Cancel Culture - „ Wir handeln nicht rechtsstaatlich, sondern moralisch “

Mit dem „Definitionsmachtkonzept“ wurde in Berlin ein bekannter politischer Aktivist kaltgestellt. Der Fall zeigt, wie sehr die Cancel Culture in bestimmten Milieus verankert ist – und aus der linksradikalen Szene zunehmend in die Gesamtgesellschaft einsickert. Damit wird sie zur Gefahr für rechtsstaatliche Prinzipien.

Wenn eine Anschuldigung reicht, um aus der Öffentlichkeit radiert zu werden / Alexander Glandien
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Autoreninfo

Rainer Balcerowiak ist Journalist und Autor und wohnt in Berlin. Im Februar 2017 erschien von ihm „Die Heuchelei von der Reform: Wie die Politik Meinungen macht, desinformiert und falsche Hoffnungen weckt (edition berolina). Er betreibt den Blog „Genuss ist Notwehr“.

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Es klingt wie ein Filmskript. Ein in seinem Bereich erfolgreicher, bekannter und beliebter Mann wird aus heiterem Himmel von einer Frau beschuldigt, ihr gegenüber sexuell übergriffig geworden zu sein. Es gibt keine Zeugen, obwohl sich der Vorfall am helllichten Tag im Rahmen einer öffentlichen Versammlung ereignet haben soll. Das vermeintliche Opfer wendet sich an ein Gremium, in das der vermeintliche Täter eingebunden ist. 

Dieses reagiert umgehend. Dem Beschuldigten, der den Vorwurf als frei erfunden zurückweist, wird ohne jegliche Anhörung und Erörterung mitgeteilt, dass er ab sofort aus allen Arbeits- und Gruppenzusammenhängen ausgeschlossen wird. Von ihm wird verlangt, absolutes Stillschweigen zu bewahren und einen „Burnout“ als Grund für seinen Rückzug anzugeben. Alles andere würde ihn schwer beschädigen. Für alle Veranstaltungen der Organisation, auch öffentliche, erhält er Hausverbot, seine Zugänge zur internen Kommunikation werden gekappt. Auch auf sein persönliches und berufliches Umfeld wird massiver Druck ausgeübt, dieses Vorgehen widerspruchslos zu akzeptieren, denn alles andere sei „Täterschutz“. 

„Definitionsmachtkonzept“

Das Büro, in dem der Beschuldigte seiner hauptberuflichen Tätigkeit nachging, und das auch logistisches Zentrum der von ihm einst mitgegründeten Organisation ist, wird zur „gefährlichen Zone“ für Frauen erklärt und fluchtartig verlassen.
Doch das ist kein Filmskript, sondern hat sich genau so abgespielt, Anfang Juli 2021 mitten in Berlin. Und es ist kein Einzelfall, wie sich bei Nachforschungen schnell herausstellt. Bei dem Betroffenen handelt es sich um Michael Prütz, den Gründer und ehemaligen Sprecher der Initiative Deutsche Wohnen & Co. enteignen (DWE). Lange Zeit war er durch seine Präsenz in Talkshows, mit Interviews und durch Podiumsveranstaltungen quasi das Gesicht der Kampagne. 

Diese war kein kleiner, verlorener linker Haufen, sondern eine sehr erfolgreiche Initiative, deren mehrjährige Arbeit Ende September in einem Volksentscheid gipfelte, bei dem sich über 59 Prozent der teilnehmenden Wähler, insgesamt mehr als eine Million, für die Forderung nach Vergesellschaftung großer Wohnungskonzerne ausgesprochen haben – noch dazu weit über die klassischen linken Milieus hinaus.

Das Drehbuch für diese Vorgehensweise nennt sich „Definitionsmachtkonzept“, kurz Defma. Es hat seine Wurzeln in der amerikanischen Frauen- und der schwarzen Bürgerrechtsbewegung. Der strukturellen Diskriminierung und Übergriffen durch Polizei und Justiz wurde Defma entgegengesetzt, also das Primat und die Gültigkeit der Sicht der Opfer von Übergriffen und Diskriminierungen. 

