Die Kanzlerin - Ein Land im Halbschlaf

Nach 16 Jahren Kanzlerschaft zeigt Angela Merkel sich nun plötzlich leidenschaftlich. Das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihr Politikmodell nicht zukunftsfähig ist.

Erschienen in Ausgabe
Ihr Profil war nicht immer klar / Dominik Butztmann
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In der letzten Phase ihrer Kanzlerschaft lernen die Deutschen Angela Merkel doch noch von einer neuen Seite kennen. Ende März bat sie die Bürgerinnen und Bürger um „Verzeihung“: Die gerade erst getroffene Entscheidung für eine sogenannte Osterruhe sei „einzig und allein mein Fehler“. 

Eine ungewohnte Direktheit hatte man schon in den Monaten zuvor erlebt. Im Oktober 2020, nach 15 Jahren im Amt, sprach die Kanzlerin, leidenschaftlich wie nie, von drohendem „Unheil“. Wenn es nicht gelinge, den exponentiellen Anstieg der Corona-Infektionen zu stoppen, werde das „kein gutes Ende nehmen“. Spätestens jetzt war klar: Sie ist diejenige, die auf strenge Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie dringt und die alles versucht, um die unruhige Schar der Ministerpräsidenten auf diese Linie zu bringen.

Kanzlerin im Nebel

Dass alle Welt so klar wusste, wo Merkel steht, was Merkel empfindet, war in gewisser Weise neu. 
In all den Jahren zuvor hatte sie wie hinter einer Nebelwand regiert, hatte sich in wichtigen politischen Fragen bedeckt gehalten, war in ihren Absichten kaum lesbar – und war dann nur wenige Male völlig überraschend aus dem Nebel herausgetreten, um folgenschwere neue Weichenstellungen zu verkünden. 

Die markantesten Beispiele waren die 180-Grad-Wende in der Atompolitik 2011 und das weltweit beachtete Signal während der Flüchtlingskrise 2015, die Grenzen vorerst offen zu halten. 
Selbst in einer Frage wie der nach der „Ehe für alle“ avisierte sie 2017 ihre ausschlaggebende Positionierung (Gewissensentscheidung, kein Fraktionszwang) geradezu beiläufig und wie aus dem Nichts, in einem Podiumsgespräch mit der Zeitschrift Brigitte.

Eine wirkliche Diskussion mit Kanzlerin-Beteiligung gab es in keinem Fall. Vor den jeweiligen Entscheidungen war sie stets noch im Nebel, und danach, wenn alles kurz erklärt war, entschwand sie alsbald wieder in ihre nur wenigen Sterblichen zugängliche Sphäre.

Strategie: Abwarten

Für die politischen Gegner selbstverständlich ein inakzeptables Verfahren. Sich solcherart dem Diskurs zu entziehen, sei ein „Anschlag auf die Demokratie“, rief 2017 SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz. Politikwissenschaftler erkannten eine Strategie der „asymmetrischen Demobilisierung“: Indem man sich auf die großen Streitfragen gar nicht erst einlässt, entzieht man deren Feuer nach und nach die Energie. Die politische Konkurrenz findet keinen Ansatzpunkt, ihre Wähler bleiben tendenziell zu Hause, das Land ist leicht sediert. Eine aber hellwach.
Meist wird all dies als Ausdruck eines persönlichen Stils oder einer besonderen politischen Raffinesse gedeutet. Aber vielleicht ist es mehr. 

Vielleicht ist es die persönliche Antwort auf eine tiefere strukturelle Verschiebung: auf eine im Vergleich zum 20. Jahrhundert immer weiter ausdifferenzierte und mobilisierte politische Kultur, in der für Entscheider jede öffentliche Debatte riskant ist, weil sie in tausend Stränge zerfasert und letztlich kaum mehr zu bündeln und einzufangen ist. 

Gleich in welcher Frage, von der Steuerpolitik bis zu emotional besetzten gesellschaftspolitischen Themen – jede öffentliche Positionierung wird innerhalb von Stunden eine Explosion an Kritik und Einwänden auslösen. Und spätestens nach Tagen wird bei jedem denkbaren Konzept vorgerechnet werden, wo es doch unerwünschte Nebeneffekte gibt, bestimmte Gruppen übergangen und Grenzwerte „willkürlich“ festgesetzt sind. Wo sich zu Willy Brandts und noch zu Helmut Kohls Zeiten recht übersichtlich formierte parlamentarische Richtungen gegenüberstanden, schlagen heute Erregungswellen quer durchs Netz und alle anderen Medien.

Clown oder Hypnotiseur

Auf diese veränderte Situation gibt es zwei gegensätzliche Antwortmöglichkeiten.
Die Antwort Merkel könnte man in den Gedanken fassen: Was immer du vorlegst, es wird zerrissen. Wenn du also überhaupt etwas vorlegst, dann blitzschnell und im Grunde kein Konzept, sondern eine Entscheidung. Dann wird es noch eine gewisse nachgelagerte Debatte geben, die es mit stoischer Freundlichkeit durchzustehen gilt. Aber sie wird bald abflauen. Niemand diskutiert gern über Dinge, die entschieden sind.

Die zweite Antwortmöglichkeit geht in die Gegenrichtung. Sie versucht nicht die Welle zu verhindern, sondern sie zu verstärken und politisch auf ihr zu surfen. Es ist die Methode Trump und Johnson. 
Alles war über die Jahre schön spiegelbildlich. Merkel macht sich unsichtbar, diese sind omnipräsent. Merkel spricht steif und farblos, diese haben Showmaster-­Qualitäten. Merkel versetzt ihr Land in eine Art Halbschlaf, diese betreiben eine irrwitzige, hemmungslose Mobilisierung. Die Sphinx und die Clowns sind komplementäre Phänomene.

