Bürgerräte - Endlich ein Ende

Die deutsche Demokratie zeigt sich in einer unerwachsenen Phase. Den Institutionen misstrauend, sollen es Bürgerräte nun richten – nur um den Souverän hinzuhalten. Dabei gibt es Bürgerräte bereits: Sie heißen Parlament.

Wenn ein Regierungschef im dritten Wahlgang gewinnt, ist das kein Problem, sondern gelebte Demokratie / dpa
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Autoreninfo

Frank A. Meyer ist Journalist und Kolumnist des Magazins Cicero. Er arbeitet seit vielen Jahren für den Ringier-Verlag und lebt in Berlin.

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Die taz, Prawda der linksgrünen Bewegung und publizistischer Bizeps des evangelischen Klerus, sagt auf dem Titelblatt ihrer Wochenendausgabe, was ist. Sie hat es einem Kind als Frage in den Mund gelegt: „Papa, wann geht Deutschland unter?“ Kindermund tut Schicksal kund.

Ein journalistischer Geniestreich ist da zu bewundern: „Die letzte Generation“, festgeklebt auf deutschen Straßen, die ohne Tempolimit stracks in den Untergang führen, wird abgelöst – abgesetzt! – durch „die allerletzte Generation“: Kinder – zuständig für Sein oder Nichtsein. 

Das Kind Deutschland

In der Kinderfrage nach dem Allerletzten findet Oswald Spenglers (1880–1936) deutscher Schwulst vom „Untergang des Abendlandes“ seinen zeitgeistigen Niederschlag, zumal auf Seite 15 derselben Tageszeitung unter dem Titel „Hybris des Westens“ ganz und gar spenglermäßig prophezeit wird: „Die USA und Europa müssen sich mit dem eigenen Niedergang auseinandersetzen.“ 

Endlich: Die westliche Zivilisation, schon immer der Balken im Auge der linken wie der rechten Kulturelite, ist am Ende. Mitsamt Adornos „falschem Leben“ im Kapitalismus, das dem „richtigen“ im Wege steht. Alles nur noch eine Frage des Ausharrens – daher auch das Festkleben am Asphalt. 

Der Philosoph Odo Marquard (1928–2015) erklärte sich die überwältigende Sehnsucht nach einem pathetischen Schlusspunkt des Übergriffs der westlichen Zivilisation auf die unverdorbene deutsche Seele so: „Das Kind ist der eigentliche Mensch, und Erwachsenwerden – als Verlust der Kindlichkeit – ist Abfall vom Menschen, nämlich einzel­lebensgeschichtlich das, was menschheitsgeschichtlich die moderne Fortschrittskultur selber ist: die Zerstörungsgeschichte des eigentlichen ,authentischen‘, natürlichen Menschen, jenes guten Wilden, der in unserer entfremdeten Welt allein noch das Kind ist. Seither gelten die Kinder, die Jugendlichen als die maßgeblichen Menschen.“ Das Kind Deutschland. 

Wo ist das Problem von drei Wahlgängen?

Ganz Kind, sehnt sich die Nation des modernsten Grundgesetzes der Welt nach Geborgenheit durch Geschlossenheit, paternalistisch umfasst vom Gefühl, nie mehr einer Spaltung unterworfen zu sein – dieser schrecklichen Voraussetzung jeder gelebten Demokratie! Bertolt Brecht nannte es „die Mühen der Ebene“. 

In Berlin war das deutsche Mühen kürzlich an den Schlagzeilen abzulesen: Drei Wahlgänge im Abgeordnetenhaus, bis der Regierungswechsel von Rot-Rot-Grün zu Schwarz-Rot vollzogen war. Für demokratiegewohnte Journalistenherzen nichts weiter als eine spannende Wahl – kein Grund zum Vorhof­flimmern. Deutschlands Medien hingegen diagnostizierten zutiefst fatale Vorgänge: eine „Schlappe“ für den gewählten neuen Regierenden Bürgermeister, wie die Süddeutsche Zeitung zu betrauern wusste, ein „Wahlfiasko“ gar; der Gewählte Kai Wegner in den Augen der taz ein „Hänge- und Würgemeister“ – weil nicht auf Anhieb erkoren; für die Berliner Zeitung ins Amt „gestolpert“ – weil nicht mit Akklamation bejubelt; für den Tagesspiegel ein „Fehlstart“ – weil nicht auch von politischen Widersachern mitgewählt; für Bild „nur 3. Wahl“ – weil die Regierungsparteien ihre Reihen nicht nach dem Reinheitsgebot stramm geschlossen hielten.

