Bernd Stegemann - „Der moralische Populismus reagiert wie der Pawlowsche Hund“

„Aufstehen“-Mitinitiator Bernd Stegemann kritisiert ein ökonomisch-moralisches Bündnis zwischen CDU und Grünen. Ein Gespräch über den blinden Fleck linker Identitätspolitik und den Aufstieg des Rechtspopulismus

„Aufstehen“ und Abwarten auf das Regierungsprogramm / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Ulrich Thiele ist Politik-Redakteur bei Business Insider Deutschland. Auf Twitter ist er als @ul_thi zu finden. Threema-ID: 82PEBDW9

So erreichen Sie Ulrich Thiele:

Anzeige

Herr Stegemann, stockt Ihre Sammlungsbewegung „Aufstehen“?
Viele Leute möchten, dass die Bewegung stockt. Es ist eine beliebte Technik in der politischen Rhetorik, dass man das, was man gerne hätte, als Tatsache in den Raum stellt. Und natürlich sind wir nach dem Tsunami artigen Anfang in eine Phase der Organisationsfindung übergegangen. Deswegen ist alles, was gerade passiert, deutlich praktischer und weniger eruptiv. Aber die Arbeit in den über hundert lokalen „Aufstehen“-Gruppen geht sehr konkret voran. 

In Ihrem neuen Buch „Die Moralfalle“ findet sich erwartungsgemäß der Kerngedanke von „Aufstehen“ wieder: mehr soziale Fragen, weniger Moral. Was stört Sie an Moral?
Grundsätzlich nichts. Eine Moral bekommt in meinen Augen aber unangenehme Züge, wenn derjenige, der sie reklamiert, aus den Folgen keinerlei Konsequenzen ziehen muss. Früher nannte man das Gratismut.

Haben Sie ein konkretes Beispiel?
Das Standardbeispiel ist ein Besserverdiener aus einem wohlhabenden Viertel, der nach offenen Grenzen ruft, aber die Folgen dieser Forderung nicht ausbaden muss. Weil seine Kinder auf eine Privatschule gehen, seine Wohnung in einer Gegend liegt, die sich die meisten Migranten gar nicht leisten können und er einen Beruf ausübt, mit dem er niemals im Niedriglohnsektor in Konkurrenz mit diesen Neuzugezogenen treten wird. Gleichzeitig reist er durch die Welt, spricht verschiedene Fremdsprachen und hat das Gefühl, er sei ein globalisierter, weltoffener Mensch. In Wirklichkeit sieht er die Welt aus der luxuriösen Perspektive eines Touristen mit viel Geld.

Sie sprechen in Ihrem Buch von „moralischem Populismus“.
Der moralische Populismus ist die Kampfformation dieser Verblendung. Dazu gehören Leute wie Harald Welzer, die eine Differenz aufmachen zwischen einem „Wir“, das moralisch gut ist, und den bösen Anderen, die von Grenzen reden. Diese anderen werden nicht mit Argumenten bekämpft, sondern moralisch diskreditiert, indem man sagt, sie seien Nationalisten und müssten vom öffentlichen Diskurs ausgeschlossen werden. Aktuell schaukeln sich Rechts- und Moralpopulisten gegenseitig hoch: Die AfD provoziert permanent moralische Paniken, und der moralische Populismus reagiert wie der Pawlowsche Hund, der sofort anfängt zu bellen. In der postmodernen Öffentlichkeit ist die Aufmerksamkeit ein Wert an sich, und die Moralpopulisten stärken somit die AfD. Das ist ein fatales Reiz-Reaktions-Schema, aus dem wir dringend heraus müssen.

Sie beschreiben „die Verdopplung des Moralismus“ in der Politik am Beispiel der Geschichte vom Hasen und vom Igel. Der Igel besiegt den Hasen durch einen Trick im Wettlauf, weil am anderen Ende der Strecke die Frau des Igels wartet und sich als er ausgibt. Wer ist der Hase, wer sind die Igel?
Ein passendes Beispiel aus jüngster Vergangenheit für den Igel ist Jens Spahn. Er schlägt vor, man solle dem Pflegenotstand beheben, indem man in ganz Europa Pflegekräfte anwirbt und nach Deutschland importiert. Als beispielhafter Hase merkt nun eine linke Politikerin zurecht an, dass dieser Import Druck auf die bestehenden Löhne ausübt. Ihre Position wird allerdings nicht von Herrn Spahn gekontert, sondern von Frau Igel auf der anderen Seite – nämlich von den Grünen, die ihr Nationalismus oder sogar Rassismus vorwerfen. Hier verbrüdert sich ein neoliberales Konzept – Grenzenlosigkeit, damit die Arbeit billig wird und die Unternehmen mehr Gewinne machen können – mit einer moralischen Position. Bei diesem CDU-Vorschlag dürfen wir nicht vergessen, dass Krankenhäuser eine Eigenkapitalrendite von mehr als zehn Prozent haben sollen, was völlig absurd und unmenschlich ist im Gesundheitssektor. Gegen die beiden Igel kommt der einzelne Hase einer linken sozialen Kritik aber nicht an.