Betroffenen uneingeschränkt glauben

Von den neunziger Jahren an wurde dieses Konzept auch von kleineren linksradikalen und radikalfeministischen Gruppen in Deutschland adaptiert. Aber eben nicht als Widerstand gegen staatliche Diskriminierungen, sondern vor allem für den internen Gebrauch. Das Grundprinzip: Der Schilderung betroffener Frauen ist uneingeschränkt zu glauben, eine Untersuchung der Vorfälle findet nicht statt, da dies zu einer „Retraumatisierung“ führen könnte. Der Beschuldigte wird aus den jeweiligen Zusammenhängen ausgeschlossen und der gesellschaftlichen Ächtung preisgegeben. 

Konkret kann das den Rausschmiss aus beruflichen Zusammenhängen und auch aus Wohnungen bedeuten, etwa in selbst verwalteten linken Kollektiven und Häusern. Betroffene setzen sich fast nie zur Wehr, der Druck und die Angst vor noch weiter gehender Stigmatisierung und dauerhafter Bedrohung der eigenen Existenzgrundlagen oder auch körperlichen Attacken sind einfach zu groß. 

Dokumentiert sind Vorfälle im universitären Bereich, wo Beschuldigte von radikalen Gruppen massiv attackiert wurden, etwa bei Vorlesungen und Buchpräsentationen. Auffällig ist auch, dass in vielen Fällen, über die man Informationen erhalten kann, die beschuldigenden Frauen kurz nach dem Vorfall mehr oder weniger vollständig von der Bildfläche verschwanden.
Kaum jemand will über derartige Vorfälle reden, geschweige denn seinen Namen in der Öffentlichkeit präsentiert sehen. „Das Schweigegebot gilt für immer“, beschreibt dies der ehemalige Bewohner eines linken Hausprojekts in Kreuzberg gegenüber Cicero

Ähnliche Vorfälle

Eine Frau hatte ihn beschuldigt, sie im Haus belästigt zu haben, und teilte dies schriftlich dem „Kollektiv“ mit. Er habe zwar belegen können, dass er sich zu dem in Rede stehenden Zeitraum gar nicht in dem Haus befunden habe, aber „das hat niemanden interessiert“. Schließlich sei dem „Opfer“ zuzugestehen, dass es sich angesichts der erlittenen „Traumatisierung“ nicht an genaue Zeitabläufe erinnern könne. Rückfragen sind bei diesem Procedere nicht vorgesehen. Ohnehin hatte die Frau inzwischen die Stadt verlassen und war angeblich für niemanden erreichbar. Dem Betroffenen wurde eine Frist von zwei Wochen gegeben, um seine Wohnung in dem Projekt zu räumen „und am besten auch aus dem Kiez zu verschwinden“, so der ehemalige Mitbewohner.

Auch in einem bis vor einigen Monaten existierenden linksautonomen Kneipenkollektiv in Neukölln gab es vor rund zehn Jahren einen entsprechenden Vorfall – mit ähnlichen Rahmendaten: eine behauptete „unangemessene Berührung“, keine Zeugen, ein baldiges Abtauchen der betroffenen Frau.

Anders als in dem zuvor erwähnten Hausprojekt mochte das Kollektiv dem „Definitionsmachtkonzept“ zunächst nicht uneingeschränkt folgen und wollte vor einer Entscheidung über den Umgang mit dem Beschuldigten eine weitere Klärung des Vorfalls. 

Doch dann wurde „ungeheurer Druck ausgeübt“, so ein früheres Kollektivmitglied. Radikalfeministische und linksautonome Gruppen verlangten ultimativ den Rausschmiss des Betroffenen und drohten auch mit Konsequenzen für das Kneipenprojekt, etwa durch Boykott­aufrufe. Die Stimmung im Kollektiv „ist dann gekippt“, so der Beschuldigte, und er „schäme sich noch heute dafür, letztendlich auch eingeknickt zu sein“.

Gekapert von der Interventionistischen Linken

Bei Deutsche Wohnen & Co. enteignen (DWE) entwickelte sich die Sache allerdings anders. Prütz und seine Unterstützer gingen nach einer kurzen Schockphase in die Offensive. Prütz zeigte die Beschuldigende über einen Anwalt wegen Verleumdung und falscher Verdächtigung an, innerhalb der Kampagne wurde der Vorfall – gegen den Willen der Leitung – bekannt gemacht und auch Kontakt mit Journalisten aufgenommen. Bald gab es erste Veröffentlichungen in bekannten Onlinemedien mit großer Reichweite, wie telepolis und Nachdenkseiten, später stieg auch der Berliner Tagesspiegel ein.

