Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe - Neue Linien fürs oberste Gericht?

Zum ersten Mal sitzen am Bundesverfassungsgericht mehr Frauen als Männer, eine Richterin mit DDR-Biografie und eine von den Grünen protegierte Richterin bringen frischen Wind nach Karlsruhe. Ändert sich nun in grundsätzlichen Fragen die Rechtsprechung des höchsten Gerichts?

Bundesverfassungsgericht: Witze über einen „Schneewittchensenat“ – eine Frau, sieben Männer – sind endgültig passé / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Karl-Dieter Möller berichtete bis zu seiner Pensionierung 2010 mehrere Jahrzehnte für die ARD über das Bundesverfassungsgericht.

So erreichen Sie Karl-Dieter Möller:

Anzeige

„Krimis“, verriet Andreas Voßkuhle einmal in einem Zeitungsinterview, seien für ihn „auch eine schöne Möglichkeit, über das Leben zu lernen“. Ob er dabei auch an den Krimi „Leichen im Keller des Bundesverfassungsgerichts“ gedacht hat, verriet er nicht. Den Kriminalroman schrieben die wissenschaftlichen Mitarbeiter dem 1996 ausgeschiedenen Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts Johann Friedrich Henschel zum Abschied aus dem Amt. 

Mit Ironie, Witz und manchmal auch mit einem süffisanten Unterton beleuchtet der Roman fiktiv die richterlichen und menschlichen Irrungen und Wirrungen des damaligen richterlichen Personals. Es geht dabei unter anderem um die Frage, wer die Schrauben gelockert haben könnte, die den mächtigen Bundesadler oberhalb der Richterbank in der Verankerung halten? Zur Aufklärung des Falles wird der ehemalige Vorsitzende des Zweiten Senats Andreas Voßkuhle nichts mehr beitragen können, denn die Ära Voßkuhle ist nach zwölf Jahren Richterzeit in Karls­ruhe vorbei. Voßkuhle kehrt auf seinen Lehrstuhl an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg zurück. 

Bei aller richterlichen Brillanz und Fähigkeit zur Moderation dominanter Persönlichkeiten im Zweiten Senat ereilte Voßkuhle zum Schluss seiner Amtszeit ein Schicksal, das er mit Vorgängern im Amt teilt. Der oberste Verfassungsrichter musste in der Öffentlichkeit den Kopf hinhalten für ein Urteil, das nicht aus seiner Feder stammt, das er gleichwohl voll mitträgt: das Urteil zum Anleiheprogramm der Europäischen Zentralbank, 135 Seiten lang, komprimiert und nicht leicht zu lesen. 

Schockstarre und Schnappatmung 

Schon die Umstände der Urteilsverkündung waren ungewöhnlich: Corona­bedingt zogen nur fünf der acht Richter in den spärlich besetzten Sitzungssaal ein. 

„Gesetzt“ waren der Präsident und Vorsitzende des Zweiten Senats, Andreas Voßkuhle und der Berichterstatter des Verfahrens, Peter M. Huber, aus dessen Feder das Urteil stammt. Die drei anderen Richter waren zugelost worden. 

Nach dem Urteil gab es bei den Europaenthusiasten eine kurze „Schockstarre“, dann brach der Sturm los. Die Rede war vom „entgrenzten Gericht“, ein Staatsrechtslehrer verstieg sich gar zu der Bemerkung, das Gericht habe „eine Atombombe gezündet“. Es sei grundfalsch, was „die da in Karlsruhe entschieden haben“, das Gericht habe gar einen Rechtskurs eingeschlagen. 

In elitären Zirkeln von Staatsrechtslehrern und berufsmäßigen Europapolitikern der bundesrepublikanischen Parteien vernahm man deutlich Schnappatmung. Bei den Bürgern auf deutschen Straßen war davon nichts zu spüren. 

Überraschend ist das Urteil nicht

Solche Wellen der Kritik hat es am Gericht immer wieder und zu unterschiedlichsten Entscheidungen gegeben, vor allem bei kulturell sensiblen Fragen. 

Die erste Hälfte der neunziger Jahre war eine „heiße“ Zeit für das Bundesverfassungsgericht: In diese Jahre fallen die Beschlüsse zum Kruzifix, zur Strafbarkeit des Satzes „Soldaten sind Mörder“, zur Rechtmäßigkeit von Sitzblockaden, zur Strafbarkeit des Cannabisbesitzes und zur Strafverfolgung von ehemaligen DDR-Spionen. 

