Empörung über Boris Palmer - „Ich hab nicht gesagt, ich wollte Alte verrecken lassen“

Weil er in einem Interview gesagt hat, der Lockdown-Kurs rette alten Menschen das Leben, die bald sowieso sterben würden, wird Boris Palmer im Internet als Sozialdarwinist und Befürworter der Euthanasie beschimpft. Zu Unrecht, sagt er im Cicero-Interview. Aber kann er die Vorwürfe entkräften?

Berufsprovokateur: Boris Palmer kann es einfach nicht lassen / picture alliance
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Autoreninfo

Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Boris Palmer ist Oberbürgermeister von Tübingen. Wegen seiner provokanten Facebook-Posts gilt er als enfant terrible der Grünen. 

Herr Palmer, wo sind denn Ihre Haare geblieben?
Der Friseur in Tübingen darf gerade noch nicht arbeiten per Gesetz. Also hab ich selbst Hand angelegt.  

Im Sat.1-Frühstücksmagazin haben Sie gerade die Frage aufgeworfen, ob es sich lohnt, über 80-Jährige zu retten, die „möglicherweise in einem Jahr sowieso tot wären.“ Überrascht es Sie dass Sie sich jetzt als Sozialdarwinist beschimpfen lassen müssen?
Ja, weil ich nachweislich in dem Interview das Gegenteil gesagt habe.

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Aber der Satz ist genau so gefallen: „Ich sag es Ihnen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem Jahr sowieso tot wären – aufgrund ihres Alters oder ihrer Vorerkrankungen.“ 
Ja, aber Sie lassen das weg, was ich unmittelbar danach gesagt habe. Mir geht es ganz explizit nicht darum, Menschen einfach sterben zu lassen. Ich weise darauf hin, dass unsere falsche Schutzstrategie die bittere Nebenwirkung hat, die Kindersterblichkeit weltweit drastisch zu erhöhen, das sagt die UNO. Das heißt, wir müssen die Schutzstrategie überdenken. Natürlich dürfen wir die Menschen bei uns nicht opfern. Aber wir reden bisher gar nicht darüber, dass wir stattdessen die armen Kinder in den armen Ländern opfern. Das ist mein Thema.

Gefährdete alte Menschen in Deutschland, arme Kinder in der Dritten Welt. Ist es sinnvoll, diese beiden Gruppen gegeneinander auszuspielen?
Es ist absolut notwendig, diesen Zusammenhang aufzuzeigen. Das habe ich in diesem Interview getan – wortwörtlich. Und ich erkläre es auch gern nochmal: Wir produzieren jetzt absichtlich eine Weltwirtschaftskrise, weil wir kein anderes Instrument haben, um bei uns die Menschen vor Corona zu schützen. Damit erreichen wir vor allem, dass Menschen, die nur noch eine geringe Lebenserwartung hätten, nicht von Corona infiziert werden und deshalb an anderen Todesursachen sterben werden. Aber wir erreichen mit der Weltwirtschaftskrise auch eine erhöhte Kindersterblichkeit. Der Zusammenhang besteht. Das ist ein moralisches Dilemma. Ich habe mit fünf anderen Intellektuellen im aktuellen Spiegel einen Ausweg aus diesem Dilemma aufgezeigt. Nämlich eine Schutzstrategie, die nicht zu einer Weltwirtschaftskrise führt. Darum geht es.

Aber wenn Sie diesen Satz so nicht gesagt haben wollen, warum haben Sie sich dann nach vielem Hin- und Her gegenüber der dpa dafür entschuldigt?
Ich habe nicht den Sinn des Schutzes in Frage gestellt, wie Sie jetzt deuten, sondern die ungewollten Folgewirkungen daneben gestellt. Was ich aber feststelle, ist, dass in meinem Email-Eingang jetzt 2.000 Mails liegen, von denen die Hälfte mir oder meiner Familie oder meiner Mutter den Tod wünscht. Ich stelle fest, dass all diese empörten Schreiber auf die falsche, auch von Ihnen verkürzt wiedergegebene These reagieren, ich wollte alte Menschen  – drastisch formuliert – verrecken lassen. Da das Gegenteil der Fall ist, muss ich dem entgegentreten. Aber ich habe auch gesagt, dass es mir leid tut, dass sich viele Menschen durch die falsche Deutung verletzt fühlen.