Für die Defma-Protagonisten war das ein Schock. In der Kampagne waren das vor allem die Kader der Interventionistischen Linken (IL), die – von der Öffentlichkeit kaum bemerkt – die DWE-Kampagne weitgehend gekapert und alle wesentlichen Schaltstellen besetzt haben. Defma gehört zum Selbstverständnis dieser Gruppe.

Die Gründung der IL hat einen langen Vorlauf: Seit 2005 entwickelte sie sich zum wichtigsten Sammelbecken der zersplitterten linksautonomen Szene in Deutschland, für die sie eine verbindliche Organisationsstruktur etablieren wollte. Sie ist vor allem bündnis-, bewegungs- und aktionsorientiert, wobei ihre in Ortsgruppen und Arbeitsgemeinschaften organisierten, bundesweit rund 1000 Mitglieder einen klandestinen Kaderkern bilden. 

So hat die AG Stadtpolitik der IL in Berlin laut Insidern rund 25 Mitglieder. Im Vergleich zu den zeitweise über 1000 aktiven Mitstreitern der DWE-Kampagne ist das eine sehr kleine Zahl. Doch die zumeist aus akademischen Milieus stammenden Kader verfügen über vergleichsweise große politische und organisatorische Erfahrung und ein entsprechendes Auftreten, sodass die Kaperung der Kampagne relativ laut- und mühelos verlief. Seit Jahren wird die Interventionistische Linke vom Bundesamt für Verfassungsschutz beobachtet. Im Verfassungsschutzbericht von 2020 wird sie als „Scharnier zwischen militanten Strukturen und nicht gewaltorientierten Linksextremisten sowie nicht extremistischen Gruppen und Initiativen“ eingestuft. 

Die Inquisition von heute

Das eigentliche Problem liegt aber woanders. Defma und verwandte Konstrukte sind längst kein Spleen mehr, den linke Sekten exklusiv haben. Sie sind in jüngeren, akademischen Milieus inzwischen teilweise hegemonial, sie fressen sich von den sozial- und geisteswissenschaftlichen Fakultäten der Universitäten durch die Jugendorganisationen der „linken“ Parteien, durch NGOs, Stiftungen, Gewerkschaften, Verbände und Initiativen. Das ist dramatisch, denn Defma beinhaltet die prinzipielle Ablehnung rechtsstaatlicher Grundprinzipien wie Unschuldsvermutung, Recht auf Anhörung und faire Verfahren. Die Vorgehensweise erinnert an die spanische Inquisition, das spätere Jakobinertum nach der Französischen Revolution und Schauprozesse der Stalin-Ära. Die bloße Anschuldigung reicht für einen Schuldspruch und die Verhängung harter Sanktionen. 

Defma ist ein hervorragendes, todsicheres Instrument für Denunziationen und Intrigen aller Art. Ein ungeliebter Nachbar in einem Wohnprojekt, ein nerviger Konkurrent in Organisationen und Arbeitszusammenhängen oder eine x-beliebige persönliche Animosität – für Frauen kein Problem: Die Defma-Keule funktioniert schnell und zuverlässig, zumal alle Zweifler an derart vormodernen Praktiken umstandslos als „Täterschützer“ oder genauer „Täterschützer*innen“ diffamiert werden.
Zwar bezieht sich Defma vor allem auf behauptete sexuelle Übergriffe gegen Frauen, doch auch bei behaupteten rassistischen oder gegen sexuelle Minderheiten gerichteten Diskriminierungen wird in dieser Szene ähnlich agiert.

Der vormoderne Wahn hat noch etliche weitere Spielarten entwickelt, die gemeinhin – etwas unscharf – unter Cancel Culture subsumiert werden. Auch hier gilt, dass sich Betroffene oftmals bedeckt halten und nicht öffentlich genannt werden wollen. 
So berichtet ein Lehrer aus Berlin-­Kreuzberg im Gespräch, dass sich Schüler in einem Geschichts-Leistungskurs geweigert hätten, sich mit Texten über Kolonialismus von weißen Autoren zu befassen, da dies – unabhängig vom eigentlichen Inhalt – stets die „Täterperspektive“ sei. Ein anderer Lehrer berichtet von einer geplanten Schulparty in den Räumen der Schule. Die Organisatoren verlangten eine Art Hausrecht, um „kulturelle Aneignungen“ zu unterbinden. So wolle man etwa Schülern mit Rasta-­Frisuren (Dreadlocks) den Einlass verwehren. Es werde nicht akzeptiert, dass Angehörige der weißen „Dominanzkultur“ Attribute von unterdrückten, nichtweißen Kulturen zur persönlichen Darstellung „ausbeuten“. 

