Corona und die Folgen - „Die Demokratie hat Schaden genommen“

Hans-Jürgen Papier, ehemaliger Präsident des Bundesverfassungsgerichts, hat während der Covid-19-Krise immer wieder mahnend seine Stimme erhoben. Nun kritisiert er im Cicero-Interview die Exekutivlastigkeit der deutschen Politik und die zu eng gefasste Definition von Gesundheit im Zuge der Corona-Maßnahmen.

Hans-Jürgen Papier / Kay Blaschke, Random House
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Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Hans-Jürgen Papier ist Staatsrechtswissenschaftler. Von April 2002 bis 2010 war er Präsident des Bundesverfassungsgerichts.

Herr Papier, Deutschland hat gewählt. Ende Oktober tritt der 20. Deutsche Bundestag zu seiner konstituierenden Sitzung zusammen. Gibt es da etwas, was Sie den oftmals noch jungen und unerfahrenen Abgeordneten gerne mit auf den Weg geben würden?

Als Staatsrechtler würde ich ihnen gerne sagen, dass sie als unmittelbar vom Volk gewählte Repräsentanten eigentlich das demokratisch am meisten legitimierte Organ unseres Staates bilden. Man hatte ja während der zurückliegenden Monate, aber eigentlich auch schon lange vor Corona, immer wieder mal den Eindruck, dass die Kanzlerin und ihre Minister das oberste staatsleitende Organ in diesem Land sind. Somit kann ich immer wieder nur daran erinnern, dass das nicht der Fall ist. Diese Aufgabe kommt eben dem Bundestag zu.

Sie haben früher schon des Öfteren auf die Exekutivlastigkeit dieses Landes verwiesen. Hat sich Ihr Eindruck während der Corona-Pandemie noch einmal verstärkt?

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Ja, es darf sich nicht mehr wiederholen, dass ein in der Verfassung gar nicht vorgesehenes Gremium einer Schaltkonferenz zwischen den Ministerpräsidenten und dem Bundeskanzleramt die wesentlichen Entscheidungen trifft. Ein derartiges Vorgehen konnte man vielleicht am Beginn der Krise noch akzeptieren. Aber im Fortgang der Ereignisse hätte das Parlament wieder das Heft des Handelns in die Hand nehmen müssen.

Wurde in der Krise somit nur nachvollzogen, was zuvor schon als Gefahr im Raum stand?

Ich beklage die Exekutivlastigkeit in der Tat schon seit Jahren. Wir haben in Deutschland einen zu starken Fokus auf die Regierung. Dabei ist die Idee unserer parlamentarischen Demokratie doch eigentlich, dass das Parlament über die höchste Legitimation verfügt und so gesehen auch das höchste staatsleitende Organ ist – und nicht, wie in der Öffentlichkeit teilweise vermittelt, die Kanzlerin. Ich habe mich immer schon gewundert, wenn es in den Medien beispielsweise hieß, die Bundesregierung habe ein Gesetz verabschiedet, dem das Parlament aber noch zustimmen müsse. Die Regierung beschließt kein Gesetz, sie beschließt allenfalls ein Gesetzesentwurf. Beraten und beschlossen wird ein Gesetz durch das Parlament.

Was ist der eigentliche Grund für diesen Prozess hin zur Zuschauerdemokratie, den Sie in vielen Publikationen als gefährliche Entparlamentarisierung beschrieben haben?

Der hat ganz sicher mehrere Ursachen. Einer ist in der zunehmenden Mediendemokratie zu sehen. Medien neigen eben dazu, Politik zu personalisieren. Sie wollen bestimmte politische Entscheidungen gerne mit bestimmten Personen in Verbindung bringen. Da bieten sich Regierungschefs und prominente Minister natürlich gut an.

Weil es ein bewährtes Geschichtsbild ist, dass Politik eben von großen Männern und Frauen gemacht wird?

Genau. Aber es kommt noch etwas anderes hinzu: die jahrelange Existenz großer Koalitionen. In solchen Gebilden ist es ganz selbstverständlich, dass die stärksten Parteien, die in einem solchen Fall ja auch immer an der Regierung beteiligt sind, kein Interesse an einer besonderen Stellung des Parlamentes haben. Die Opposition kommt in solchen Konstellationen letztlich immer zu kurz.