Die E-Mail-Schreiber haben diesen Satz offenbar genauso verstanden wir ich. Kann es sein, dass Sie manchmal missverstanden werden wollen, um größtmögliche Aufmerksamkeit zu erzielen?
Null und gar nicht. Ich bin Überzeugungstäter. Ich behaupte, unsere Corona-Strategie kostet Hunderttausenden von Menschen das Leben. Wir opfern die, ohne es zu merken, weil sie nicht hier leben. Ich kann dazu nicht schweigen. Jetzt haben mir viele geschrieben: Ich hab mir das Interview als Ganzes angeguckt. Das ist zwar schwierig, aber ich verstehe, was Sie sagen wollen. Das ist eben eine Erscheinung unserer Empörungs- und Internetdemokratie, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, im Sekundentakt Einzelsätze zu bewerten und möglichst hart zu verurteilen. Ich hätte mir gewünscht, dass man sich intensiv über den Spiegel-Artikel unterhalten hätte, der eine fundamentale Alternative zu all den Dilemmata aufzeigt. Da hat aber keiner angerufen.    

Diese „Empörungsmaschine“ funktioniert ja auch deshalb so gut, weil Menschen wie Sie sie regelmäßig mit provokanten Facebook-Posts füttern. Ziehen Sie den Shitstorm magisch an oder zieht der Shitstorm Sie an?
Ich fürchte, das ist eine Wechselbeziehung. Mein Beitrag besteht darin, dass ich einfach nicht bereit bin, Rücksicht zu nehmen auf diese Empörungskultur und inhaltliche Beiträge so zu formulieren, dass sie im Politsprech untergehen. Das werde ich auch in Zukunft nicht tun. Diese Empörungskultur gefällt sich darin, jemanden möglichst schnell zum Schafott zu führen. Da muss ich wohl durch.

Das umstrittene Zitat, über das wir jetzt sprechen, bezieht sich auf ein Zitat von Wolfgang Schäuble. Der hat dem Tagesspiegel gesagt, der Staat könne nicht jedes Leben retten. Und wenn es ihn träfe, dann wäre es auch nicht so schlimm. Sein natürliches Lebensende sei näher. Sie sind selbst erst 47. Hätten Sie im Zweifelsfall auch die Größe, Jüngeren den Vortritt zu lassen?
Nein, das ist genau der Punkt, auf den ich aufmerksam mache. Als Oberbürgermeister spreche ich häufig am Grab von Mitarbeitern, die im Dienst gestorben sind. Das passiert leider ein- bis zweimal im Jahr. Ich stehe auch am Grab von Hochbetagten, die sich große Verdienste erworben haben für die Stadt. Der Unterschied ist immens. In einem Fall hadert die gesamte Trauergesellschaft mit der Ungerechtigkeit der Welt, warum eine junge Familienmutter aus dem Leben gerissen wurde. Im anderen Fall wissen wir alle: Es war einfach die Zeit gekommen.Darauf hat Wolfgang Schäuble aufmerksam gemacht. Ich stimme ihm zu. Mein Satz ist nur als Antwort auf seinen begreifbar.

Aber Schäuble hat an keiner Stelle suggeriert, dass das Leben alter Menschen weniger wert sei als das Leben der Jungen. Sein Satz war eher eine versteckte Kritik am Kurs der Kanzlerin, die ja dem Credo der Virologen folgt: Gesundheit first.
Das sind die taktischen Interpretationen, von denen ich gar nichts halte, weil sie uns keinen Zentimeter weiterbringen. Ich bin wie er der Überzeugung: Die Verabsolutierung des Schutzes – niemand soll sich mit dem Virus infizieren und daran sterben – kostet an anderer Stelle Menschenleben.

Das sagt sich so leicht. Aber wie würden Sie reagieren,  wenn Ihre Mutter schwer an Corona erkrankt wäre, aber kein Beatmungsgerät bekommt, weil nur eines da wäre und der Arzt einem jüngeren Patient den Vorrang gibt? Würden Sie da auch sagen, sorry, Mama, aber du bist über 80 und möglicherweise in einem Jahr sowieso schon tot?
Nein, würde ich nicht. Aber ich würde es akzeptieren, dass ein Arzt diese Entscheidung genauso trifft. Und nach den Empfehlungen des Deutschen Ethikrates müsste er es tun. Ich habe mit meiner Mutter eine Strategie verabredet.

