Es geht vielmehr um die Bereitschaft, die Dinge in einer Atmosphäre zu besprechen, die einer aufgeklärten Gesellschaft würdig ist. Man möchte gern in einem Gemeinwesen leben, das abweichende Gesichtspunkte nicht paternalistisch ausblendet oder rabiat wegdrückt, sondern mit Respekt zur Kenntnis nimmt – auch wenn es ihnen nicht folgt. In einem solchen Gemeinwesen leben wir nicht.

3. Zentrale Fragen werden nicht gestellt

Wenn nicht alles täuscht, verbirgt sich hinter der Skepsis gegenüber den Corona-Maßnahmen ein weitaus größeres Thema: eine Skepsis gegenüber der modernen Wissenschaft überhaupt. Da mögen viele Dinge hineinspielen, von einem romantischen Unbehagen an der kalten Moderne bis zur schlichten Unfähigkeit, eine Statistik zu lesen. Aber etwas Berechtigtes gibt es auch hier. Es ist der Verdacht, diese mit so breiter Brust auftretende Wissenschaft könnte sich erheblich überschätzen.

Ein Beispiel: Zweifellos können Impfungen ein wirksames Mittel gegen bestimmte Infektionen sein. Dass etwa eine Krankheit wie die Kinderlähmung nicht mehr so viele Menschen trifft wie einst, ist ein Segen. Trotzdem bleibt die Frage, was wir da eigentlich tun, wenn wir versuchen, immer mehr Krankheiten durch Impfung zu eliminieren. Seit Millionen Jahren sind Immunsysteme auf die Auseinandersetzung mit bestimmten Erregern eingestellt, eine meist erfolgreiche, manchmal auch fatale Auseinandersetzung. Wenn nun die Medizin plötzlich, sozusagen seit einer evolutionären Sekunde, die stärksten immunologischen Konfrontationen abdämpft – wie wird unser Immunsystem reagieren? Ist es ein absurder Gedanke, dass es, gleichsam irrlichternd, „falsche“ Gegner identifizieren oder sich gar gegen sich selbst wenden könnte? Dies könnte – neben anderen Faktoren! – ein Aspekt sein, der die Zunahme von Allergien und möglicherweise auch Autoimmunkrankheiten erklärt.

In den Laboren werden viele ihr Gesicht verziehen und sagen: Das ist reine Spekulation, dafür gibt es keine Evidenz. – Na klar, möchte man antworten, diese Evidenz wird sich auch kaum finden lassen mit einer Wissenschaft, die auf kleinräumige Kausalitäten fixiert ist nach dem Motto: Eingriff A hat Wirkung B, in seltenen Fällen auch C, ohne zu sehen, dass eines Tages auch noch Wirkung N oder Q folgen könnten. Die Wahrheit ist, dass die heutige Wissenschaft diese Fragen nicht beantworten kann und, schlimmer, sie nicht einmal entschieden stellt. Wie sagte der Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker? „Wer die westliche Wissenschaft kennt, weiß, dass sie fast nur dasjenige empirisch zu Gesicht zu bekommen vermag, worauf sie theoretisch – wenigstens in der Begrifflichkeit der Fragestellung – vorbereitet ist.“

Interessant wäre zu beobachten, ob für bestimmte Fragestellungen die Drittmittel auch so reichlich fließen würden wie jetzt. Jedenfalls: Die hochkomplexe Oberfläche des Wissenschaftsbetriebs täuscht, in zentralen Fragen bleibt diese Wissenschaft unterkomplex.

Fazit: Mehr Bescheidenheit

Das ist – die Dinge sind eben schwierig – auch keine Schande. Aber es könnte ein Grund zu mehr Bescheidenheit sein. Dass davon nichts zu sehen ist, dagegen viel von einer großspurigen Volksbelehrung, mag auch zu der Hintergrundskepsis beitragen, die sich bei manchen als Impfskepsis äußert.

Nimmt man alles zusammen – die überschießende Corona-Panik, den verengten Diskurs, die Arroganz einer halbwissenden Wissenschaft, die der skeptischen Gegenseite Halbwissen vorwirft –, dann ergibt das immer noch keine guten Gründe für eine Verharmlosung des Corona-Problems. Es bleibt dabei: Manche der Verharmloser blenden ihrerseits Teile der Wirklichkeit aus, etwa die auf den Intensivstationen. Was sich aber ergibt, ist die Möglichkeit, jene Da-stimmt-etwas-nicht-Stimmung zu erklären, die in Teilen der Gesellschaft wabert. Das, was nicht stimmt, ist zwar etwas anderes, als es sich manche in ihren dunklen Fantasien ausmalen. Aber der emotionale Hauptpunkt, das Misstrauen, ist gesetzt.

Zugleich lässt sich das Phänomen, in dem wir seit bald zwei Jahren leben, besser verstehen: die Polarisierung der Gesellschaft, der Hass, die Schuldzuweisungen. Denn auch dies wird jetzt erkennbar: dass in den Vorbehalten durchaus – wenngleich oft ins Krude verschoben – berechtigte Fragen rumoren. Sie mit dem Hinweis auf einige Wirrköpfe abzutun, wird die Polarisierung nur steigern.

Welche Folgerungen am Ende zu ziehen sind, wird man in einer freien Gesellschaft nicht vorgeben wollen. Eine mögliche Option: Die einen erwägen doch eine Impfung, die anderen hören einmal ernsthaft zu.

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