Attentat auf dem Breitscheidplatz - Allein gelassen im Schmerz

Unsere Autorin hat 2017 mit den Hinterbliebenen des Terroranschlags auf dem Berliner Breitscheidplatz gesprochen. Deren Schmerz ist noch kein Stück verheilt. Der Vorwurf: Trost aus der Politik kam erst spät

Erschienen in Ausgabe
Der Berliner Breitscheidplatz – ein Jahr nach dem Terroranschlag / Foto: Barbara Dietl
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Judka Strittmatter ist freie Journalistin und lebt in Berlin.

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Seit einem Jahr teilt sich das Wohnzimmer von Astrid Passin in zwei Seiten: Da ist die belastende, die mit den Ordnern auf dem Boden, die allesamt voll sind mit Schreiben und Anträgen, an denen es dranzubleiben gilt. Und da ist die Seite mit der Hoffnung und dem Trost. Das ist die mit den Kondolenzbriefen, Fotos und Karten, die sich auf ihrem alten Buffet stapeln, so viele, dass sie fast herunterrutschen. 

Ein Schreiben der Bundeskanzlerin fehlte ein ganzes Jahr. Astrid Passin hat ihren Vater verloren, den sie über alles liebte, mit dem sie einmal am Tag telefonierte, der ihrer Tochter eine Art Ersatzpapa war und der ganz sicher noch leben würde, hätten er und seine Lebensgefährtin am 19. Dezember 2016 noch Karten für Pina Bausch bekommen. Dann hätten sie den Breitscheidplatz nämlich gar nicht angesteuert. Und der Tunesier Anis Amri hätte ihn nicht zu Tode fahren können. 

Der Schmerz über den Verlust des Vaters kommt bei Astrid Passin immer wieder hoch

Es ist schwer, dieses „hätte“ nicht zu denken. Astrid Passin steht vor einem Leben, das jetzt für zwei selbst zu viel wäre. Da ist nicht nur der Tod ihres Vaters, da sind auch ein Sorgerechtsstreit und eine Boutique in Adlershof, um die es nicht zum Besten steht. Zu viel Papierkram ist liegen geblieben seit jenem Tag, die Kundschaft traute sich nicht mehr, ihr selbst und ihrer Mutter fehlte die Kraft zum Verkaufen. Vor allem aber brauchten andere sie: die Hinterbliebenen. Sie wurde ihre Sprecherin. Und als diese hatte sie nie aufgegeben, auf ein tröstendes Wort ihrer Kanzlerin zu hoffen. 

Offener Brief an Merkel

Das kam erst Ende November 2017, Kanzleramtschef Peter Altmaier lud in die Willy-Brandt-Straße, weil Merkel darüber sprechen wolle, „wie es Ihnen und Ihrer Familie heute geht“. Viele der Hinterbliebenen und auch die, die vor einem Jahr verletzt wurden, empfanden das wie einen Hohn und wollten im ersten Affekt nicht hingehen. Sie fanden es seltsam, dass der Tag, an dem das Schreiben aufgesetzt wurde, mit Tinte eingetragen war: der 28. 11. 2017. Als würde der Entwurf schon ewig im Kanzleramt herumliegen und man habe nur auf den geeigneten Moment gewartet. Es kam ihnen vor, als hätte man Wind bekommen vom offenen Brief an die Kanzlerin, den sie Ende November fertig formuliert hatten und der im Spiegel erschien. 

Wollte Merkel zuvor noch schnell nachholen, was sie ein Jahr lang versäumt hatte? Anteilnahme zeigen. Vielen von ihnen war es dafür einfach zu spät. Das sollte der offene Brief zum Ausdruck bringen: „Wir sind der Auffassung, dass Sie damit Ihrem Amt nicht gerecht werden“, stand in dem Schreiben. 

In vielen Nächten und E-Mails quer über den Kontinent hatten sie sich über den Inhalt beraten, ihn immer wieder untereinander abgestimmt. Nie waren sie laut gewesen das Jahr über, viele von ihnen hatten sich völlig abgeschirmt. Wer oder was hätte sie trösten können? Jetzt nahmen sie sich das Recht heraus, von ihren Gefühlen zu reden, die sich in einem Jahr angesammelt hatten. Und setzten, „um nicht gleich wieder für rechts oder noch schlimmer gehalten zu werden“, hinterher, dass sie mit diesem Brief „nicht gegen Flüchtlinge hetzen, noch Merkel allein die Schuld geben wollten“. 