Das heißt im Umkehrschluss aber auch, dass ein Dreierbündnis, wie es jetzt etwa durch die angestrebte Ampelkoalition immer wahrscheinlicher wird, wieder mehr Aufmerksamkeit auf die parlamentarische Arbeit und die Debatte richten könnte.

Das wäre zu hoffen. Und ich rechne in der Tat mit einer Wiederbelebung des Parlamentarismus. Wir werden vermutlich eine stärkere Opposition haben, sodass die einzelnen Fraktionen ganz automatisch wieder eine größere Rolle im Bewusstsein der Öffentlichkeit und der Medien spielen.

Andererseits hat das Bundesverfassungsgericht aber schon seit Langem – also auch schon weit vor den Großen Koalitionen aus CDU und SPD – darauf hingewiesen, dass wesentliche Fragen der Grundrechtsausübung wieder mehr durch den Bundestag geregelt werden müssen.

Ja, das Bundesverfassungsgericht war immer bestrebt, der Exekutivlastigkeit entgegenzuwirken. Mit seiner Wesentlichkeitsrechtssprechung hat es versucht, den Wert des Parlamentes mehr hervorzuheben. So hat Karlsruhe bereits vor Jahrzehnten verlangt, dass die wesentlichen Entscheidungen über Grundrechtsverwirklichung, Grundrechtsgrenzen und Grundrechtswahrnehmung im Parlament zu treffen seien. Solche Entscheidungen dürften nicht auf die Exekutive verlagert werden.

Womit wir wieder bei Corona wären. Am Beginn der Krise hat Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble ja einmal gesagt, dass das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, wie es in Artikel 2 des Grundgesetzes zugesichert ist, kein absoluter Wert sei. War es im Verlauf der Krise dann aber nicht dennoch so, dass aus Artikel 2 eine Art Supergrundrecht geworden ist?

In Artikel 2, Absatz 2 sind ja mehrere Grundrechte verkörpert. Da geht es um das Grundrecht auf körperliche Integrität, aber auch um das Grundrecht auf Freiheit. Das sind zwei Grundrechte, die miteinander konkurrieren können. Schäuble ging es um die Abwehrrechte, die durch staatliche Eingriffe ja teilweise tatsächlich bedroht waren. In einem solchen Fall gilt der Grundsatz, dass der Staat zwar seinen aus den Grundrechten abgeleiteten Schutzpflichten entsprechen muss, dafür aber nicht beliebig in die Freiheitsrechte eingreifen darf – auch dann nicht, wenn der Staat seine Eingriffe zu einem guten Zweck vornimmt. Der Staat darf für die Wahrnehmung seiner Schutzpflichten für Leben und Gesundheit also nicht alles. Er muss darauf achten, dass zwischen Eingriffsnutzen und -schaden ein angemessenes Verhältnis besteht. Man kann halt nicht sagen, dass jeder gute Zweck jedmöglichen Eingriff rechtfertigt. Da bin ich auch heute noch vollkommen bei Wolfgang Schäuble.

Steckt in Artikel 2 aber nicht noch ein weiteres Dilemma – immerhin verbirgt sich im Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ja auch das Recht auf psychische Gesundheit? Schaut man sich nach eineinhalb Jahren Pandemiebekämpfung aber an, wie sehr besonders die Kinder psychisch unter den Maßnahmen gelitten haben, dann müssen wir uns als Gesellschaft doch schon fragen, ob wir den Schutz ausgewogen interpretiert haben, oder?

Das ist ein sehr richtiger Einwand. Auch ich habe mehrfach schon darauf hingewiesen, dass man auch jenseits der von mir gerade vorgebrachten Abwägung Gesundheit nicht nur im rein körperlichen Sinne verstehen darf. Man hat aber die psychische und seelische Gesundheit, auf die ja auch die WHO in ihrer Gesundheitsdefinition hinweist, insbesondere bei den Schülerinnen und Schülern vernachlässigt. Und noch etwas kommt hinzu: Man hat auch das international anerkannte Menschenrecht auf Bildung ignoriert – dabei ist das in einem internationalen Abkommen festgehalten, das auch Deutschland unterzeichnet hat. Auch hier hat man Gesundheit einseitig im Hinblick auf körperliche Integrität definiert. In meinen Augen war das ein Abwägungsdefizit.

