Die „Bild“-Zeitung und Solingen - Drohungen sind keine Argumente

Die Berichterstattung im Fall Solingen zeigt: Die „Bild“-Zeitung geht mitunter zynisch, geschmacklos und skrupellos vor. Sollte man deswegen zum Boykott des Boulevardblatts aufrufen? Alexander Grau findet, das widerspricht dem Geist jeder freien Gesellschaft.

Wird immer wieder angefeindet: „Bild“-Chef Julian Reichelt / dpa
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Seit Freitag letzter Woche steht die Bild in der Kritik wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Und das zu Recht. Auslöser der Empörung war die Veröffentlichung von WhatsApp-Nachrichten des einzig überleben Opfers des Dramas von Solingen. Der Elfjährige hatte sich dort Freunden mitgeteilt. Einen dieser Freunde schnappte sich die Bild-Zeitung, um sich von ihm erzählen zu lassen, was sein Kumpel ihm anvertraut hatte.

Keine Frage, der ganze Vorgang ist äußerst fragwürdig. Mehr noch: Er ist zynisch und geschmacklos. Und man fragt sich, wie Menschen so skrupellos werden können, die intimen Nachrichten eines Kindes zu veröffentlichen, dessen Mutter soeben seine fünf Geschwister umgebracht hatte. Immerhin hat die Bild ihren Fehler inzwischen eingesehen. Der Schaden aber ist da.

Eine erstaunliche Haltung

Doch berechtigte Kritik an der Bild-Zeitung ist das eine. Der Hass, die Feindschaft und die Zerstörungsfantasien, in die sich viele Kritiker hineinfiebern, sind aber etwas anderes. Wenn etwa die taz, dazu aufruft, die Bild-Zeitung zu boykottieren, Unternehmen dazu anhält, nicht mehr in Bild zu inserieren und dort arbeitende Journalisten eine Kündigung nahelegt, dann ist wiederum jedes Maß überschritten. Dass es sich dabei um dieselbe taz handelt, die noch vor drei Monaten wegen einer eher fragwürdigen Kolumne gegen Polizisten in der Kritik stand, sei nur nebenbei erwähnt.

Nun gut, könnte man meinen, die taz ist eben die taz. Bedenklich wird es allerdings, wenn auch Menschen in den Boykottaufruf einstimmen, die eigentlich zu Nüchternheit und Vernunft verpflichtet sein sollten. In der Augsburger Allgemeinen etwa hieß der Medienethiker Klaus-Dieter Altmeppen die Idee eines Boykotts ausdrücklich gut. Für den Vertreter eines Faches, das sich vor allen Detailerwägungen erst einmal der Idee der Pressefreiheit verpflichtet sein sollte, eine erstaunliche Haltung.

Boykottaufrufe haben eine andere Dimension

Genau in dieselbe Kerbe wie die taz und Klaus-Dieter Altmeppen schlug schließlich die Autorin und Satirikerin Sarah Bosetti. Ausgerechnet auf dem Comedy-Kanal des gebührenfinanzierten ZDF rief Frau Bosetti ebenfalls zum Boykott der Bild-Zeitung auf. Gerechterweise muss man zugestehen, dass Frau Bosetti das Problem politischer Boykottaufrufe sehr wohl bewusst ist. Sie selber spricht das Thema an. Doch im Fall der Bild-Zeitung sieht sie im Boykott ausnahmsweise den einzig gangbaren Weg, um das Blatt endlich loszuwerden: „Niemand sollte die Bild-Zeitung kaufen, niemand sollte sie lesen und kein Unternehmen sollte darin Werbung schalten. Die Bild-Zeitung zu unterstützen ist unentschuldbar, die Bild-Zeitung zu lesen, ist unentschuldbar.“

Nun steht es jedem frei, die Ansicht zu äußern, man solle die Bild oder irgendeine andere Zeitschrift weder kaufen noch lesen. Das ist nicht das Problem. Doch Boykottaufrufe haben eine andere Dimension. Sie sind nicht nur eine Meinungsäußerung, sondern der Aufruf, ein Unternehmen wirtschaftlich zu ruinieren. Hier wird ein moralisches Anliegen nicht argumentativ vorgetragen, sondern mit ökonomischer Liquidierung gedroht. Das ist kein Diskurs, das ist einfache Erpressung, und die ist kein Mittel der demokratischen Auseinandersetzung.

Druck der moralisch Empörten

Besonders fragwürdig ist ein solches Vorgehen gegen Medienunternehmen aller Art, da diese von der Publikation von Meinungen und Ideen leben. In einer Gesellschaft, in der jede missliebige Ansicht, jeder kontroverse Standpunkt, aber auch jede Geschmacklosigkeit mit Boykottaufrufen quittiert wird, ist die Freiheit der Kunst und die Freiheit des Wortes nicht mehr garantiert.

Ja, man muss und soll die Bild-Zeitung kritisieren. Aber davon zu phantasieren, eine Zeitung mittels Agitation ihrer Existenzgrundlage zu berauben, widerspricht dem Geist jeder freien Gesellschaft. Die Pressefreiheit ist eben nicht nur durch staatliche Zensur gefährdet, sondern gegebenenfalls auch durch den ökonomischen und sozialen Druck der moralisch Empörten. Ein Boykottaufruf ist weder ein Argument noch eine Meinung. Er ist eine Drohung. Und Drohungen sollten im Diskurs einer offenen Gesellschaft keinen Raum haben.

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