Die behördliche Empathielosigkeit

Aber hatte es nicht genug Staatsversagen gegeben, das nun auch offiziell längst bestätigt und nicht nur ein vorwürfliches Gewächs ihrer eigenen Gefühlslage war? Im Nachgang der islamistischen Terrorfahrt des Tunesiers Anis Amri stand inzwischen fest, dass die deutschen Sicherheitsdienste es verschlampt hatten, einen Gefährder lückenlos zu observieren. So konnte aus diesem Gefährder ein Attentäter werden. In Berlin setzte sich eine Reihe islamistischer Terrorakte fort, die zuvor schon Städte wie Brüssel, Paris und Nizza schockiert hatten. Zwölf Tote und 70 Verletzte waren zu beklagen. Drei Tage mussten manche Angehörigen auf jene Nachricht warten, die ihr Leben für immer betrüben würde: dass einer der Ihren unter den Toten war. LKA und BKA gingen nicht auf die verzweifelt Wartenden zu, sie wussten selbst nicht, was zu tun ist. Anstatt zu informieren, schwiegen sie, wiesen sogar ab und wiesen zurecht. Ein Vakuum aus bürokratischer Lähmung und Unterlassung entstand, das den Betroffenen signalisieren musste, die Aufklärung der Umstände und die Bekümmerung ihrer Bedürfnisse seien nicht wichtig. 

So vergingen Tage und Wochen, in denen nichts besser wurde, stattdessen jede behördliche Empathielosigkeit neue Wunden riss. Dass Untersuchungsbehörden Standardformulare versendeten, deren Fragen jemandem, dessen Mutter oder Vater gerade grausam zerquetscht worden war, unmenschlich erscheinen mussten. Dass mit einem Inkassounternehmen gedroht wurde, wie von der Gerichtsmedizin der Charité, wenn die 51 Euro für die Leichenschau nicht binnen 30 Tagen überwiesen würden. Zwar entschuldigte man sich später dafür, aber da war der Schreck schon in der Welt. Gedankenlos schickten DNA-Ermittler Zahnbürsten und Rasierer in Briefumschlägen wieder zurück an die Angehörigen und konfrontierten die ein weiteres Mal mit ihrem schmerzlichen Verlust. 

Kurt Beck, der Alibi-Beauftragte

Die Trauer der Angehörigen schien gegen den Terroristen zu verlieren – um den drehte sich alles. So konnte Misstrauen wachsen, das später nicht mehr wettzumachen war. Weil es zunächst keine zentrale Figur auf Regierungs­ebene gab, die in diesem besonderen Fall nur für sie da war, für ihre Sorgen und Nöte, und zwar rund um die Uhr. Weil eine solche in Form von Kurt Beck, Ministerpräsident a. D. von Rheinland-Pfalz, erst im März installiert wurde. Und als er dann zum ersten Kennenlernen kam, auch gleich wieder wegmusste. Weil er an diesem Tag schon seit vier Uhr morgens auf den Beinen gewesen war. Wieder ein falsches Signal. Dabei hätten die Hinterbliebenen viele Fragen gehabt. 

Er habe die Betroffenheit unterschätzt, räumt Kurt Beck ein 

Wenn man sich dieser Tage zu Kurt Beck ins Büro begibt, trifft man einen Mann, der nur über das Gute reden will, was er in diesem Amt geleistet hat. Er kann sehr empfindlich reagieren, wenn er nicht danach gefragt wird. Trotzdem gesteht er ein, „die Betroffenheit unterschätzt zu haben“, als er Heiko Maas zusagte, diese Aufgabe für ein Jahr zu übernehmen. Sicher ist, dass Beck viel herumgereist ist und dass ihm das geschilderte Leid naheging. Sicher ist auch, dass viele Hinterbliebenen ihm und seinem Rechercheteam dankbar sind für sein Engagement bei den Versorgungsämtern, denn die hatten bis dahin auch nicht den Eindruck gemacht, nach diesem Terroranschlag unbürokratisch handeln zu wollen. Die Angehörigen glaubten nicht daran, dass der Staat ihnen freiwillig erzählen würde, welche finanziellen Entschädigungen neben der 10.000-Euro-Schockpauschale für Direktverwandte ihnen zustehen würden. 