Anfangs hat man vieles übersehen, weil nicht alles offensichtlich war. Das bringt uns zu der Frage der Experten – denn am Ende sind ja sie es, die bestimmte Aspekte in den Fokus rücken, andere aber vielleicht ausblenden oder aufgrund fehlender Kompetenz gar nicht in Erwägung ziehen. Exekutive und Legislative sind angewiesen auf Fachwissen. Und genauso sind es die Gerichte, die im Nachvollzug der politischen Entscheidungen auf nahezu die identischen Expertisen zurückgreifen müssen. Sehen Sie in der Expertokratie, wie sie sich im Laufe der Corona-Krise entwickelt hat, nicht eine bis dato nicht gekannte Bedrohung der Freiheit?

Abwägungsentscheidungen wie etwa die Frage, ob ich Schulen schließe oder nicht, sind ja keine naturwissenschaftlichen Entscheidungen. Naturwissenschaftler können Prognosen abgeben und beschreiben, was anhand ihrer Modelle möglicherweise eintreten wird. Die eigentliche Abwägungsentscheidung, also die Frage, wie ich die Risiken politisch bewerte, sind politische Entscheidungen. Da kann man sich nicht auf die Wissenschaft zurückziehen.

Das war in den zurückliegenden 20 Monaten also nichts alternativlos?

Das ist eine irrige Vorstellung. Das waren immer hochpolitische Entscheidungen, die rechtlichen Grenzen unterlagen. Aber ich will auch nicht missverstanden werden: Ich will die Wissenschaften nicht kleinreden. Es geht nicht darum, nach Emotionen und Bauchgefühlen zu entscheiden. Wissenschaft ist wichtig, doch sie kann die eigentlichen Abwägungsentscheidungen nicht ersetzen.

In Ihrem Buch „Freiheit in Gefahr“ schreiben Sie über diese Expertenrunden und Ethikräte, dass diesen „auf die Dauer“ die in einer Demokratie wesentliche Absicherung durch die Parlamente fehle. Das bringt mich zu einer ganz entscheidenden Frage, die sich dieser Tage sicherlich auch immer mehr Bürger stellen: Wie lange dauert eigentlich „auf die Dauer“?

Nun, die Dauer ist eindeutig überschritten. Zu Beginn waren die Maßnahmen, die die Exekutive auf Grundlage des Infektionsschutzes getroffen hat, gerechtfertigt. Aber der Erkenntnisstand der Wissenschaft hat seither zugenommen, und irgendwann hätte man auch die demokratischen und rechtsstaatlichen Überlegungen und Anforderungen wieder stärker berücksichtigen müssen. Ich kann Ihnen nicht sagen, ab welchem Datum genau der Deutsche Bundestag wieder hätte aktiver werden müssen, aber irgendwann war das Zeitlimit eben überschritten.

Der Philosoph Julian Nida-Rümelin hat sehr früh darauf hingewiesen, dass die Demokratie nach einigen Wochen Lockdown ganz sicher Schaden nehmen würde. Wie beurteilen Sie das: Hat die Demokratie gelitten?

Das würde ich ganz sicher so sagen. Und was ich besonders bedauere, ist, dass die kritischen Stimmen in den Medien nicht gehört wurden. Ich darf vielleicht daran erinnern, dass der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (VGH) bereits im April 2020, als es um die Öffnung von Geschäften bis zu einer bestimmten Größe ging, gesagt hat, dass solche Entscheidungen nur vorübergehend auf Basis behördlicher Verordnungen zu treffen seien. Ab einer gewissen Dauer aber müsse der Gesetzgeber entscheiden. Dennoch aber ist nichts geschehen. Auch der VGH hat das in späteren Entscheidungen noch einmal wiederholt. Doch in einem Jahr ist praktisch nichts Wesentliches geschehen. Auch haben die Parlamente nicht auf Einwände reagiert, dass Betriebsschließungen nicht ohne gesetzliche Entschädigungsregeln vorgenommen werden könnten. Auch ich habe das früh als rechtsstaatlich bedenklich gebrandmarkt. Geschehen ist nichts. Und das halte ich wirklich für ein Unding.

Die Fragen stellte Ralf Hanselle.

Hans-Jürgen Papier: Freiheit in Gefahr. Warum unsere Freiheitsrechte bedroht sind und wie wir sie schützen können. Ein Plädoyer von Deutschlands höchstem Richter a.D. Heyne Verlag München, 288 Seiten.

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