Berliner SPD - Auf „gutem Weg“ ins Nichts

Berlins SPD ist in Umfragen auf den historischen Tiefststand von unter 20 Prozent gesunken. Mit Formelkompromissen rettet sich die Partei über die Zeit, anstatt die vielfältigen Probleme der Stadt anzugehen. Und Bürgermeister Michael Müller wirkt zunehmend entrückt

Die Aufbruchstimmung ist verflogen: Berlins Bürgermeister Michael Müller bei einer Rede im Bundesrat / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Rainer Balcerowiak ist Journalist und Autor und wohnt in Berlin. Im Februar 2017 erschien von ihm „Die Heuchelei von der Reform: Wie die Politik Meinungen macht, desinformiert und falsche Hoffnungen weckt (edition berolina). Er betreibt den Blog „Genuss ist Notwehr“.

So erreichen Sie Rainer Balcerowiak:

Anzeige

Das hätte sich die SPD wohl kaum träumen lassen. Ausgerechnet in Berlin, wo große Sozialdemokraten wie Ernst Reuter und Willy Brandt einst „bayrische Wahlergebnisse“ von bis zu 61 Prozent der Stimmen erzielten, droht der Partei ein bodenloser Absturz. Schon bei der Abgeordnetenhauswahl im September 2016 wurde mit 21,6 Prozent das schlechteste Ergebnis der Nachkriegsgeschichte eingefahren, und nur der seinerzeit desaströse Zustand des alten Koalitionspartners CDU rettete der SPD die Position als stärkster Partei. Aktuell ist sie in allen Umfragen unter 20 Prozent gesunken und liegt mit den Konkurrenten CDU, Grüne und Linke bestenfalls gleichauf oder nur an dritter oder gar vierter Stelle, wie in einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey.

Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller, der seit Dezember 2016 eine „rot-rot-grüne“ Koalition anführt, reagiert darauf mit einer seltsamen Art von Entrücktheit. In einem Interview im aktuellen Spiegel sieht er seine Partei auf einem „guten Weg“ und bescheinigt der Stadt, dass sie sich „großartig entwickelt“. Fragt sich bloß, wohin. Denn längst ist die „Aufbruchstimmung“,die „Rot-Rot-Grün“ verbreiten wollte, der bitteren Erkenntnis gewichen, dass es sich um eine Art wahlarithmetisch und machttaktisch bestimmte Notregierung handelt, die sich mit einigen Formelkompromissen über die Zeit retten will. Und das geht eindeutig zu Lasten der SPD.

Die SPD geht baden in rot-rot-grünem Senat

Man kann den Sozialdemokraten bescheinigen, dass sie in der vorhergehenden Großen Koalition mit der CDU endlich die Brisanz der Lage auf dem Wohnungsmarkt realisiert haben, den Neubau ankurbelten, einige mietpreisdämpfende Maßnahmen in den kommunalen Beständen auf den Weg brachten und gegen die Zweckentfremdung vorgingen. Doch gerade beim Neubau zeigt sich, dass man mit Grünen und Linken nun Partner im Koalitionsboot hat, die im Sinne ihrer lifestyle-orientierten Klientel den Verzicht auf das größte Neubauprojekt, die Elisabeth-Aue in Pankow, durchsetzten. Sie implementieren immer neue Instrumente der Neubauverzögerung oder gar Verhinderung unter dem Label „Bürgerbeteiligung“ in das Verwaltungshandeln.

Sogar das der CDU von der SPD abgerungene Zweckentfremdungsverbotsgesetz, mit dem die gewerbliche Vermietung von Wohnraum an Feriengäste unterbunden werden sollte, wurde auf Betreiben von Grünen und Linken in einigen wesentlichen Punkten entschärft, sehr zur Freude von Anbieterkonzernen wie AirBnB. Auf der Kippe steht auch das Neutralitätsgesetz, welches unter anderem Lehrkräften in öffentlichen Grund- und Mittelschulen das Tragen religiöser Symbole und religiös konnotierter Kleidungsstücke untersagt. Grüne und Linke wollen dieses Gesetz abschaffen.