Lob für Berliner Opferbeauftragten

Mit dem Ausfüllen seitenlanger Anträge blieben die Verstörten allein. „Jede falsch gesetzte Unterschrift, jedes Häkchen zu viel entschied über das weitere Leben – und ob dieses abgesichert sein würde oder nicht“, schildert es eine junge Hinterbliebene, die anonym bleiben will. In einem solchen Klima überlege man sich jedes Wort, werde misstrauisch. 

Bei allem, was Beck getan hat: Immer wieder hört man im Hinterbliebenenkreis auch die leise Rede, dass er ihnen nur wie ein Alibi-Beauftragter vorkam, einer, der die Stimmung messen und der Politik berichten sollte. Schließlich war Wahlkampfzeit. In ihrem offenen Brief dankten die Hinterbliebenen deshalb nur dem Berliner Opferbeauftragten, dem Anwalt Roland Weber, für seine Arbeit. Der, selbst überrascht, vermutet, dass es womöglich daran lag, dass er gleich seine Handynummer an sie alle weitergegeben hatte. Wohl wissend, dass das hart werden könnte: „Da muss man sich selbst erst einmal hinten anstellen.“ Von Anfang an war er also für die Leute immer erreichbar – und erfahren, weil er als Opferbeauftragter in Berlin schon seit fünf Jahren tätig ist und weiß, was die Hinterbliebenen nach dieser größtmöglichen Unfassbarkeit in ihrem Leben brauchten: Dass man auf sie zugeht. Und nicht wartet, dass sie kommen. 

Allerdings, sagt Astrid Passin, fragten beide Opferbeauftragte sie immer wieder, ob sie sich mit Rechtsanwalt Andreas Schulz, den sie privat beauftragt hat, wirklich einen Gefallen tue. Und mit den 100 Millionen Euro, die er für sie und die anderen Verletzten und Hinterbliebenen als Entschädigung erstreiten wolle.

Der Hinterbliebenenanwalt

Andreas Schulz ist ein Anwalt, wie man ihn eigentlich nur aus amerikanischen Gerichtsfilmen kennt: lässig, gerissen, eloquent. Er ist erfolgreicher Anwalt für Terroropfer, vertritt Nebenkläger im NSU-Prozess, war im Fall des Attentats von Nizza aktiv und hat hohe Entschädigungssummen für die Betroffenen des Disco-Anschlags La Belle erstritten, der Westberlin 1986 erschütterte. Zwei Tage vor Amris Terrorfahrt war er noch selbst mit seiner Tochter auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz. Nun erklärt er in seinem Büro unter einem Ölbild, das den Boxgiganten Muhammad Ali zeigt, wo er im Fall der Hinterbliebenen zivilrechtlich ansetzen kann. 

Hundert Millionen Euro Entschädigung will Schulz für seine Mandanten erstreiten

Da sei das Unterstützerumfeld Amris, das in Moscheen in Berlin und NRW saß und das angegangen werden kann. Zudem wisse man von zwei Banken, die Finanzierungen im terroristischen Umfeld Amris unternommen haben und dafür haftbar gemacht werden könnten. Möglich wäre auch, die LKW-Firma Scania auf Mithaftung abzuklären, schließlich lobe die ihr Advanced Emergency Braking System (AEBS) als eines der sichersten der Welt, das im Fall von Hindernissen via Radar sofort reagieren und abbremsen würde. Aber gehören nur Weihnachtsbuden dazu, Menschen nicht? Das muss geklärt werden. 

Auch Facebook könnte ein weiterer Anspruchsgegner werden. Als Social-Media-Plattform für Terroristen, die hierüber Selbstmordattentäter rekrutieren und ihre Erfolgsbotschaften kommunizieren. Gerade Amris Chat-Verlauf habe man ziemlich lückenlos sicherstellen können. Schulz bringt für die Arbeit der Opferbeauftragten Respekt auf, sagt aber, dass das, was diese an Schadenersatzleistungen für die Verbliebenen realisieren würden, sei nur das Aspirin im Gesundungsprozess der Opfer. Es will politischen Druck aufbauen, bis die Politik den Schadenersatz von sich aus zahlt – und zwar deutlich mehr, als sich auf rechtlichem Wege durchsetzen lässt. Fünf bis acht Jahre können allerdings vergehen, bis er unter Umständen Erfolg vermelden kann.

