Berliner Neutralitätsgesetz ist nicht verfassungskonform - Nicht ohne mein Kopftuch

Das Bundesarbeitsgericht hat das Verbot von religiösen Symbolen in öffentlichen Schulen gekippt, wie es im Berliner Neutralitätsgesetz vorgesehen ist. Linke und Grüne begrüßen das. Dagegen erwägt die SPD Verfassungsbeschwerde.

Keine Gefahr für den Schulfrieden? Das Bundesarbeitsgericht hat das Kopftuchverbot gekippt / dpa
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Rainer Balcerowiak ist Journalist und Autor und wohnt in Berlin. Im Februar 2017 erschien von ihm „Die Heuchelei von der Reform: Wie die Politik Meinungen macht, desinformiert und falsche Hoffnungen weckt (edition berolina). Er betreibt den Blog „Genuss ist Notwehr“.

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Das Bundesarbeitsgericht zog am Donnerstag einen vorläufigen Schlussstrich unter eine Auseinandersetzung, mit der sich Politik, Behörden und Justiz in Berlin bereits seit mehr als drei Jahren beschäftigen. Die Erfurter Richter sprachen einer muslimischen Informatikerin eine Entschädigung von rund 5.200 Euro zu, da sie Opfer einer religiösen Diskriminierung geworden sei.

Die Klägerin hatte im Januar 2017 im Rahmen eines Bewerbungsgesprächs für eine Stelle als „Quereinsteigerin“ im öffentlichen Schuldienst darauf bestanden, auch im Unterricht ihr Kopftuch zu tragen und erhielt daraufhin keine Stelle. Das entsprach dem seit 2005 geltenden Berliner Neutralitätsgesetz, laut dem Lehrkräfte in öffentlichen Schulen keine sichtbaren religiösen oder weltanschaulichen Symbole tragen dürfen, die für die Betrachterin oder den Betrachter eine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft demonstrieren. Das schließt auch „auffallende religiös oder weltanschaulich geprägte Kleidungsstücke“ ein.

Gericht bewertet Kopftuch als „religiös geboten“

Die abgewiesene Bewerberin sah das als religiöse Diskriminierung und klagte auf eine Entschädigung nach dem Allgemeinen Gleichheitsgesetz. Das Berliner Arbeitsgericht wies diese Klage ab, doch das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg gab ihr recht und bezog sich dabei auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Januar 2015. Danach muss die Ablehnung Kopftuch tragender Bewerberinnen mit einer konkreten Gefährdung des Schulfriedens begründet werden.

Das Land Berlin ging in die Revision, doch das Bundesarbeitsgericht machte sich diese Auffassung jetzt zu eigen und sprach der Klägerin eine Entschädigung wegen der erlittenen religiösen Diskriminierung zu. Da das Tragen des Kopftuchs „im Fall der Klägerin nachvollziehbar auf ein als verpflichtend verstandenes religiöses Gebot zurückzuführen ist“, sei die Berliner Regelung ein „unverhältnismäßiger Eingriff in die Religionsfreiheit“ hieß es zur Begründung. Den Berliner Senat forderten die Richter auf, das Neutralitätsgesetz „verfassungskonform auszugestalten“. 

Die SPD bekommt Unterstützung von der Opposition 

In Berlin sorgte das höchstrichterliche Urteil erwartungsgemäß für unterschiedliche Reaktionen, denn schon lange ist das Berliner Neutralitätsgesetz ein politischer Zankapfel, besonders innerhalb der rot-rot-grünen Koalition. Große Teile der Grünen und Linken würden das Gesetz in seiner jetzigen Form am liebsten abschaffen und muslimischen Lehrerinnen das Kopftuch im Unterricht erlauben. Die SPD stellt sich allerdings bislang quer – und hat dabei auch die Oppositionsparteien CDU, FDP und AfD auf ihrer Seite.

Seyran Ates, die das Land Berlin in Erfurt als Anwältin vertrat, äußerte sich am Abend enttäuscht über das Urteil. Dieses sei ein Schlag gegen „Kinder, die ihre Stimme nicht erheben können“. Muslimische Schülerinnen könnten sich gegen das prägende Bild ihrer Lehrerin nicht wehren. Die Frauenrechtlerin und Gründerin einer liberalen Moschee sieht das Kopftuch als Symbol eines reaktionären Islam, das zu schweren Konflikten gerade in kindlichen Bildungseinrichtungen führen kann. Wenn der Staat Lehrerinnen das Kopftuch erlauben würde, würde er damit „unzulässigerweise für eine bestimmte Interpretation des Koran Partei ergreifen“.

Ates gehört auch zum Unterstützerkreis der Berliner „Initiative Pro Neutralitätsgesetz“. Deren Sprecher Michael Hammerbacher zeigte sich ebenfalls entsetzt über das Urteil. Man müsse nunmehr die Möglichkeiten eines Volksbegehrens zum Erhalt des Gesetzes in Berlin „sehr ernsthaft prüfen“, schrieb Hammerbacher am Donnerstagabend auf Facebook. 

Streit in der Berliner Koalition

Auch die Vertreter von säkularen Gruppen in der SPD und in der Linken äußerten sich enttäuscht. Die Entscheidung sei ein „schwerer Fehler und Anlass zur größten Besorgnis um die Zukunft der religiösen und weltanschaulichen Neutralität des Staates“, so Roman Veressow, Bezirksverordneter der Linken in Berlin-Lichtenberg und Sprecher der AG Säkulare Linke. 

Bei einer vollständigen Aufhebung des Gesetzes, wie es teilweise aus den Reihen der Grünen und Linken erwogen wird, wären „gravierende Auswirkungen auf die öffentlichen Schulen, Polizei und Justiz zu befürchten“. In all diesen Bereichen würden „religiöse Konflikte und schlimmstenfalls auch hochproblematische Weltanschauungen in verschiedenen Ausdrucksformen Einzug halten“. Berlins Bildungsstaatsekretärin Beate Stoffers (SPD) kündigte in der rbb-Abendschau an, man werde die Möglichkeit einer Verfassungsbeschwerde oder eine Berufung beim Europäischen Gerichtshof prüfen.

„Eine multireligiöse Stadt muss das aushalten“

Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) erklärte dagegen in der Sendung, er freue sich über das Urteil. Eine „multireligiöse Stadt wie Berlin“ müsse das offene Tragen von religiösen Symbolen in der Öffentlichkeit und somit auch an Schulen „aushalten“. Es gehe darum, „was jemand im Kopf und nicht auf dem Kopf hat“.

Heftiger Streit in der ohnehin bröckelnden Koalition ist also programmiert. Ausgetragen wird er auf dem Rücken muslimischer Mädchen, auf die der Druck, sich dem Kopftuchgebot zu fügen, erheblich steigen wird. Und Vertreter eines aggressiv-fundamentalistischen Islams werden sich durch das Erfurter Urteil ausdrücklich ermuntert fühlen, den Kampf für die Durchsetzung ihrer Moral- und Herrschaftsvorstellungen fortzusetzen.

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