Rede von Kanzlerin Merkel im Bundestag - Angela Galilei

Eine erstaunlich emotionale Rede hat die sonst so nüchterne Bundeskanzlerin heute im Bundestag gehalten. Eigentlich sollte es um ihren Etat gehen. Doch spätestens mit einem Zwischenruf aus der AfD-Fraktion wurde es sehr grundsätzlich.

Flehentlich kann man wohl diese ungewöhnliche Rede von Angela Merkel nennen / dpa
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Marko Northe hat die Onlineredaktion von cicero.de geleitet. Zuvor war er Teamleiter Online im ARD-Hauptstadtstudio und Redakteur bei der "Welt". Studium in Bonn, Genf und Berlin sowie am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. 

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Ob die Kanzlerin sich bei ihrer heutigen Rede fühlte wie Brechts Galilei im Palast des Florentinischen Gesandten in Rom? „Nein, nein, nein“, widerspricht der Astronom da dem kleinen Mönch: „Es setzt sich nur so viel Wahrheit durch, als wir durchsetzen; der Sieg der Vernunft kann nur der Sieg der Vernünftigen sein.“ 

Die Wahrheit, ein großes Wort und in der Politik meist etwas Subjektives, lässt sich in der Wissenschaft besser definieren und schwerer zurechtbiegen. Oder um noch einmal mit Brechts Galilei zu sprechen: „Die Winkelsumme im Dreieck kann nicht nach den Bedürfnissen der Kurie abgeändert werden.“ Doch die Wahrheit an sich ist wertlos, sie braucht immer jemanden, der sie ausspricht und der sie verteidigt.

Selten war Merkel so emotional

Ein zugegebenermaßen pathetischer Einstieg für einen Artikel über eine Rede von Angela Merkel. Aber diese Rede heute war auch eine ungewöhnliche für die sonst so protestantisch nüchterne und rhetorisch langweilige Kanzlerin. Selten hat man Merkel so emotional, so flehentlich erlebt. Die Pfarrerstochter faltete die Hände sogar wie beim Gebet, um die Abgeordneten, aber vor allem die Bevölkerung zu bitten, die Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie ernst zu nehmen und zu befolgen. 

Es gab sogar einen Moment, in dem sich ihre Stimme überschlug und man beinahe das Gefühl hatte, Merkel sei den Tränen nah:

„Und wenn die Wissenschaft uns geradezu anfleht, vor Weihnachten, bevor man Oma und Opa und Großeltern und ältere Menschen sieht, eine Woche der Kontaktreduzierung zu ermöglichen, dann sollten wir vielleicht doch nochmal nachdenken, ob wir nicht irgendeinen Weg finden, die Ferien nicht erst am 19. beginnen zu lassen, sondern vielleicht schon am 16. Was wird man denn im Rückblick auf ein Jahrhundertereignis mal sagen, wenn wir nicht in der Lage waren, für diese drei Tage noch irgendeine Lösung zu finden.“

Dabei fing alles so harmlos an

Diese Emotionalität war nicht vorherzusehen. Eigentlich ging es heute im Bundestag um den Haushalt, genauer um den Etat des Kanzleramts für das anstehende Jahr. Ein trockenes Sujet also, doch schon Alice Weidel von der AfD, die die Debatte eröffnete, spannte den großen Bogen von fünfzehn Jahren Merkel, in denen die Kanzlerin am Anfang die Fehler der Vorgängerregierung verschlimmbessert habe und dann 2015 ihren angeblich größten, für manche Kritiker nie wieder gutzumachenden Fehler begangen habe. Man kennt das zur Genüge.

Und auch als Merkel am heutigen Vormittag ans Pult trat, hatte man zunächst den altbekannten Eindruck von ihr. In monotoner Weise referierte sie, was die Regierung tut, was die EU tun sollte, sie dankte in ihrer trockenen Art den Menschen, die sich gegen die Pandemie und ihre Folgen stemmen. Sie sagte zum Teil auch wieder ungeschickte Sätze wie diesen: „Unser Handeln ist anders als das Handeln in Ländern, die stärker einer Diktatur gleichen, das ist vollkommen klar.“ Böse Zungen werden ihr das wahrscheinlich noch lange vorhalten. Aber da waren von vornherein auch andere Töne, kritische und selbstkritische, die man von der Kanzlerin nicht so sehr gewohnt ist.