Die Fühler immer ausgefahren

Wobei es in den Tiefen doch wieder eine Gemeinsamkeit gibt. Denn auch Merkel ist eine überaus stimmungssensible Politikerin, nur eben der diskreteren Art. Ihre Nach-Fukushima-Entscheidung etwa war zweifellos von der richtigen Einschätzung getragen, dass es zu diesem Zeitpunkt eine klare Mehrheit für einen Atomausstieg gab. 
Gleiches gilt für die Richtung ihrer Flüchtlingspolitik 2015, auch wenn sie in diesem Fall die allmählich auflaufenden Widerstände unterschätzt haben mochte. 

Grundsätzlich gilt für die Ära Merkel: So wie einst Bismarck die europäische Staatenwelt quasi täglich abhorchte, um politische Chancen und operative Fenster zu erkennen, so betreibt Merkel – jetzt unter demokratischen Vorzeichen – eine Politik, die zu jedem Zeitpunkt öffentliche Stimmungen registriert und in ihren Entscheidungen antizipiert. 
Allein gegen Ende, während der Corona-­Krise, stieß dieses Modell an seine Grenzen. Denn diesmal, um die Pandemie zu bekämpfen, braucht sie die Bürgerinnen und Bürger; nicht nur ihre stillschweigende Zustimmung, sondern ihre bewusste Mitwirkung. Daher die neue, leidenschaftliche Merkel.

Irgendwann kocht es über 

Zukunftsträchtig ist keines der beiden Modelle. Beim Modell Trump/Johnson muss man darüber nicht viele Worte machen. Es hinterlässt eine zerstörte, gespaltene, kommunikationsunfähige politische Kultur – der perfekte Boden für populistische Offensiven und autoritäre Durchgriffe aller Art.
Aber auch das Modell Merkel ist, zumindest mittelfristig, riskant. Denn das Undiskutierte wabert in den Untergründen, ohne wirklich Ausdruck zu finden, es füllt gleichsam die Lavakammern der Gesellschaft. 

Symptomatisch, dass selbst eine Politikerin wie Merkel, obwohl sie so ungreifbar wie ein Neutrum agiert – oder eher: weil sie so agiert –, in Teilen der Gesellschaft solchen Hass auf sich zieht. 
Symptomatisch auch der bis tief in bürgerliche Schichten eingewanderte Verdacht, die zentralen Fragen würden ohnehin hinter den Kulissen entschieden. 

Versierte Regierungstechnik mag diese Dinge über längere Strecken noch steuern und kontrollieren, so wie Bis­marck die komplexe europäische Balance zu handhaben verstand. Aber nachhaltig ist es nicht. Es ist fragil und kann unter anderen personellen und politischen Voraussetzungen innerhalb weniger Jahre kollabieren.
Woraus sich einige einfache Folgerungen ableiten lassen.

Das Elixier der Demokratie

Erstens: Man hatte es fast vergessen, dass Demokratie Diskussion braucht. Diese beinhaltet, wenn sie in die Substanz geht, unvermeidlich ein Moment der Unruhe. Zugleich aber bietet nur sie eine Aussicht auf Stabilität; wenn nämlich, soweit das in Millionengesellschaften geht, der berechtigte Eindruck entsteht, dass alle relevanten Aspekte und Interessen zur Sprache kommen.

Zweitens: Zweifellos braucht eine Demokratie, gerade eine Demokratie, Verfahren der Engführung, der Verdichtung von Debatten zu Entscheidungen. Gewiss, genau dazu wurde seit den Zeiten Montesquieus ein ganzes Set an Institutionen entwickelt. Nur, um es im mathematischen Stil zu sagen: notwendig, aber nicht hinreichend. 
Vier Jahre Trump genügten, um ehrwürdige Institutionen unter extremen Druck zu setzen. Zu verhindern ist dies nur durch eine politische Kultur, die – schon im vorinstitutionellen Raum – gesprächs- und austauschfähig ist. Wenn die Hälfte einer Gesellschaft aus dem Ruder läuft, dann hat eben nicht nur diese, sondern auch die andere Hälfte versagt, so selbstgerecht sie sich auch darüber hinwegtäuschen mag.

Wir sind erwachsene Menschen

Drittens: Eine solche politische Kultur erfordert ein gewisses Maß an De-Infantilisierung. Wenn die Mehrheit in Winkelmentalitäten verharrt, nur etwas in den Raum schreien oder ergattern will und im Grunde, trotz aller kritischen Gebärde, im Untertanenmodus bleibt –, dann wird tatsächlich nur eine politische Betreuung à la Merkel funktionieren. Oder am Ende auch autoritäre Lösungen.

Viertens: Selbstverständlich wird eine solche Diskussionskultur alles andere als gemütlich sein, und es werden sich bis zum Jüngsten Tag nicht alle Einzelpositionen abgebildet finden. Das ist auch gar nicht nötig. 

Entscheidend ist, dass die gesellschaftlichen Kernfragen und Hauptdimensionen klar in Erscheinung treten. Und dass dann – in einer gewissen Robustheit – eine institutionelle Verarbeitung gelingt. Dies erfordert nicht ein ganzes Volk von Vernünftigen. Es bedarf nur einer Zahl, die atmosphärisch prägend wirken kann. 
Eigentlich könnte Demokratie auch in diesen Zeiten machbar erscheinen.

 

Dieser Text stammt aus der Juni-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

 

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