Wie sieht die aus?
Sie bleibt drin. Sie hat keine sozialen Kontakte mehr in der realen Welt, weil sie zur Hochrisikogruppe gehört. Dafür skypen wir jetzt ziemlich oft. Ich gehe arbeiten und sorge dafür, dass der Laden läuft. Sie sorgt dafür, dass sie nicht vom Virus erwischt wird. Das ist der Generationenvertrag, den wir jetzt brauchen.

Wie bewerten Sie das bisherige Krisenmanagement der Bundesregierung? War der Lockdown falsch?  
Nein, der war richtig. Und ich bewerte das Krisenmanagement der Bundesregierung insgesamt sehr gut. Das zeigen auch die Daten. Wir sind weltweit die besten, was den Infektionsschutz angeht. Mir geht es aber um die Frage der Zukunft. Und da halte ich den risiko-undifferenzierten Ansatz der Regierung nicht mehr für richtig.

Wie schützen Sie die Risikogruppen in Tübingen?
Die Stadt hat keine eigenen Kompetenzen für so einen Strategiewechsel. Wir haben aber ein Taxi-Einzelbeförderungsangebot für alle über 65-Jährigen zum Tarif des ÖPNV eingeführt. Die Menschen sind jetzt nicht mehr gezwungen, sich in einen Bus mit Berufstätigen, Schülern und Kitakindern zu setzen. Und im Einzelhandel haben wir morgens von 10 bis 11 eine Stunde für die Risikogruppe reserviert. Alle Menschen über 65 haben kostenlos eine Maske von der Stadt erhalten, ausgetragen von Azubis. 

Das klingt alles vernünftig. Müssen Sie nach dem Shitstorm nicht fürchten, dass man Ihre Verdienste als OB gar nicht schätzt, weil Sie wieder auf ihre Rolle als Krawallmacher reduziert werden?
Doch, die Sorge ist ja auch berechtigt. Sie ist nur nicht begründet. Es ist gar nicht meine Intention, Krawall zu stiften. Ich bin Überzeugungstäter. Ich will das Beste für die Leute in meinem Land – aber auch für die Kinder im globalen Süden. Ich hoffe, dass sich die Menschen am Ende des Tages die Mühe machen, mich zu verstehen statt mich zu verurteilen.

Aber sogar Ihre eigene Partei hat sich nach diesem Satz wieder von Ihnen öffentlich distanziert. Täuscht der Eindruck, oder spielen Sie dieses Katz-und-Maus-Spiel mit den Grünen, um herauszufinden, wie weit Sie gehen können, bis Sie aus der Partei fliegen?
Das ist ein falscher Eindruck. Es ist genau umgekehrt. Ich bin wirklich enttäuscht davon, dass immer wieder Pressemitteilungen von Parteifreunden geschrieben werden, ohne dass man mich zuvor kontaktiert oder sich die Frage stellt, ob es wirklich sein kann, dass ein Parteifreund Euthanasie fordert oder KZ-Lager für Alte. Das ist so absurd, dass ich das nicht nachvollziehen kann.

Erst ein Tabu brechen, dann zurückrudern und behaupten, man habe das alles gar nicht so gemeint, dieses Muster kennt man auch von der AfD. Wie finden Sie es, dass Sie von dieser Seite regelmäßig Beifall bekommen?
Das finde ich sehr ärgerlich, Aber ich hab mir trotzdem nicht angewöhnt, deswegen das Gegenteil von dem zu sagen, was ich für richtig halte. Wenn die AfD morgen sagt, dass die Sonne im Mittelpunkt des Sonnensystems steht, werde ich nicht sagen, nein, die Erde ist der Mittelpunkt.

Schon mal überlegt, die Partei zu wechseln?
Nein, warum? Ich bin überzeugter Ökologe. Es gibt keine andere Partei, die die Klimafrage ernsthaft stellt außer meiner.

Die Fragen stellte Antje Hildebrandt. 

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