Stagnation statt großartiger Entwicklung

Die Verkehrspolitik Berlins gleicht eher dem experimentellen Wirken einer Selbsterfahrungsgruppe als einer kohärenten Strategie. Die Auflösung des riesigen Investitionsstaus besonders bei Schulen ist über das Ankündigungsstadium noch nicht hinausgekommen. Ähnliches gilt für die dringend notwendige Modernisierung der Verwaltung, besonders in den Bezirken. Im ur-sozialdemokratischen Feld der Sozialpolitik darf dafür mit Elke Breitenbach eine eloquente Senatorin der Linken die Lorbeeren einheimsen und im Bereich Wirtschaft die grüne Senatorin Ramona Pop die große Innovatorin in ihrer Start Up- und Hightech-Welt spielen. Derweil muss sich SPD-Innensenator Andreas Geisel mit frustrierten, unterbezahlten und überlasteten Feuerwehrleuten herumschlagen.

Die Stadt ist trotz sprudelnder Steuereinnahmen eher von Stagnation als von „großartiger Entwicklung“ geprägt. Und schon gar nicht ist so etwas wie eine sozialdemokratische Handschrift in dieser Regierung zu erkennen. So ist es folgerichtig, dass Grüne und Linke in den Umfragen zulegen und die SPD verliert, während die bürgerlich-liberal-rechtskonservative Opposition (CDU, FDP und AfD) insgesamt nicht zulegen kann. Das ist angesichts der schwachen Performance des „rot-rot-grünen“ Senats auf den ersten Blick erstaunlich, auf den zweiten aber nicht. Die FDP hat als „Ein-Punkt-Partei“ ihr Pulver mit dem erfolgreichen, aber folgenlosen Volksentscheid für die dauerhafte Offenhaltung des Flughafens Tegel anscheinend verschossen. Das Kernthema der AfD, der massive Zuzug von Flüchtlingen und seine teilweise chaotischen Folgen, hat erkennbar an Brisanz verloren. Und die CDU kann zwar leicht zulegen, hat aber das böse Ende der „Ära Henkel“ noch nicht wirklich überwunden.

Müller dreht lieber an bundespolitischen Rädern

Müller scheint das alles wenig zu berühren. In seiner Partei muss er sich zudem stetig der Angriffe von Gegnern erwehren, die seine Mehltau-Attitüde nicht mehr ertragen mögen oder einfach selber an die Fleischtöpfe wollen. Doch noch scheint der erfahrene Machttaktiker die Fäden in der Hand zu halten. Und je unsichtbarer seine Partei in der Berliner Politik wird, desto häufiger dreht er verbal an großen bundespolitischen Rädern: Ein „solidarisches Grundeinkommen“ genannter und öffentlich geförderter Mindestlohn-Arbeitsmarkt statt Hartz IV, Abkehr von der „schwarzen Null“, die sein Parteifreund Olaf Scholz im Bundesfinanzministerium unverdrossen verteidigt, und viel mehr Geld für den sozialen Wohnungsbau, das sind seine mantra-artigen medialen Vorstöße, die aber bei den Adressaten auf Bundesebene nur auf mäßiges Interesse stoßen. Was wohl auch für seinen Vorschlag gilt, den abgewatschten SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz zum Spitzenkandidaten für die Euro-Wahlen zu küren.

Nach den beiden vergangenen Wahlklatschen in Berlin und im Bund klang das alles noch etwas anders. „Wir haben verstanden“, beziehungsweise „wir werden uns erneuern“ hieß es da aus dem Hause Müller. Was davon bei der Berliner SPD übrig geblieben ist, kann man sich jeden Tag anschauen. Und es ist kein erfreuliches Bild.

Anzeige