Die Vorzeichen waren da

Ähnliche Aufrufe gab es auch für Klimacamps und Aktionen von Fridays for Future. Auch in der DWE-Initiative gab es schon vor der zugespitzten Auseinandersetzung um die behauptete sexuelle Nötigung Vorfälle, bei denen eigentlich die Alarmglocken hätten klingeln müssen. Ein Mitstreiter der AG Öffentlichkeitsarbeit wurde in Abwesenheit ausgeschlossen – weil er zuvor die rigiden Richtlinien zu „gendergerechter Sprache“ in Veröffentlichungen kritisiert hatte. 

Es gibt aber auch beunruhigende Vorgänge in konventionellen Milieus außerhalb der linken Szene. Eine langjährige leitende Mitstreiterin eines etablierten Berliner Wirtschaftsnetzwerks von und für Frauen berichtet von einer dunkelhäutigen Schweizerin, deren Vertrag als Projektleiterin nicht verlängert wurde, „weil sie der Aufgabe nicht gewachsen und schlicht unzuverlässig war“. Die Frau habe daraufhin „Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um das als rassistische Diskriminierung hinzustellen“.

Keine Chance für den Rechtsstaat

Zurück zum aktuellen Fall. Da der Beschuldigte nicht bereit war, die von der Interventionistischen Linken aufgestellten „Regeln“ zu akzeptieren, eskalierte die Auseinandersetzung innerhalb der Initiative. Zu den Unterstützern von Prütz gehörten auch gestandene „Feministinnen der alten Schule“, die darauf hinwiesen, dass dem wichtigen Anliegen – konsequentes Vorgehen gegen sexuelle Übergriffe – ein Bärendienst erwiesen werde, wenn Frauen automatisch eine Opferrolle zugeschrieben werde. Andere verwiesen auf den absurden Widerspruch, dass sich die Kampagne bei ihrem Ziel, der Vergesellschaftung von Immobilienkonzernen, ausdrücklich auf das Grundgesetz beruft, aber gleichzeitig rechtsstaatliche Prinzipien konsequent ablehnt.

Doch auf den zu dem Thema einberufenen Plenarsitzungen mit bis zu 300 Teilnehmern hatten die Kritiker keine Chance. Die Forderungen nach Unschuldsvermutung und einer ergebnisoffenen Untersuchung wurden mit großer Mehrheit abgelehnt, denn, so eine Teilnehmerin: „Wir handeln nicht rechtsstaatlich, sondern moralisch.“ Festgeschrieben wurde das Prinzip der „parteilichen Solidarität“ mit dem vermeintlichen Opfer, vom Beschuldigten wurde eine Art Schuldeingeständnis als Vorbedingung für einen Moderationsprozess eingefordert.

Die Unterstützer der Kampagne

Man wüsste gerne, was die drei wichtigsten Unterstützer der Kampagne (Die Linke, die Gewerkschaft Verdi und der Berliner Mieterverein) zu diesen Vorgängen sagen. Dabei ging es um folgende Fragen:
• Können Vertreter von vordemokratischen, diametral gegen rechtsstaatliche Grundprinzipien (Unschuldsvermutung, Anhörung, faires Verfahren) gerichteten ideologischen Konstrukten Bestandteil breiter Bündnisse sein?
• Wäre es nicht an der Zeit, dem System von Anschuldigung und automatischer Verurteilung ohne Anhörung und Untersuchung grundsätzlich den Kampf anzusagen und es als unvereinbar mit demokratischen Prinzipien zu kennzeichnen?

Trotz mehrerer Anfragen kam vom Landesvorstand der Berliner Linken keine Reaktion. Für einen befragten Partei-­Insider ist das wenig verwunderlich. Ein Teil der Partei wolle „den Deckel auf dieser Geschichte halten“, da der Volksentscheid der wichtigste Wahlkampfschlager der Linken sei. Ein anderer, nicht unbeträchtlicher Teil unterstütze ausdrücklich das Vorgehen der modernen Inquisition. Er gehe inzwischen davon aus, dass mittlerweile viele Jungfunktionäre der Linken „identitätspolitisch schräg drauf sind“ und Konzepte wie Defma vorbehaltlos akzeptieren. Schweigen gab es auch vonseiten der Gewerkschaft Verdi. 

