Corona-Demo und die Folgen - Das Vertrauen in den Staat verloren

Die Corona-Demonstration vom Wochenende hat für viel Empörung gesorgt. Den meisten Teilnehmern der Kundgebung dürfte es allerdings weniger um die einzelnen Maßnahmen zur Eindämmung einer Pandemie gegangen sein. Sondern darum, dass sie dem Staat zutiefst misstrauen. Dafür gibt es Gründe.

Teilnehmer der Corona-Demo am Samstag in Berlin / picture alliance
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Die Frage, wie viele Menschen vorigen Samstag an der Corona-Demo in Berlin teilgenommen haben, ist zu einem Politikum geworden. Das war absehbar, denn zwischen der Zahl 15.000 (laut erster Einschätzung der Polizei) und jenen 1,3 Millionen, die von den Veranstaltern der Demonstration genannt wurden, liegt doch eine erhebliche Differenz.

Als Beobachter der Veranstaltung, der an selber Stelle im Jahr 2008 beim Auftritt von Barack Obama vor etwa 200.000 Leuten dabei war, würde ich schätzen, dass am Wochenende etwa 20.000 bis 25.000 Teilnehmer bei der Schlusskundgebung von „Querdenken-711“ zwischen Siegessäule und Brandenburger Tor auf der Straße des 17. Juni standen. Also: kein Aufstand der Massen, aber eben auch kein Demonstratiönchen einiger verwirrter Seelen.

Verheerende Folgen

Die eigentliche Differenz bemisst sich aber nicht in (gefühlten) Teilnehmerzahlen, sondern sie gründet in einer komplett unterschiedlichen Wahrnehmung dessen, was sich seit mittlerweile fast fünf Monaten als „Corona-Krise“ abspielt. Und da gibt es ja tatsächlich Anlass genug für divergierende Sichtweisen. Während wahrscheinlich nur wenige Bürger dieses Landes persönlich jemanden kennen, der erheblich unter den Folgen einer Corona-Infektion gelitten hat oder gar daran gestorben ist, dürfte es kaum jemanden geben, dem die Eindämmungsmaßnahmen nicht in irgendeiner Form zusetzen. Und ich rede hier nicht von vergeigten Sommerurlauben. Sondern von Arbeitsplatzverlusten, ruinierten Existenzen, von Unterrichtsausfall in nie gesehenem Ausmaß und einer Neuverschuldung, die noch die nächste Generation und die Generation danach belasten wird. Um hier nur einiges zu nennen.

Ungleiche Lastenverteilung

Es geht also nicht um ein paar Kratzer, sondern um teilweise echte Verheerungen in privaten Haushalten, in kleinen, mittleren und großen Unternehmen. Dass Staatsbedienstete in dieser Zeit weniger Existenzängste haben müssen als Selbstständige und Arbeitnehmer in der privaten Wirtschaft, sei ihnen gegönnt. Aber natürlich gehört auch das zum Gesamtbild. Dass nämlich die aus der Corona-Krise entstehenden Lasten durchaus ungleich verteilt sind und die vierköpfige Familie eines in Kurzarbeit geschickten Hotelkochs anders treffen als beispielsweise den alleinstehenden Staatssekretär. Wenn das kein Anlass für Unmut und Protest sein sollte – und zwar unabhängig davon, ob die einzelnen Corona-Regeln mehr oder weniger sinnvoll sind –, wäre die Bundesrepublik kein freies Land. Die Frage, wie man seinem Unmut Luft verschafft, steht auf einem anderen Blatt.

„Covidioten“ auf der Straße

Fakt ist, dass bei der Berliner Corona-Demo praktisch keiner der Teilnehmer Atemschutzmasken getragen oder die Abstandsregeln eingehalten hat. Fakt ist auch, dass das bei vorangegangenen Demonstrationen anderen Inhalts („Black Lives Matter“) ebenso wenig der Fall war. Die Corona-Leute mussten sich allerdings teils wüste Beschimpfungen aus der Politik anhören (die SPD-Vorsitzende Esken sprach ausdrücklich von „Covidioten“), und ihre Kundgebung wurde schließlich von der Polizei abgebrochen.

Bei der Anti-Rassismus-Demo wenige Wochen zuvor war entsprechende Kritik, insbesondere im linken Lager, weit weniger vernehmlich. Und offenbar bedurfte es erst einer Veranstaltung wie der von „Querdenken-711“, um einen Innenpolitiker wie den CDU-Abgeordneten Armin Schuster dazu zu bewegen, die Versammlungsfreiheit während der Pandemie grundsätzlich in Zweifel zu ziehen. Dass da nicht nur aus Sicht von „Covidioten“ erkennbar mit zweierlei Maß gemessen wird, liegt auf der Hand.

