Bundestagswahl - Tage des Zorns

Diese Wahl hat Deutschland in seinen Grundfesten erschüttert. Mit dem Einzug der rechten Populisten von der AfD in den Bundestag beginnt auch Angela Merkels Abschied von der Macht

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Die Union unter Kanzlerin Merkel kommt nur noch auf knapp 33 Prozent – ein historisch schlechtes Ergebnis / picture alliance
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Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

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Und jetzt? Früher, als noch einigermaßen trennscharf unterschieden werden konnte zwischen einem „rechten“ und einem „linken“ Lager, wäre das Ergebnis dieser Wahl klar gewesen: Die strukturelle linke Mehrheit der vergangenen vier Jahre ist weg. In der neuen Zeitrechnung jedoch, die spätestens mit dem Einzug der AfD in den Bundestag begonnen hat, bedeutet diese Rechnung gar nichts mehr. Denn die sogenannten Rechtspopulisten kommen als Koalitionspartner für die Union nicht infrage. Realistisch hätte es also zwei Optionen gegeben: eine Fortsetzung der Großen Koalition oder Schwarz-Gelb-Grün. Nach der apodiktischen Ankündigung des gescheiterten Kanzlerkandidaten Martin Schulz, seine Partei in die Opposition zu führen, deutet alles in Richtung Jamaika.
Diese Konstellation mag zwar vom politischen Feuilleton als zweitbeste Variante nach Schwarz-Grün goutiert werden. Doch der politische Praxistest ist damit noch lange nicht bestanden. Die CDU könnte gewiss mit beiden, vielleicht sogar mit beiden gleichzeitig. Aber wie insbesondere der linke Flügel der Grünen mit den schon aus reinem Selbstschutz auf Kompromisslosigkeit gebürsteten Lindner-Liberalen zusammenfinden kann, das ist eine Frage, die nicht nur Cem Özdemir beantworten muss. Sondern auch Jürgen Trittin. Und der hat nach der Bundestagswahl 2013 bereits Schwarz-Grün verhindert. Wie soll es ihm da die FDP als Dritte im Bunde leichter machen, eine gemeinsame Regierung in Erwägung zu ziehen? Zumal die Grünen der kleinste Bündnispartner wären.

Es drohen politisch instabile Zeiten

Ähnliche Sollbruchstellen tun sich bei einer Zusammenarbeit mit der CSU auf, deren Vorsitzender noch am Wahlabend verkündete, er wolle jene Lücke wieder schließen, die die Merkel-CDU rechts der Mitte hat entstehen lassen. Es müssten von den Parteien also schon sehr viele im Wahlkampf aufgestellte Hürden abmontiert werden – von der Europa- über die Steuer- bis hin zur Verkehrs- und Migrationspolitik –, damit Jamaika keine ferne Karibikinsel bleibt.

So drohen politisch instabile Zeiten. Die Union unter Kanzlerin Merkel kommt nur noch auf knapp 33 Prozent – ein historisch schlechtes Ergebnis, zumal für eine Partei, die ihrem Selbstverständnis nach ein Stabilitätsanker in der durcheinandergewirbelten europäischen Parteienlandschaft ist. Zwei Jahre nach der sogenannten Grenzöffnung tritt offen zutage, was die planlose und selbstherrliche Flüchtlingspolitik bei der traditionellen Wählerschaft der CDU angerichtet hat. Natürlich spielten auch andere Faktoren eine Rolle – von der Eurorettungspolitik bis zur wie aus einer Laune heraus verkündeten Freigabe der Ehe für alle. Aber Merkels Agieren in Sachen Migration und Flüchtlinge ist die eigentliche Ursache für das Auseinanderbrechen des „bürgerlichen Lagers“ in einen moderaten und einen radikalen Teil.

Mit der AfD beginnt ein neues Kapitel

Alle Versuche ihrer Regierung, den Fehler der Grenzöffnung und dessen Folgen kleinzureden, zu ignorieren und zu beschönigen, haben am Ende nicht geholfen. Der Terroranschlag vom Berliner Breitscheidplatz, die Kölner Silvesternacht, der Anstieg von Kriminalität und vor allem der Sexualdelikte – die Beteuerungen Angela Merkels, dass sich der Ausnahmezustand vom Herbst 2015 nicht wiederholen dürfe, konnten gegen die Wucht des Faktischen nichts mehr ausrichten. Die Versprechen der Kanzlerin verhallten bei vielen Wählern ungehört. Weil es schon reichte, was bis hierher geschehen war. Diese Wahl war deshalb nicht zuletzt ein Referendum über Merkels Flüchtlingspolitik. Und erhebliche Teile der Bevölkerung verliehen ihrem Missfallen und ihren Sorgen darüber Ausdruck, indem sie die AfD zur mit Abstand drittstärksten Kraft im Deutschen Bundestag machten. 