Ungewohnte Einsichten  

So zum Beispiel, als es um die deutsche EU-Ratspräsidentschaft ging, die schon wieder zu Ende geht: „Wir alle hatten uns diese Ratspräsidentschaft wirklich anders vorgestellt. Und vieles konnte dabei nicht umgesetzt werden, und das ist schade.“ Schuld daran sei die Pandemie gewesen.

Doch die hat für Merkel auch einige Defizite offengelegt, wie sie selbstkritisch äußerte: „Von der Entscheidung, dass zum Beispiel jeder Lehrer einen Laptop bekommt bis zu der Umsetzung, dass jeder Lehrer einen Laptop in der Hand hält, dauert es in Deutschland immer Monate. Wir können an allen Stellen schneller werden, aber genügend Geld ist da.“ 

„Ich glaube an die Kraft der Aufklärung“

Doch der mahnende, flehende Teil ihrer Rede begann erst, als Merkel auf die Corona-Maßnahmen zu sprechen kam. Die Infektions- und Todeszahlen zeigten, dass die Kontaktreduktion nicht ausreiche. Prompt folgten erst ein Zwischenruf aus der AfD-Fraktion („Das ist nicht erwiesen!“) und daraufhin Zwischenrufe aus den anderen Fraktionen, die sich gegen die AfD richteten. 

Aber dagegen schritt nicht Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble ein, sondern Merkel selbst: „Wissen Sie, das ist der Unterschied. Das ist ja auch nicht so schlimm. Es ist schade, aber es ist nicht schlimm“, sagte die Kanzlerin an die AfD-Fraktion gerichtet, um dann einen fundamentalen Unterschied zwischen ihr und der rechten Partei zu machen: 

„Ich glaube an die Kraft der Aufklärung. Dass Europa heute dort steht, wo es steht, hat es der Aufklärung zu verdanken und dem Glauben daran, dass es wissenschaftliche Erkenntnisse gibt, die real sind und an die man sich besser halten sollte. Und ich bin da ganz sicher. Ich habe mich in der DDR zum Physikstudium entschieden. Das hätte ich in der alten Bundesrepublik wahrscheinlich nicht getan. Weil ich ganz sicher war, dass man vieles außer Kraft setzen kann, aber die Schwerkraft nicht, die Lichtgeschwindigkeit nicht, und andere Fakten nicht. Und das wird auch weiter gelten, meine Damen und Herren. Da brauchen wir uns gar keine Sorgen zu machen.“ 

Die Corona-Daten sind keine Naturgesetze

Merkel erläuterte hier ihre innere Emigration aus der DDR in die Welt der Naturgesetze so deutlich wie nie. Zugleich war der Zusammenhang, den sie zwischen den physikalischen Gesetzen und den Corona-Daten schloss, auch ein schiefer. Denn die Infektionszahlen, die Maßnahmen gegen die Pandemie, das alles sind keine Naturgesetze.

Und die Wissenschaft, wie Merkel es immer wieder formulierte, gibt es sowenig wie die Politik. Gerade in Hinsicht auf das Coronavirus sehen wir jeden Tag, wie Wissenschaftler die Zahlen verschieden interpretieren, wie Studien aufgestellt und widerlegt werden, wie sich der Wissensstand von Tag zu Tag ändert. 

Plädoyer für die Aufklärung

Und doch: Da stellt sich eine Regierungschefin vor ein Parlament und sagt, dass sie der Wissenschaft vertraue und nicht irgendeiner Ideologie oder Meinung. Darüber kann man als aufgeklärter Mensch froh sein. Es ist gut, dass wir uns (noch) im Zeitalter der Aufklärung befinden, dessen Urväter einst Universalgelehrte wie Galileo Galilei waren.

Doch es gibt in der Tat wieder Parteien, die die Winkelsumme eines Dreiecks nach ihren Bedürfnissen abändern wollen. Wie es ist, wenn solche Menschen an der Macht sind, konnte man gerade in diesem Jahr gut abgleichen. Ein Blick in die USA, nach Großbritannien und Brasilien reicht da immer wieder. In Deutschland kann man zu solchen Leuten immerhin noch sagen: „Es ist schade, aber es ist nicht schlimm“, dass sie sich nicht ihres eigenen Verstandes bedienen wollen.

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