Die Beteiligten

Kalle Kunkel, ein führender Vertreter der IL in der Kampagne, der die Verbannung von Michael Prütz maßgeblich vorangetrieben hatte, lehnte eine Gesprächsanfrage ab. Die Fragen machten deutlich, dass es „keine Problemwahrnehmung in Bezug auf solche Fälle“ gebe. Daher fehle die Grundlage für ein Gespräch. Dazu immerhin noch eine klare Aussage: Der „Zwang zum Beweis“ sei immer „eine Misstrauenserklärung gegenüber der Betroffenen“, so der langjährige, zurzeit wegen einer Promotion in Auszeit befindliche Verdi-Gewerkschaftssekretär in seiner schriftlichen Antwort auf die Gesprächsanfrage.

Geäußert hat sich dafür Rainer Wild, der Geschäftsführer des Berliner Mietervereins, und das in gebotener Deutlichkeit. „Aus Sicht des Mietervereins ist selbstverständlich, dass es bei einem Vorwurf einer Straftat nicht an uns ist, dies zu bewerten. Dafür gibt es die rechtsstaatlichen Verfahren. Insoweit gilt die Unschuldsvermutung. Dazu kann es auch keine Alternative in einer politischen Initiative geben.“

Auch Prütz meldete sich in einer persönlichen Erklärung öffentlich zu Wort. Der jetzigen Führung der von ihm mitinitiierten und repräsentierten Kampagne warf er darin vor, sie falle „weit hinter die Werte und Normen der bürgerlichen Aufklärung zurück und landet im 15. Jahrhundert, wo Fürsten, Adlige und Gutsherren über Recht und Gesetz befunden haben“. Das sei „sektenhaftes und dschihadistisches Verhalten“. Beeindruckt hat das die rechtsstaatsfernen Inquisitoren, die die Initiative dominieren, nicht. Ihre Kritiker haben den Kampf verloren, viele zogen sich zurück.

Verfahren eingestellt

Der Volksentscheid von Deutsche Wohnen & Co. enteignen endete erfolgreich, doch es ist absehbar, dass der neue, wieder „rot-rot-grüne“ Senat ihn nicht umsetzen wird und in einer „Prüfungskommission“ versanden lassen will – ohne dass die Linke ernsthaft dagegenhält. Für den Wahlkampf brauchte die Linke die Kampagne, um den befürchteten Totalabsturz zu verhindern. Jetzt braucht man sie nicht mehr, sondern will möglichst geräuschlos weiter mitregieren. Einen Plan B für diesen Fall hatte die Initiative offenbar nicht. Sie droht allmählich zu versanden, und Gruppen wie die Interventionistische Linke werden sich in neue Kampagnen stürzen. 

Prütz hat seinen „Hexenprozess“ trotz aller Verletzungen und psychischer Belastungen einigermaßen gut überstanden – anders als viele andere Opfer solcher Intrigen und Denunziationen. Das hat er vor allem seinem stabilen persönlichen Umfeld und dem Mut seiner Unterstützer zu verdanken, die sowohl intern als auch in der Öffentlichkeit die Vorgänge bekannt machten und gemeinsam mit ihm Flagge zeigten. Am Rande bemerkt: Das Verfahren gegen Prütz wegen der behaupteten sexuellen Nötigung wurde am 11. November 2021 von der Staatsanwaltschaft eingestellt.

Das Problem bleibt

Ende gut, alles gut? Mitnichten. Im Gegenteil: Die Kampagne steht stellvertretend für die in vielen linken und „alternativen“ Kreisen grassierende Ablehnung rechtsstaatlicher Prinzipien, das Pochen auf die eigene „Definitionsmacht“ und eine extralegale Urteilsbefugnis, besonders bei behaupteten sexuellen Übergriffen und rassistischen Diskriminierungen, aber auch bei Aussagen, die den Sprachgebrauch, Lehrinhalte, Kultur und sogar persönliche Modevorlieben betreffen. 

Der Konflikt bei Deutsche Wohnen & Co. enteignen hat exemplarische Bedeutung. Wenn wüste, unbegründete Anschuldigungen in bestimmten Fällen per se zur unhinterfragbaren, gültigen Wahrheit erklärt werden, ist das ein Einfallstor für Denunziationen und Intrigen aller Art und ein nicht tolerierbarer Rückfall in vordemokratische Denk- und Handlungsweisen.

 

Dieser Text stammt aus der Januar-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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