Diese beiden Igel könnten in absehbarer Zukunft gemeinsam regieren…
Das ist so gut wie sicher. Der Wahlforscher Matthias Jung hat vor einigen Jahren vorgerechnet, dass die AfD ein Gottesgeschenk für die CDU ist, woraufhin Frau Merkel jede Art von Kampf gegen die AfD eingestellt hat. Nun hat er vorgerechnet, dass wir in Zukunft eine schwarz-grüne Regierung haben werden. Dabei handelt es sich um eine ökonomisch-moralische Koalition der Mitte, die wunderbar funktionieren wird, weil sie die AfD stärkt und somit eine linke Regierung unmöglich macht.

Bernd Stegemann

In vielen Medien wird der rasante Aufstieg der Grünen als Bollwerk gegen den Rechtspopulismus gelobt.
Das bezweifle ich. Diese Verbindung von sozialer Härte mit moralischer Einschüchterung löst nicht die Probleme, die die AfD stark machen. Der Doppelausschluss, dass Menschen sozial und dann auch noch von der Öffentlichkeit als „Pack“ ausgegrenzt werden, wird sich weiter verschärfen – und der rechte Rand wird irgendwann kein Rand mehr sein. 

Die AfD profitiert auch von der emotionalisierten Flüchtlingsdebatte. Wie sollte eine linke Politik, wie Sie sie sich wünschen, mit dem Thema umgehen? 
Ein großer ethischer Wert der Genfer Flüchtlingskonventionen ist, dass Staaten, die Menschen helfen können, diesen Menschen auch helfen müssen. Es gibt aber auch Arbeitsmigration, die nicht aufgrund von politischer Verfolgung stattfindet. Diese zwei Dinge müssen auseinander gehalten werden. Der Begriff des „Geflüchteten“ hebt diese Unterscheidung zwischen Asyl und Migration auf. Dadurch wird es der aufnehmenden Gesellschaft schwer gemacht, eine Diskussion noch rational führen. Denn in dem Moment, in dem aus zwei konkreten Sachverhalten ein abstrakt moralisches Problem gemacht wird, zieht man es aus der politischen Diskutierbarkeit und setzt alle Menschen unter einen diffusen Zwang, das gut zu finden. Das geht auch zulasten des Asylrechts.

Worauf führen Sie diese Entwicklung zurück?
All die Verschärfungen der letzten Jahre sind nur entstanden, weil das Asylrecht 2015 überdehnt und nicht richtig angewendet worden ist. Das ist die typische Folge einer moralischen Aufladung eines Themas, das für unverhandelbar erklärt wird. Die tragische Folge in einer postmodernen Öffentlichkeit ist aber, dass das, was als unverhandelbar bezeichnet wird, auf eine sehr unangenehme Weise viel grundsätzlicher angegriffen wird, als es eine politisch kluge Diskussion vermocht hätte.

Weite Teile der Linken tun sich schwer mit dem schwierigen Thema der Ausländerkriminalität und den kulturellen Konflikten, von denen die AfD profitiert. Wie gehen Sie damit um?
Teile der Linken setzen sich auf ein hohes Ross, von dem aus sie in rechthaberischer Weise Menschen dazu zwingen wollen, bestimmte Dinge nicht mehr sagen und wahrnehmen zu dürfen. Aber man kann den Leuten nicht ihre Realitätswahrnehmung verbieten. Ich versuche nüchtern zu sagen, dass es ohne Zweifel Probleme gibt, aber dass diese Probleme nicht so überwältigend unlösbar sind, wie es die Rechten darstellen. Durch das Leugnen wird aber ein Feld eröffnet, in dem die rechten Zerrbilder der Realität Zulauf erfahren, weil sie das einzige Angebot einer Erklärung sind.

Ein anderes Thema ist „Heimat“. Gerade in ländlichen Gebieten ist das Gefühl verbreitet, legitime Heimatbedürfnisse würden als nationalistisch stigmatisiert.
Ich finde es absurd, dass man versucht, den Menschen ihre Heimat verbieten zu wollen. In bestimmten Milieus hat man eine Abneigung gegen Begriffe, die als spießig, kleinbürgerlich und eng beschrieben werden. Eigentlich ist das ein Klassenkonflikt, weil eine Schicht, der es besser geht und die sich besser fühlt, mit einer Doppelbrille von Ästhetik und Moral auf andere Schichten blickt und versucht, sie zu erziehen und zu maßregeln. Das ist ein Klassenstandpunkt und keine endgültige Wahrheit.

Grüne und SPD versuchen derzeit, dem Vorwurf der fehlenden Sozialpolitik entgegenzuwirken, indem sie die Abschaffung von Hartz IV zur Debatte stellen. Ist das nicht in Ihrem Sinne?
Hartz IV ist ein Symbol, hinter dem ein ganzer Komplex von Problemen steht. Eines der größten Probleme ist, dass durch das Regime von Sanktionen und Arbeitszwang ein riesiger Niedriglohnsektor entstanden ist. Der ist wiederum einer der Gründe dafür, dass Deutschland im EU-Wettbewerb enorme Exportüberschüsse verzeichnet. Die SPD hat diesen Komplex in Gang gesetzt und in der großen Koalition fortgesetzt. Es bräuchte eine grundsätzliche Kurskorrektur, um den europäischen Frieden nicht weiter dadurch zu stören, dass Deutschland die anderen Länder ökonomisch und moralisch bevormundet. Die SPD scheint das langsam zu bemerken, sie reagiert aber aus einer Position der Schwäche heraus und denkt auch viel zu kleinlich, als dass ich darin eine Tendenz zu einer neuen linken Erzählung erkennen könnte.