Im Kruzifix-Fall hatte das Gericht die Anbringung eines Kreuzes in den Unterrichtsräumen einer staatlichen Pflichtschule, also keiner Bekenntnisschule, als verfassungswidrig eingestuft. Es kam zu wütenden Protesten von Politikern und Bürgern, das Gericht wurde mit Tausenden von Protestbriefen überschwemmt. Übertragen auf die heutige Zeit wäre die Homepage des Gerichts verlässlich zusammengebrochen, der Shitstorm hätte ungeahnte Ausmaße angenommen. 

Die zum Teil heftige Kritik der politischen und juristischen Fachwelt am EZB-Urteil in diesem Jahr erstaunt jedoch, kann man diese Entscheidung zur EU-Integration doch einer der Rechtsprechungslinien zuordnen, die das Bundesverfassungsgericht in seiner jahrzehntelangen Geschichte entwickelt hat. Überraschend ist das Urteil nicht. 

Die langen Linien von Karlsruhe

Bei einer Rechtsprechungslinie knüpft die jeweilige Richtergeneration an das jeweils von den Vorgängern entwickelte Konzept an. So werde dieses Konzept „in die digitale Jetztzeit transponiert und sei damit in gewisser Hinsicht ein Update älterer Entscheidungen“, umschrieb es einmal ein Verfassungsrichter.

Auch die Rechtsprechung des Gerichts in Sachen Europa folgt solch einer Rechtsprechungslinie. Die Prämisse des Gerichts lautete: Der Rechtsrahmen der EU-Verträge muss eingehalten werden. Diese Prämisse ist dabei kein deutscher Sonderweg. Die Mehrzahl der Verfassungsgerichte in der EU geht von derselben Grundannahme aus: Die Mitgliedstaaten sind die Herren der Verträge.

Kompetenzen an die EU können nur insoweit übertragen werden, wie die jeweilige Verfassung es zulässt. Und das überprüfen die jeweiligen Verfassungsgerichte. 

Für das Karlsruher Gericht scheinen dabei drei Punkte essenziell zu sein: den Rechtsrahmen zu setzen im Verhältnis Europa und Deutschland, eine Kontrolle des Europäischen Gerichtshofs über europäische Institutionen zu ermöglichen, also auch über die Europäische Zentralbank, und die Rückanbindung zu stärken, also immer die nationalen Parlamente mit einzubeziehen.

Das war schon 1993 so, als die Karlsruher Richter den Vertrag von Maastricht prüften. Das Bundesverfassungsgericht winkte die hierin beschlossene Währungsunion als verfassungskonform durch.

Die Grenzen des Grundgesetzes

Eine europäische Verfassung scheiterte dann auch nicht an einem Veto aus Karlsruhe, sondern an zwei negativen Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden. Als Konsequenz aus diesem Scheitern beschlossen die europäischen Regierungen, im Vertrag von Lissabon eine europäische Verfassung „light“ festzuschreiben. Europa bekam erheblich mehr Kompetenzen, und der Einfluss des Europäischen Parlaments vergrößerte sich. Die Zahl der Politikbereiche, in denen nun mit Mehrheit – und nicht mehr einstimmig – beschlossen werden kann, erweiterte sich. Eingeführt wurde auch ein europäisches Bürgerbegehren. 

Auch in weiteren Verfahren, die Europa betrafen, beispielsweise das Verfahren zum europäischen Rettungsschirm ESM, standen die Karlsruher Richter nicht auf der Bremse. 

Was so manche euphorischen Europäer allerdings nicht gewillt sind zu akzeptieren: das Beharren des Bundesverfassungsgerichts auf seinem Kontrollrecht und dem immer wieder in den Urteilen ausgesprochenen Hinweis, dass Europa kein europäischer Bundesstaat sei. 

Auch im Urteil zum Lissabonvertrag missfiel Kritikern die Betonung der nationalen Souveränität Deutschlands durch die Karlsruher Richter: „Das Grundgesetz ermächtigt die für Deutschland handelnden Organe nicht, durch einen Eintritt in einen Bundesstaat das Selbstbestimmungsrecht des Deutschen Volkes in Gestalt der völkerrechtlichen Souveränität Deutschlands aufzugeben“, heißt es da. 

Der Vertrag aber hielt letztlich ihrer Prüfung stand. Nur das Gesetz, das ihn in der Bundesrepublik verankern sollte, fiel durch. Und hier knüpften die Richter an ihre europäische Rechtsprechungslinie an. Sie forderten den Bundestag auf, eine wirksame Kontrolle der EU zu gewährleisten. Die Abgeordneten müssen ihre Rechte wahren. Diese Linie der Stärkung der Rolle des Parlaments findet sich dann auch im EZB-Urteil wieder.