Verstoß gegen Auflagen

Wie gesagt: Ich habe mir am Samstag die Demo selbst angesehen und fand die Veranstaltung mit den teils esoterischen Séancen auf der Bühne, die unvermittelt durch „Merkel muss weg!“-Sprechchöre eingerahmt wurden, reichlich bizarr. Trotzdem war das ganze kein Aufmarsch von Rechtsextremisten (auch wenn sich einige Reichskriegsflaggen-Träger und Hardcore-Verschwörungstheoretiker in der Menge befanden). Und im Vergleich zu den Kreuzberger Erste-Mai-Demos, die ich auch schon selbst miterlebt habe, war die Atmosphäre bei der Corona-Kundgebung geradezu Woodstock-mäßig friedlich. Bis eben auf die Tatsache, dass massenhaft gegen die Masken- und Abstandspflicht verstoßen wurde. Was von epidemiologischer Warte aus natürlich eine Gefahr darstellt, und zwar für die Allgemeinheit.

Schwelender Flächenbrand

Ich will weiß Gott nicht alle Teilnehmer der Corona-Demo vom vergangenen Samstag über einen Kamm scheren, zumal das Publikum ohnehin sehr gemischt war. Die Bandbreite der Leute, mit denen ich sprach, reichte von Bill-Gates-Hassern über Impfgegner und „Corona ist eine Erfindung“-Aktivisten bis hin zu ganz normalen Bürgern, die sich Sorgen um ihre Freiheit, ihren Wohlstand und ihre Zukunft machen. In einem Punkt jedoch dürften sich alle einig gewesen sein, und zwar in ihrer abgrundtiefen Skepsis gegenüber dem Staat und seinen Institutionen. Mein Eindruck, um es in aller Deutlichkeit zu sagen: „Mainstream-Politik“ und „Mainstream-Medien“ haben in dieser Gruppe nicht nur jegliches Vertrauen verloren, es wird ihnen vielmehr unterstellt, aktiv gegen die Interessen der eigenen Bevölkerung zu agieren. Corona und „Social Media“ sind da allenfalls Beschleuniger eines seit Jahren schwelenden Flächenbrandes.

Es dreht sich im Kreis

Und ich fürchte, es wird sehr schwer bis unmöglich sein, an all diese Leute noch mit halbwegs rationalen Argumenten heranzukommen. Dass etwa die Bundesregierung kein nachvollziehbares Interesse daran haben kann, absichtlich eine Rezession in Gang zu setzen, lässt man nicht gelten. Dass die meisten Länder weltweit ebenfalls mit harten (und teilweise deutlich härteren) Maßnahmen als die Bundesrepublik auf die Pandemie reagiert haben, ebenso wenig. Atemschutzmasken gelten als das ultimative Symbol der Unterdrückung des Bürgers durch den Staat, leere Krankenhäuser als Beleg dafür, dass Corona eben doch nur eine herbeiphantasierte Gefahr sei. Irgendwann dreht sich alles nur noch im Kreis, und zwar mit zunehmender Geschwindigkeit.

Massive Vertrauenskrise

Für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, sollte es diesen in Rudimenten überhaupt noch geben, sind solche Fliehkräfte natürlich fatal. Gleichwohl haben sie ihre Ursachen, und die sind keineswegs nur im soziokulturellen Darknet von Reichsbürgern und ähnlich wahnhaften Splittergruppen zu finden. Dass die Flüchtlingskrise des Jahres 2015 fort folgende zu einer massiven Vertrauenskrise geführt hat, halte ich in diesem Zusammenhang für evident.

Die geradezu hilflose Schönfärberei, mit der zumindest anfangs fast alle Parteien und Regierungsverantwortlichen das Migrationsproblem heruntergespielt haben, hat meiner Überzeugung nach einen Riss entstehen lassen, der kaum noch zu überbrücken ist. Die Unaufrichtigkeit, die die Große Koalition damals an den Tag gelegt hat, und zwar mit tatkräftiger Unterstützung durch die allermeisten Medien und den öffentlich-rechtlichen Rundfunk im Besonderen, hat tiefe Spuren hinterlassen. Vertrauen ging verloren, bei einigen wahrscheinlich für immer.

Nicht begriffen, was los ist

Und um genau dieses verlorene Vertrauen geht es, wenn immerhin mehrere tausend Menschen an einem sonnigen Samstag im August von überall her nach Berlin fahren, um „gegen Corona“ auf die Straße zu gegen. Dass sich ein Virus nicht wegdemonstrieren lässt, dürfte den meisten von ihnen klar sein. Aber wenn die Vorsitzende einer Regierungspartei diese Leute pauschal als „Covidioten“ beschimpft, macht das nur allzu deutlich, wie erschreckend wenig sie davon begriffen hat, was in diesem Land eigentlich los ist.

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