Wie sähe denn eine neue linke Erzählung konkret aus?
Gute Frage, denn darum haben wir „Aufstehen“ ins Leben gerufen. Wir arbeiten momentan an einem Regierungsprogramm. Es gibt momentan keine linke Erzählung, weil die Klassenfragen nicht gestellt werden: Was sind soziale Klassen im 21. Jahrhundert? Was ist mit der Frage der Entfremdung? Was ist mit der Frage von Eigentum? Warum ist Eigentum von Wohnungen und Grundversorgungsmitteln in privater Hand? Bis jetzt gibt es zu allen diesen Themen noch keine überzeugende linke Erzählung.

Wann bekommt die Öffentlichkeit dieses Programm zu sehen?
Wir haben Ende März angepeilt. Denn zuvor soll es unter den „Aufstehen“-Mitgliedern diskutiert werden, und erst daraus entsteht dann ein fertiges Papier, das den linken Diskurs deutlich beeinflussen soll.

Im Zuge der Hartz-IV-Debatte bemängeln Wirtschaftsliberale, die Umverteilungspläne der Linken seien nicht finanzierbar und gingen zulasten der Mittelschicht. Was halten Sie dagegen?
Das ist die übliche Panikmache, die man aus dem Bereich immer hört. Wenn die Gewerkschafter früher ein paar Pfennig mehr Lohn wollten, sagten die Wirtschaftsverbände, die Wirtschaft gehe den Bach runter. Wir alle kennen die Statistiken, dass 45 Deutsche so viel besitzen wie die ärmere Hälfte der Bevölkerung. Im oberen Zehntel der Bevölkerung sind die Einkommen in den letzten 30 Jahren um 30 Prozent gestiegen, im unteren Zehntel aber um 10 Prozent gesunken. Da hat eine Umverteilung von unten nach oben stattgefunden, von der inzwischen sogar die untere Hälfte des Mittelstands betroffen ist. Die Abstiegsängste sind real. 

Was genau läuft falsch?
Die Rente wird zum Beispiel noch immer nur über die Beiträge der Arbeitnehmer und -geber finanziert. Dabei wird mittlerweile viel Geld nicht mehr über Arbeit, sondern über andere Finanzprodukte erwirtschaftet. Warum wird die Quellensteuer nicht an die Einkommenssteuer angepasst, und warum wird nicht diskutiert, dass auf diese Einkünfte auch Sozialversicherungsbeiträge gezahlt werden müssen?

Die Debatte wird auch überlagert vom klassenrassistischen Stereotyp des „faulen Harzer“, der es sich „in der sozialen Hängematte bequem macht“. Müsste es nicht einen lauten Aufschrei geben?
Das ist, wie Sie zu Recht sagen, eine rassistische Argumentation. Auf der Seite von gender und race haben wir in den letzten 20 Jahren glücklicherweise Fortschritte gemacht. Wenn jemand sagen würde, das seien faule Türken oder faule Frauen, gäbe es zu Recht einen Aufschrei, weil das bösartig, feindselig und falsch ist. Irritierenderweise ist es bei armen Menschen noch so, dass man sie als Gruppe zusammenfassen und diese Gruppe diffamieren darf.

Im Nachwort Ihres Buches fragen Sie, warum es kein #MeToo für ökonomisch Ausgegrenzte gibt. Inzwischen gibt es das. Der Journalist Christian Baron, Redakteur beim Freitag und selbst Arbeiterkind, hat auf Twitter das Schlagwort „unten“ lanciert. Unter diesem Hashtag schildern Menschen ihre sozialen Ausgrenzungserfahrungen. Sind solche Aufschrei-Aktionen wirksam?
Der Hashtag „unten“ ist sehr wirkungsvoll, aber man darf sich darin nicht einrichten. Wenn ein Hashtag über eine bestimmte Zeit hinaus am Leben erhalten wird, entwickeln sich Meta-Diskussionen, die nichts mehr mit dem Thema zu tun haben. Ein Hashtag ist wie eine Art Leuchtrakete, die ein Problem sichtbar macht. Dadurch muss eine differenziertere gesellschaftliche Debatte angestoßen werden. Wenn man einfach nur immer mehr Leuchtraketen abschießt, verbraucht sich die Aktion und wird ein Selbstzweck. Wie gesagt: Als erster Anstoß ist #unten toll und richtig, aber darauf müssen weitere Schritte in einem anderen Medium folgen.

Bernd Stegemann: „Die Moralfalle. Für eine Befreiung linker Politik“, Matthes & Seitz, 205 Seiten, 18,00 Euro

Anzeige