Mit dem Einzug der AfD in den Bundestag, und das gleich in dieser Stärke, beginnt tatsächlich ein neues Kapitel in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Nicht jeder, der diese Partei im Parlament vertreten wird, ist ein Extremist oder gar Neonazi. Aber der Anteil jener, die „das System“ verachten und am liebsten ganz abschaffen würden, der Anteil an Geschichtsrevisionisten, glühenden Nationalisten oder offenen Fremdenfeinden ist eben ein wesentlicher Kern der AfD des Jahres 2017. Es drohen Eskalationen im Bundestag; der SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz hat die „Alternative für Deutschland“ während seiner Abschlusskundgebung zwei Tage vor der Wahl explizit als „unsere Feinde“ tituliert. Und damit Öl ins Feuer gegossen, bevor es im Berliner Parlament überhaupt entzündet war. Schulz will seine Partei auf diese Weise zum einzig wahren Bollwerk gegen rechts stilisieren und sich selbst als eine Art Wiedergeburt von Otto Wels, jenem heldenhaften SPD-Kämpfer gegen das Ermächtigungsgesetz.

Aber der Erfolg der AfD ist nicht die Wiederkehr von etwas schon einmal Dagewesenem; Vergleiche mit der Wahl von 1930 und der NSDAP führen in die Irre. Denn im Kreuz bei der AfD sahen viele Wähler ihre einzige Möglichkeit, die Kanzlerin und ihre Große Koalition mit Aplomb abzustrafen. Dass die „Alternative für Deutschland“ schon am Tag nach der Wahl von Zerfallserscheinungen heimgesucht wurde, dürfte viele ihrer Wähler deshalb nicht erschüttern: Hauptsache, die „Etablierten“ haben einen Denkzettel bekommen. Zumindest diese Mission haben die neuen Rechten erfüllt. Ob sie zu mehr in der Lage sind, wird sich in den nächsten vier Jahren zeigen. Und auch, ob die Partei in dieser Form überhaupt Bestand haben kann.

Die deutsche Sozialdemokratie ist in größter Not

Die SPD bleibt in ihrer Verliererrolle, der Gerechtigkeitswahlkampf hat nicht gezündet. Die Sozialdemokratie wird sich neu erfinden müssen, wenn sie nicht als ehrenwerte Partei des 20. Jahrhunderts in die Geschichtsbücher eingehen will. Vor allem aber wird sie die Kluft zwischen ihren Funktionseliten und ihrer Kernklientel schließen müssen. Auch da hilft womöglich die Erkenntnis, dass ein Sozialstaat nur dann Bestand haben kann, wenn der Zuzug in die entsprechenden Sicherungssysteme klar definiert und kontrolliert wird.

Die deutsche Sozialdemokratie ist in größter Not. Nur noch knapp über 20 Prozent der Wähler haben für die SPD gestimmt – das schlechteste Ergebnis seit 1949. Es wäre aber zu kurz gegriffen, die Schuld für diese Niederlage allein dem glücklosen Kanzlerkandidaten anzulasten. Zwar beklagte sich Martin Schulz am Abend der Wahl noch einmal bitter über die ihm von der Union verweigerte politische Debatte. Doch die Gründe für das Versagen der SPD liegen anderswo. Vor allem hat die SPD den Kontakt zu ihren traditionellen Wählermilieus weitgehend verloren – zur gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmerschaft genauso wie zum neuen, in prekären Verhältnissen arbeitenden Dienstleistungsproletariat. Stattdessen gibt in der Partei eine postmaterielle und popkulturelle Linke den Ton an. Es war bezeichnend, dass im Willy-Brandt-Haus am Wahlabend erst dann Beifall aufbrandete, als Martin Schulz beim Aufzählen der Erfolge seiner Partei in der Großen Koalition die gleichgeschlechtliche Ehe erwähnte. Hingegen regte sich keine Hand, als der SPD-Chef an die Einführung des Mindestlohns oder die Rente mit 63 erinnerte. 

Ängste wurden nicht ernst genommen

Die SPD hat zudem keine Idee entwickelt, wie sie in der Mitte neue Anhänger, undogmatische und un­ideologische Wechselwähler für sich mobilisieren kann. Bei Themen wie Digitalisierung, Industriepolitik oder Energiewende war wenig bis nichts von ihr zu hören. Stattdessen hatten die Verantwortlichen in der Partei geglaubt, den Wahlkampf allein mit dem Thema soziale Gerechtigkeit bestreiten zu können. Doch über ein paar Schlagworte waren sie dabei nicht hinausgekommen. Vor allem ist es ihnen nicht gelungen, das Gerechtigkeitsthema auf unterschiedliche Zielgruppen herunterzubrechen. Zum Beispiel auf die Interessen von Industriearbeitern, prekär Beschäftigten oder Solo-Selbstständigen, Familien, Frauen oder Rentnern.

Nicht zuletzt hat es die SPD versäumt, beim dominierenden innenpolitischen Thema der vergangenen zwei Jahre klare Akzente zu setzen. Die einzige sozialdemokratische Antwort auf die Masseneinwanderung seit Sommer 2015 hieß Spracherwerb und Integration in den Arbeitsmarkt. Die Ängste vieler Deutscher, vor allem die Ängste vor kultureller Überfremdung, wurden nicht ernst genommen. Auch in Sachen innere Sicherheit, Kriminalitätsbekämpfung oder Terrorabwehr war wenig von der SPD zu hören. Und wenn einzelne Sozialdemokraten versuchten, sich auf diesem Gebiet zu profilieren, wurde statt einer klaren Haltung eher die Vielstimmigkeit der SPD offenbar. 