Diskrete „Richtermacher“

Eine andere, fundamental wichtige Rechtsprechungslinie des Gerichts lassen die Entscheidungen zur Meinungs-, Presse- und Rundfunkfreiheit seit den fünfziger Jahren erkennen. Das Fundament dieser Rechtsprechung wurde bereits mit dem sogenannten Lüth-Urteil im Jahr 1958 gelegt. Erich Lüth, Hamburger Senatsdirektor, hatte 1950 zum Boykott der Filme des Naziregisseurs Veit Harlan („Jud Süß“) aufgerufen. Vom Hamburger Landgericht wurde er 1951 zur Unterlassung verurteilt. Karlsruhe kassierte das Urteil: Die Verfassungsrichter betonten, das Grundrecht der Meinungsfreiheit gelte nicht nur für das Verhältnis vom Bürger zum Staat, sondern bei einer Kontroverse auch zwischen Privatpersonen. 

Dieses Urteil erwähnte das Gericht ein halbes Jahrhundert später, als es die Anordnung zur Durchsuchung der Redaktionsräume des Magazins Cicero und die Beschlagnahme der dort gefundenen Beweismittel für verfassungswidrig erklärte. 

Auch zur Rundfunkfreiheit gibt es solch eine Rechtsprechungslinie. In zahlreichen Entscheidungen garantiert das Bundesverfassungsgericht die Freiheit des Rundfunks. Es misst dieser Garantie grundlegende Bedeutung für das gesamte öffentliche, politische und gesellschaftliche Leben bei. Den Grundstein für diese Rechtsprechungslinie legte das Gericht mit seinem Fernsehurteil im Jahr 1961: Bundeskanzler Konrad Adenauer musste dadurch seine Pläne für eine „Deutschland-Fernsehen GmbH“ begraben.

Eine Traditionslinie anderer Art ist die Auswahl neuer Verfassungsrichter. Dabei dringt traditionell wenig nach außen. Die „Richtermacher“ der politischen Parteien einigen sich oft diskret. Es ist ein seit Jahrzehnten bewährtes Verfahren, wenn man die Ergebnisse betrachtet. Ebenso wird es jedoch seit Jahrzehnten als intransparent und der Bedeutung des Verfassungsgerichts nicht angemessen kritisiert. Der Bundestag könnte andere Modalitäten der Richterwahl bestimmen – auch ohne Genehmigung des Bundesverfassungsgerichts. 

Aber ein wirklich besseres und überzeugenderes Verfahren konnten die Kritiker bisher nicht anbieten. Zudem: Jeder an das Bundesverfassungsgericht gewählte Richter benötigt für die Wahl eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag oder im Bundesrat. Da müssen sich die politischen „Richtermacher“ vorher „zusammenraufen“ und Kompromissbereitschaft zeigen. 

Frischer Wind im Gericht?

Der immer wieder gemachte Vorschlag, dass sich vorgeschlagene Richter für das Verfassungsgericht ähnlich wie vorgeschlagene Richter für den Supreme Court in den USA einer öffentlichen Anhörung stellen sollten, vermag nicht zu überzeugen. Wer die Anhörung des von Präsident Trump zuletzt vorgeschlagenen Richters Brett Kavanaugh vor dem US-Senat verfolgt hat, der kann nicht ernsthaft für solch eine Anhörung auch in Deutschland sein. 

Auffällig ist allerdings, dass ein Richtervorschlag für den US-Supreme Court in Amerika eine ungleich höhere mediale Aufmerksamkeit bekommt als Richtervorschläge zum Bundesverfassungsgericht in Deutschland. Das mag damit zusammenhängen, dass die US-Richter praktisch auf Lebenszeit ernannt werden. Richtertätigkeiten weit über zwei Jahrzehnte und auch ein Lebensalter weit über 80 Jahre sind in den USA kein Grund zum Ausscheiden. Der lange Einfluss der Richter auf die politischen Verhältnisse in Amerika ist damit immens. Da ist die Regelung am Bundesverfassungsgericht sympathischer: Nach zwölf Jahren Richtertätigkeit ist Schluss, Wiederwahl oder Verlängerung ausgeschlossen. 

Das Ausscheiden eines Richters aber führt nicht selten zu Spekulationen um die Frage: Ändert sich mit dem Wechsel auch eine Rechtsprechungslinie? So auch nun: Denn die Frankfurter Juraprofessorin Astrid Wallrabenstein übernimmt die Richterstelle von Andreas Voßkuhle im Zweiten Senat, dem „Europarechtsenat“. Auf dem Ticket der Grünen ins Gericht gewählt, hat die Spitzenjuristin ihre Sympathie für eine weitere Integration Europas erkennen lassen.