Kein Medium ohne größte Bedenken ob dieses zutiefst demokratischen Vorgangs. Kopfschütteln in ganz Deutschland, von bedauernd bis triumphalistisch – haben wir es nicht schon immer gewusst? Demokratie als Desaster der Demokratie.

Linksgrüne Grundrechtsfeinde

War es die romantische Erfüllung von Rousseaus Utopie des „guten Wilden“, als Aktivisten der „Letzten Generation“ in Berlin ein Grundgesetz-Denkmal beschmierten, Symbol und Kanon westlicher Zivilisation? Ein linksgrüner Aufschrei erfolgte jedenfalls nicht. 

Was wäre los gewesen, hätten sich Jugendliche der äußeren Rechten am Denkmal der Demokratie vergriffen? Ordnungsrufe, Entsetzen, Protest, gedruckt und gesendet rund um die Uhr, Mahnwachen aller Gutwilligen, Gottesdienste von Kirche und NGOs (was allerdings dasselbe ist), Widerstands-Demos linker Studenteska, geharnischte offene Briefe der Kultur- und Intellektuellenszene, Deutschlands Journalistennetzwerk in äußerstem Aufruhr. Alles also, was Pflicht ist, was Pflicht wäre bei Übergriffen aufs Grundgesetz – es sei denn, die Übergriffe tragen eine linksgrüne Handschrift, wie eben gerade alltägliche Protestpraxis. 

Das Parlament ist der Bürgerrat

Nun sollen auch noch „Bürgerräte“ installiert werden, zuständig für mehr Demokratie. Das neueste Missverständnis: Bürgerräte gibt es in der Demokratie bereits, sie heißen Parlament. Die nun geforderten Bürgerräte – nach dem Zufallsprinzip per Los bestimmt, vor allem aber von Wissenschaftlern beraten – sind luftige Lobby-Gremien: Influencer-Instrumente einer akademischen Elite, Vorspiegelung von Demokratie unter Missbrauch von Statisten aus der Bürgerschaft. 
Deutschland auf dem Weg zur Soziologen-Klimatologen-Immunologen-Republik. Platons Philosophenherrschaft – endlich Wirklichkeit! 

Das einfache Volk, das in den Grundgesetz-Institutionen seit Jahrzehnten kaum noch physisch präsent ist, wird substituiert. Ja, wo sind sie eigentlich, die Handwerker im Bundestag? Wo die Nichtakademiker in den Führungsgremien der Parteien? Wo die profanen Bürger in den subventionssatten Gremien der Kultur? 

 

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Bärbel Bas, amtierende Präsidentin des Bundestags und glühende Befürworterin des Bürgerrat-Modells, möchte ganz oben, wo sie gerade angelangt ist, möglichst lange in Ruhe regieren – ungestört von Wahl-Unruhen: statt alle vier Jahre nur noch alle fünf Jahre das Verdikt des Souveräns – und, wer weiß, demnächst vielleicht nur noch alle sechs. Alles verordnet von oben nach unten. Ruhe – des Bürgers erste Pflicht. Linker Maternalismus, ungeschminkt. 

Links und Grün – was ist das überhaupt? Die Szene, vollzeitlich und vollmundig beschäftigt mit Gender, Diversity und Inklusion, definiert „kulturelle Aneignung“ als verwerfliches Hineinschlüpfen in Identitäten des „globalen Südens“, wenn etwa weiße Künstler bei Bühnenauftritten Blues oder Reggae singen, Dschallabija oder Dreadlocks tragen – für die Wächter der Wokeness exemplarische Sündenfälle. 

Die korrekten Kontrollkolonnen tragen links: den Rock von Freiheit und Gleichheit und Gerechtigkeit – würdigste, ja nobelste sozialdemokratische Identität. Ihr Selbstverständnis ist eine Anmaßung sondergleichen: „Aneignung fremder Kultur“.
Rot kostümiert stehen sie rechts.

 

Dieser Text stammt aus der Juni-Ausgabe von Cicero, die Sie direkt bei uns kaufen können.

 

 

 

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