Das Fast-Aufeinandertreffen mit Merkel

Den Hinterbliebenen ist es rund um den Jahrestag wieder schlechter gegangen. Da war der eigene Schmerz, der wieder hochkam und an den auch die Presse immer wieder neu rührte. Wobei Astrid Passin auch bösartige Kommentare erreichen, weil jeder Artikel im Internet kommentiert werden kann. Undankbar seien sie, hieß es in so einem nach ihrem offenen Brief, schließlich hätte doch Bundespräsident Gauck kondoliert und gebe es doch immer Menschen, die bei Anschlägen umkommen. Da hätte die Kanzlerin ja viel zu tun, allen immerzu ihr Beileid auszusprechen. 

Viel mehr als Empörung gab es Verständnis für sie. Und einmal hatte es ja auch fast geklappt, dass sie ihre Kanzlerin schon vor Ablauf des Jahres getroffen hätte. Im September zur Wahlkampfsendung „Klartext, Frau Merkel“. Das ZDF hatte Astrid Passin eingeladen, doch dann kam ein paar Stunden vor Sendebeginn die Absage. Man habe ihr den Druck nicht zumuten wollen, so die Begründung; Fragesteller aus der Sendung zuvor, die sich an Martin Schulz gewandt hatten, seien später übel attackiert worden im Netz. „Als wäre ich Attacken nicht schon längst gewohnt“, sagt sie am Tisch ihres Wohnzimmers. 

Bestens präpariert sei sie gewesen, sie hätte ihren Seelsorger, ihren Anwalt und einen Hinterbliebenen mitgenommen. „Den einen für meine Psyche, den anderen für meine Rechte und jemanden, der mich vertreten kann mit meinem Anliegen, falls ich kollabiere.“ Bis heute traut sie der Begründung des Senders nicht, sie vermutet einen anderen Grund hinter der Ausladung: Sie hatte dem ZDF nicht verraten wollen, mit welcher Frage sie der Kanzlerin kommen würde. Hatte das in den einvernehmlichen Vorgesprächen mit Spontaneität erklärt. Dem war nicht widersprochen worden. 

Gegen den Schmerz

Astrid Passin könnte verbittert sein und wütend, sie könnte sich verbarrikadieren – sie tut das alles nicht. Sie ist freundlich und serviert Stollen und Weißer-Engel-Tee, den ihr „Papi“ so geliebt hat. Wegen der Aprikose-Vanille-Note.

Man kann nur ahnen, welchen Kampf sie führt, manchmal steigen Tränen hoch, wenn sie erzählt, aber Passins Bild von sich selbst ist ein gefasstes. Sie ist keine, die ihren Schmerz ausbreitet, sie bewegt sich lieber gegen ihn an. Ihr Vater Klaus Jacob, 65, hätte es so gewollt. Und sie will es für ihre Tochter, die erst zehn Jahre alt ist und trotz aller Abschirmungsversuche genau mitkriegt, dass in diesen Wochen wieder ständig fremde Menschen ins Haus kommen oder ihre Mutter traurig klingende Telefonate führt. 

Astrid Passin will ihre Tochter beschützen, aber sie will auch Aufklärung. Und Gerechtigkeit. Diesen Spagat lebt sie jeden Tag seit dem 19. Dezember 2016. Sie ist keine von den Müttern, die das grausame Ende eines Märchens umdichten würden, um ihr Kind zu schonen. Sie ist für die Wahrheit – erklärend beigebracht. Sie hat ihrer Tochter erzählt, wie der Opa ums Leben gekommen ist, sie hat sie mitgenommen in den Trauerraum, um seinen Sarg mit Palmen, Sonne und Wellen zu bemalen. Weil der Opa so gern reiste. Sie hat ein Buch zu Hilfe genommen, um Charlotte beizubringen, was sie selbst bis heute nicht begreift: Dass ihr Vater, dieser toughe und lebensbejahende Mann, der ein bisschen aussah wie Richard Gere, nicht mehr wiederkommt. Das Buch heißt „Das Leben und ich – eine Geschichte über den Tod“.

Dieser Text stammt aus der Januar-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder in unserem Online-Shop erhalten.

Fotos: Barbara Dietl

 

 

 

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