Aber ändern wird das an der Rechtsprechung des Gerichts zur europäischen Integration vorläufig nichts. Noch liegen die Verfahren aus den Rechtsgebieten der Grundgesetzartikel zur Europäischen Union und zu Übertragungen von Hoheitsrechten im Dezernat des Verfassungsrichters Peter M. Huber. Er schreibt die von seinen Vorgängern Paul Kirchhof und Udo Di Fabio entwickelte Rechtsprechung zu Europa fort. Seine Amtszeit endet erst im November 2022.

Die neuen Frauen im Senat

Voßkuhle hat es zu Beginn seiner Präsidentschaft 2010 treffend formuliert: „Rechtsprechung entwickelt sich langsam, eher durch dogmatische Anbauten und Feinjustierungen, mitunter auch verdeckt, selten jedoch durch demonstrativen Abbruch des Altbestands.“
Ob die von Kritikern geforderte öffentliche Wahl von Verfassungsrichtern allerdings so aussehen sollte, wie die Bürger dies in den letzten Monaten bei der SPD miterleben durften, kann bezweifelt werden. Drei SPD-Ministerpräsidenten präsentierten jeweils einen Kandidaten und versuchten, ihren Favoriten durchzuboxen. 

Am Ende scheiterten alle: Drei Tage vor der Wahl im Bundesrat machte überraschend die 48-jährige Rechtsprofessorin Ines Härtel das Rennen. Seit 2014 hat sie einen öffentlich-rechtlichen Lehrstuhl an der Universität in Frankfurt/Oder, davor war sie Professorin an der Universität Bochum. Ihre wissenschaftlichen Schwerpunkte liegen beim Datenschutz und dem Informationsrecht. Als Verfassungsrechtlerin ist sie bisher nicht aufgefallen. Sie hat aber einen Pluspunkt: Die promovierte Juristin wurde in der DDR geboren, bringt also eine echte „Ostbiografie“ mit. Sie ist damit die erste Richterin am Karlsruher Gericht, die noch in der ehemaligen DDR aufgewachsen ist. 

Wenn in der Geschäftsverteilung des Ersten Senats alles so bleibt, verantwortet Ines Härtel in Zukunft zentrale Bereiche des Verfassungsrechts: Meinungsfreiheit, Persönlichkeitsrecht und Datenschutz. Es sind Bereiche, die wie in der Vergangenheit im Fokus der Öffentlichkeit stehen. Härtel tritt damit in große Fußstapfen: Richterpersönlichkeiten wie Konrad Hesse, Dieter Grimm, Wolfgang Hoffmann-Riem und Johannes Masing haben in den letzten Jahrzehnten auf diesen Gebieten tiefe verfassungsrechtliche Spuren hinterlassen. Ines Härtel beerbt nun Masing. 

Voßkuhle übergibt keine Leichen

Mit ihrer Ankunft im Schlossbezirk in Karlsruhe ist das Zwillingsgericht in beiden Senaten wieder komplett. Zudem gibt es nun zum ersten Mal in der fast 70-jährigen Geschichte des Gerichts mehr Verfassungsrichterinnen als Verfassungsrichter. Das Verhältnis im Ersten Senat: vier Frauen, vier Männer, im Zweiten Senat: fünf Frauen, drei Männer. Verändert das mittelfristig die Verfassungsrechtsprechung? Man wird sehen. Nur eines ist sicher: Witze über einen „Schneewittchensenat“ – eine Frau, sieben Männer – wie es ihn in früheren Zeiten gab, gehören endgültig der Vergangenheit an.

Eine „Leiche im Keller des Bundesverfassungsgerichts“ – so werden haus­intern und hinter vorgehaltener Hand „gut abgehangene“ Verfahren am Verfassungsgericht bezeichnet. Deren Aktenzeichen stammen noch aus den Jahren 2010/2011/2012. Der scheidende Präsident hat seinem Nachfolger Stephan Harbarth keine solchen Aktenzeichen hinterlassen. Ob er aber vor seinem Abgang die Schrauben für die Sicherung des Bundesadlers oberhalb der Richterbank noch einmal hat überprüfen lassen, wird vielleicht irgendwann als Notiz im Bundesarchiv in Koblenz auftauchen.

Dieser Text stammt aus der August-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

 

Jetzt Ausgabe kaufen

 

Anzeige