Eine Zerreißprobe droht

Nur aus der Not heraus demonstrierte die SPD am Wahlabend Geschlossenheit; angesichts der dramatischen Niederlage versammelten sich die Genossen hinter ihrem Parteivorsitzenden. Aber schon bei der Frage nach dem Fraktionsvorsitz konnte er sich nicht mehr durchsetzen; neue Oppositionsführerin im Bundestag ist die bisherige Arbeitsministerin Andrea Nahles. Martin Schulz bleibt damit ein Parteivorsitzender auf Abruf; der 61-Jährige wird noch den Generationswechsel einleiten können und dann abtreten müssen.

Doch auch wenn nun die Jüngeren in der SPD an die Spitzen rücken, wird es für die Partei alles andere als einfach, sich neu aufzustellen. Noch bis zur Landtagswahl in Niedersachsen am 15. Oktober dürften die Parteiflügel stillhalten. Aber hinterher wird sich schnell zeigen, wie tief der Riss ist, der durch die SPD geht, und wie groß die Orientierungslosigkeit. Einige Sozialdemokraten werden sich den britischen Labour-Vorsitzenden Jeremy Corbyn zum Vorbild nehmen; sie werden die SPD in eine linkspopulistische Partei verwandeln wollen. Andere werden ihren Blick nach Frankreich wenden und sich an Emmanuel Macron und an dessen auf die gesellschaftliche Mitte ausgerichteter Reformpolitik orientieren. Die Konsequenzen, die sich daraus für die Partei ergeben, wären fundamental unterschiedlich. Es droht die Zerreißprobe.

Mehr Fluch als Segen

Die FDP hat den Weg zurück in den Bundestag gefunden, was auch am Parteivorsitzenden Christian Lindner liegt. Dass sie nach diesem wichtigen Schritt womöglich gleich noch Regierungsverantwortung übernehmen muss, ist eher Fluch denn Segen. Vielen FDP-Parlamentariern fehlt es an politischer Erfahrung, von Regierungserfahrung ganz zu schweigen. Für die Liberalen besteht die größte Herausforderung vorerst darin, nicht in Größenwahn zu verfallen und ihr Primat der Realpolitik auch und gerade im Umgang mit den anderen Parteien hochzuhalten. Mit One-Man-Shows ist da nichts mehr zu gewinnen.

Grüne und Linkspartei finden sich nach der Wahl im einstelligen Prozentbereich wieder. Immerhin, könnte man sagen. Denn von echter Opposition war insbesondere bei den Grünen während der vergangenen vier Jahre wenig zu spüren. Wenn es trotz aller echten oder behaupteten Unvereinbarkeiten zwischen SPD, Grünen und Linken eine Klammer gibt, dann ist es die Zugehörigkeit zum „linken Lager“. Und zwar deutlich stärker, als im umgekehrten Fall die Klammer zwischen Union, FDP und AfD in einem „rechten Lager“ sein könnte. Wer also diese – wie aus der Zeit gefallen wirkende – Lagertheorie zugrunde legt, wird feststellen müssen: Bei der Bundestagswahl haben beide Lager verloren. Die einen an Zustimmung, die anderen an politischer Gestaltungsmöglichkeit. Ein Jamaikabündnis wird diesen Makel nur mühsam überdecken können.

Im Zweifel lieber Opposition

Die wichtigste Botschaft dieser Wahl lautet deshalb: Es gibt wieder eine Opposition, es gibt wieder Streit und Debatten. Die Zeiten, in denen eine über allem schwebende Regierungschefin widerstandslos tun konnte, was sie für richtig hielt, sind vorbei. Angela Merkel stehen die unbequemsten Jahre ihrer Kanzlerschaft bevor. Nicht nur, weil sie sich in Form von AfD und der waidwunden SPD einer echten Opposition gegenübersieht. Sondern auch, weil sie ein kompliziertes Koalitionsbündnis bilden muss, in dem starke Fliehkräfte wirken. Die FDP wird sich der CDU-Chefin nicht zu Füßen legen, sondern hohe Bedingungen stellen. Im Zweifel lieber Opposition, lautet die Lehre der Liberalen aus ihrem dramatischen Absturz vor vier Jahren. 

Die CSU ist für ihren Schleuderkurs in der Flüchtlingspolitik bitter bestraft worden. Auch sie wird sich in dieser Situation nicht um jeden Preis in eine Koalition mit den verhassten Grünen zwingen lassen. So schnell dürfte Merkel aus den bunten Stoffresten, die ihr die Wähler hinterlassen haben, also keine Jamaika-Fahne nähen können. Für sie werden die Tage nun kürzer, der Herbst ihrer Macht hat begonnen. Aber bevor sie abtritt, braucht sie noch ein historisches Vermächtnis. Das wird jetzt dringend gesucht.

 

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